Als Heyse gegen den Strom schwamm

München; Himmelfahrt 1907, Villa Heyse, sommerliches Wetter.

„Da sitzt du nun, du Alt-Star. Du Säulenheiliger. Wo sind deine Jünger abgeblieben?“

Der alte Heyse sitzt allein am Tisch; im großen Salon seiner Villa; und spricht mit seinem Spiegelbild.

„Wo wernse sein. Beim Hauptmann. Auf Hiddensee. Viel Spaß bei den Ichtyopagen. Pah!

Hauptmann. Nomen est omen. „Kurz und knapp! Jawoll! Zack-Zack!“ Die Karawane zieht weiter. Ins neue Timbuktu. Und das is‘ nu ne Insel. Von wo es nicht mehr weiter geht.“

Er nimmt einen Schluck.

„Burgunder vor Zehne. Weit ist es gekommen mit dir, alter Freund. Burgunder am Vormittag.

kleinheyse3Ach was. Ich sauf mich in Stimmung. Ich will das heute fertig haben. Noch zwei Kapitel. Oder vielleicht drei. Es muss schnell Schluss werden. Ich will das vom Tisch haben.

Mein letzter Roman sollte es werden. Und mindestens doppelt so dick.“

Er hebt den dünnen Stapel Blätter an und fächert ihn durch.

„Gestern hab ich gezählt. Um die 200 Seiten werden es dann wohl nur. Hab auch Novellen geschrieben, die so lang waren. Was ist Novelle, was Roman. Kann Theo wieder ne Theorie draus machen. Pah! War mir immer wurschd! Hatte mal ne „Falkentheorie“ am Start, hahahah. Mancher arme Germanistenwicht predigt die heute noch vom Katheder.

Ich hatte großes vor mit dem Ding. Gestern noch mal den Anfang gelesen. Die Rittbergern ist mir gelungen. Tolle Frau geworden. Vielleicht die beste meiner Weibergestalten.“

Ein Blick streift die lebensgroßen Abbildungen seiner beiden Ehefrauen im Brautstand links und rechts vom Spiegel.

„Sie ist so, wie ihr nie wart!“

dav

Er gießt noch mal nach.

„Wär ich glücklicher verheiratet gewesen, müsst ich tolle Frauen nicht erfinden. Dann hätt‘ ich eine gehabt!“

Er wendet sich wieder dem Manuskript zu:

„Solche Frau! So eine Frau!“, lass ich den Doktor hier seufzen. Sie macht ihn fertig. Er bekommt die Standpauke – und betet sie an. Sie – voll im Brast, merkts nicht. Die Stelle ist auch gelungen, find ich.

Ist das hier meine Marienbader Elegie? Naja 70 war ich nicht, als ich mein 18jähriges zweites Huhn riss. Aber ist mir Ehe Nr.2 nun bekommen oder nicht. Wo isse überhaupt grade, meine Madam?“

Er trinkt.

„Als Backfisch hat se mich angeschwärmt und ich hab mich in ihrer Jugend gesonnt, aber – naja:

„Sie haben sich in ihre mädchenhafte, anhimmelnde Naivität verguckt, in der man sie belassen hatte. Und sie haben ihren Teil dazu beigetragen, dass das auch in der Ehe noch so bleiben sollte. Dann plötzlich haben Sie von einem halben Kinde eine Entscheidung erwartet, die eine reife Frau, zwischen Mann und Vater gestellt, hätte treffen können, mit der Juliane aber überfordert war.“

Stimmt schon so. Das ist der beste Ausspruch meiner Rittbergern überhaupt! Ich war so voller Elan am Anfang, als ich das schrieb. Da steckt soviel drin! Ich fühlte mich da neulich noch einmal wie mit 30. Aber dann hab ich nicht widerstanden und wieder diesen Dreck über mich gelesen: Mann ohne Einfälle! Überschätzt! Blender! — Aaaaaaach, das bremst dich einfach aus!“

Er nimmt einen großen Schluck. Das Glas ist leer. Er gießt nach. Das Glas wird nur halbvoll, nun ist die Karaffe leer.

„Zenzi!“ Er müsste aufstehen, um an der Gesindeklingelschnur ziehen zu können, da brüllt er lieber. „Zenzi!“

Gotlind, die hier im Haus nur Zenzi heißt, weil der Meister meint, Gesinde müsse so heißen, ihr eigentlicher Name passe nicht für eine Magd, erscheint und lässt auf ihrem Gesicht deutlich ihre Unlust stehen.

„Zenzi, sei so gut und bring mir noch eine.“, wedelt er mit der leeren Karaffe. „Ich werde mich heute früh besaufen, weil ich schreiben muss. Ich werde also gegen Mittag hinüber sein und mich aufs Kanapee schmeißen. Sag der Marie in der Küche, eine kleine Brotzeit gegen 3 Uhr wird reichen. Und leg mir noch ein Aspirin auf den Beistelltisch am Kanapee.“

Zenzis Blick hellt sich auf. Ein ruhiger Feiertag für das Gesinde also. Nach den Räuschen schläft der Alte lange. Die Brotzeit wird eher Abendbrot sein. Der Tag ist rum, ohne Arbeit. Fein!

Sie geht und bringt die zweite große Karaffe Wein. Er hat sich schon wieder tief in seine eigene Welt begeben und nimmt ihr herein und heraus gar nicht wahr.

„Quatsch. Ich bin ja wohl ne andere Hausnummer als der Geheimrat von Weimar war. Aber man sollte nicht mit Mitte 40 sowas Junges frei‘n. Die ist dann Mitte 30 und ausgereift, wenn du selbst schon hinüber bist. Dieses Herumreisen müssen, dieser Einkaufswahn! All diese sinnlosen Kosten!

Aber dem sind sie in den Arsch gekrochen bis zum bitteren Ende. Wie hat der das gemacht? Und dann Fürstengruft! Staatsbegräbnis!

Wenn ich hinüber bin, wird kein Hahn mehr krähn nach mir. Da geht’s mir wie dem Friedrich in Berlin. Der arrogante Hund! Antwortete nicht mal auf meine Einladungen.“

Wieder ein Schluck.

„Ach schon gut. Ich hörte, er soll elend krank sein inzwischen und halb blind. Da reist man nicht mehr. Nee, arrogant biste nich‘ mehr alter Freund dort droben. Spielhagen und Heyse – auf uns! – die beiden Diogenesse in ihren Fässern!“

heyse2 (3)Er trinkt das Glas aus, blickt sich um. Schaut auf das leere Glas in seiner Hand, spürt die Wärme des Alkohols nun langsam in seinen Adern und lächelt befriedigt:

„Naja, schickeres Fass irgendwie.“ Er grinst in den Spiegel, fährt sich durch die noch immer dichte Künstlermähne, stellt das leere Glas ab, greift zum Füllfederhalter, schraubt die Kappe andächtig ab,  und beginnt zu schreiben.

——

„Gegen den Strom“ kam 1907 auf den Buchmarkt und blieb unbeachtet. Der 77jährige Heyse verkaufte sich immernoch ganz gut, fand aber in den Gazetten nicht mehr statt. Den Spartenblättern der neueren Literatur diente er allenfalls als Feindbild, gegen das strikt anzuschreiben sei.

„Gegen den Strom“ hätte Beachtung verdient gehabt. Es ist eine Art Generalabrechnung mit der Gesellschaft und der Zeit. In salonfähig zumutbarer Form. Und es ist sicher auch das Inspirationsbuch für ein weit berühmter gewordenes anderes Werk: Hermann Hesses „Glasperlenspiel“. Ebenfalls eine Generalabrechnung eines aus der Zeit Gefallenen ein paar Jahrzehnte später.

Heyses Buch zerfällt in eine gute erste Hälfte, voller realistischer Schilderungen zeittypischer Schieflagen in der besseren Gesellschaft und im piefigen Kleinbürgertum – und einen schwachen, nahezu kommunistisch anmutenden Schluss.

Beim Lesen heute erlebst du ein Feuerwerk der Assoziationen. Vorausgesetzt du kennst Kleinstadtleben und ein paar Referenzwerke.

„Gegen den Strom“ heißt der Band. Heyse kannte Bob Seger nicht. „Against the wind“! Seinen Weg gehen, merken, dass man nicht weit kommt, aber stolz bleiben! Das ist auch das Problem des Buches. Heyse ist der Seger von 1907. Aber es geht bei ihm nicht nur um „zwei Geflippte, die durch nichts zu bremsen sind“, sondern wie sich bald zeigt, gleich um acht Personen.

heyse3Sechs intelligente Männer, ohne eigenes Verschulden, von der tumben Meute aus der Spur gebracht, bilden eine Art Bruderschaft abgeschieden in einem ehemaligen Klosterbau auf dem Nonnberg gegenüber der völlig verschnarchten Kleinstadt Windheim.

Und dann wären da noch zwei attraktive Damen, von denen sich die eine als beeindruckende Powerfrau erweisen wird.

davIch lese „1907“ auf dem Vorblatt und den Einleitungssatz: „Es war in den 90er Jahren…“ des 19. Jahrhunderts und ich schalte auf Gründerzeitmodus; da ziehen mich die ersten paar Heyse-Seiten auch schon in die Spielhagen-Welt zu Edith und Eleonore, zu Melitta, Hermine und Paula:

Windheim; Kleinstadtbahnhof, eine attraktive Frau entsteigt einem Zug. Der Gepäckträger bekommt einen Wink, den geflochtenen schweren Koffer auf das Dach des Omnibusses des Hotels zu hieven. Alle Anwesenden platzen sofort vor Neugier: Was will SO EINE hier in unserm Kaff? Auf dem Koffer steht H.v.R. also irgendwas Adliges!

Helene von Rittberg. Heyses Melitta von Berkow. Spielhagen erschuf sie in seinem Debut. Heyse quasi als sehr gelungenen Schlussakkord!

Ohne, dass es erwähnt werden muss, siehst du sie vor dir: Knapp 30jährig; weißes langes Kleid, schlank, aber nicht dürr; die Taille lässt die Korsettierung ahnen, Hochsteckfrisur und Wagenrad-Hut mit Feder. Sie bezieht ein Zimmer im „Blauen Engel“ – und nun musst du erstmal Marlene Dietrich verdrängen, dieses Leichen-Face mit den Mephisto-Augenbrauen vom Gründgens.

Jene schönere Helene, ist in geheimer Mission ihrer jüngeren Freundin Juliane von Greiner hier, um deren Ehe zu kitten. Ein komplizierter Fall. Untreue ist nicht das Problem, sondern Heyse greift ein heißes Eisen seiner Zeit auf:

Duelle sind verboten! Aber wenn du als Offizier einem ausweichst, feuert dich der Ehrenrat des Offizierskorps deines Standortes aus der Armee!

Selbst wenn der Herausforderer von zweifelhafter Ehre ist und einen vermutlich verdrehten Sachverhalt als Grund für den Schusswechsel präsentiert! Er hätte trotzdem den ersten Schuss in der Auseinandersetzung und käme mit Glück durch, während der ehrenvolle Kriegsveteran von 1870/71 als Herausgeforderter einen sinnlosen Tod stirbt und eine schöne Witwe für den Strolch hinterlässt. Der Kriegsheld steht beschämt als Feigling da, der spielsüchtige Trunkenbold triumphiert. Verkehrte Welt!

Wenn dann noch eine ungünstige Schwieger-Sippe des Helden hinzukommt, die nun im Mann des eigenen Kindes einen Feigling sieht, muss die Frau entscheiden, zu wem sie steht: Ehemann oder Vater? Wer hat recht mit seiner Sicht der Dinge? War das Duellabsagen Feigheit oder Vernunft? Juliane von Greiner entscheidet sich auf Druck des Vaters gegen ihren Mann. Der verzweifelt daraufhin, flieht und verdrängt; lebt sich ein, in die Rolle eines Witwers. Fünf Jahre vergehen, da taucht Helene in seinem Exil auf, um alte Wunden aufzureißen, wie er meint; – um die Ehe doch noch zu kitten, wie seine Frau Juliane hofft. Der böse Schwiegervater ist inzwischen tot.

Helene findet Herrn von Greiner, informiert ihn, versucht seine starren Moralvorstellungen zu  erschüttern – und blitzt ab.  Die Ansichten der Zeit, die sich Greiner und Helene im Disput an den Kopf werfen, lassen aufhorchen. Heyses Standpunkt ist hier ein durchaus moderner! Helene eine intelligente, emanzipierte Frau, die nie um Verständnis bettelt, die die Initiative behält, aber die besiegten Männer trotzdem gut aussehen lässt. Die personifizierte Vernunft. Von Rittberg – die, die die Hürden überspringt. Von Greiner – ist für eine letztlich auch positive Figur ein suboptimaler Name. Es sei denn, der „Heuler“ soll seine Rolle in der ersten Hälfte des Buches unterstreichen.

Aber neben Greiner sind da noch die anderen 5 in ähnlicher Lage.

Der Mediziner, der Mathematik-Professor, der Kaplan, der Politiker, der Maler – allesamt Träger schwerer Schicksalsschläge. Ergo: Die Vernunft sitzt auf dem Berg und wird nicht gebraucht. Hey Atlantis! (Donovan/Danzer)

Unten im Tal lebt die kleingeistige Meute in altem Schlendrian dahin, versäumt wichtige Reparaturen am Deich. Der hält schon noch!  Und sieht die Katastrophe nicht kommen. Erst als sich der Wolkenbruch ergießt, die Straßen überflutet sind, kommen beide Seiten zusammen. In der Stunde der Not ist handelnde Intelligenz von Nöten! (Witt 1)

Hesse als notorischer Gegen-den-Strom-Schwimmer wird dieses Buch gekannt und gefeiert haben. Sein Glasperlenspieler-Ghetto drängt sich in der Erinnerung des Lesers von heute nach vorn. ER lässt seinen Elite-Renegaten dort ersaufen. Bei Heyse überleben dessen Vorbilder: Hauptmann Greiner und Dr. Carus.

heyse2 (2)Die Fabel ist bei Heyse (und später auch bei Hesse) in eine sehr elitäre Welt entrückt, so dass nicht gefragt werden muss: Wovon leben die da eigentlich auf ihren Elite-Bergen? Die 6 treiben eigenartige Hobby-Studien, die kein Geld einbringen – und auch die Glasperlenspieler kennen keinen Broterwerb. Der profane Existenzkampf des Alltags, der den Massenmensch in seinen Reflexen hinundher treibt, interessierte Heyse nur am Rande. Er will seine Ansichten in Disputen unterbringen und er tut dies in durchaus ansprechenden Situationen.

Die Vielfalt der angesprochenen Problemkreise verblüfft:

Ehren-Kodex, Sterbehilfe, immer noch vorhandene Judenfeindlichkeit der dumpfen Masse, unversöhnliche Grabenkämpfe der Kunstkritik, oppositionelle Gedanken in den „Grenzboten“ unterbringen ;Fraktionszwänge und Sinnlos-Diskussionen im Reichstag, Rolle der Frau als beschäftigungslose Anmut, nur als Witwe unabhängig, in Zeiten heraufdämmernder Emanzipation…

Heyse schlägt hier 2 Fliegen mit einer Klappe: Einerseits kotzt er sich frei über den Unverstand der Welt, in herrlich tiefsinnigen Dialogen zwischen Helene und den Misanthropen. Aber zugleich sind das ja kulturvolle, sympathische Seelen, die sich nichts für lange übelnehmen. Und so erschafft sich hier andererseits der erfolgsverwöhnte, immer gastfreundliche, und nun vereinsamte, alte Heyse seine finale Tischgesellschaft in der Phantasie.

SOLCHE Leute hätte er gern um sich!

SO und nicht anders müsste man miteinander umgehen, wenn wirklich die Vernunft gesiegt hätte, wie immer behauptet wird!

Das dem nicht so ist, merkt der Leser selbst.

Ein reinigendes Gewitter löst die Katastrophe aus, die eigentlich keine richtige ist. Sie wird auch nicht dramatisch ausgewälzt, sondern nur notdürftig skizziert. Mittel zum Zweck, um alles zum Guten drehen zu können. Das Ende kann als Kitsch betrachtet werden. Heyse ist das wurscht. Realist wollte er nie sein! Das war ihm zu karg, zu revolutionär, zu unromantisch. Deshalb bricht über Windheim nach der Flut eine Art utopischer Kommunismus herein, in dem alle Widersprüche enden.

Da wird es Verrisse gehagelt haben, oder völlige Ignoranz. Das muss er gewusst haben! Er hatte mit 77 schließlich reichlich Lebenserfahrung.

Nach dem Setzen des letzten Punktes am Ende des Schreibvorgangs ist es noch nicht 12. Die Karaffe ist noch halbvoll. Er gießt sich nocheinmal ein. Die Schreibraserei hat sich verflüchtigt. Er ist unzufrieden mit sich. Er weiß, dass der Schluss kein guter ist. Er säuft ihn sich schön:

„Sie werden’s nicht raffen, diese Schmierfinken von heute! Sie werden sich an meinem zu simplen Konfliktverlauf hochziehen.“

Er verstellt die Stimme und schreit sein Spiegelbild an:

 „So ist das Leben nicht! Fehlen bloß wieder Zentauren, die die Damen retten! Das Geschreibsel eines verlöschenden Talents!“

Er trinkt aus und winkt mit dem leeren Glas ab, dann füllt er nach. Da schlägt der große Regulator 12. Bong! Pingping. Bong! Pingping…

„Und sie werden‘s halt wieder nicht begreifen, dass man ein bissl Kitsch als Gleitmittel braucht, um die Leser nicht zu verschrecken. Sie sollen das Rührstück ruhig schmachtend genießen. Aber wenn sie sich den Carus oder den Greiner zum Vorbild nehmen, dann müssen sie auch denken und handeln wie die — und nicht nur wie dressierte Hunde, dieses räsonierende Offizierscasino da in Potsdam nachäffen! – Grandios Hoheit! Grandios! Meine Verehrung! – Dann fangen sie an zu überlegen: Wer sitzt eigentlich bei uns auf dem Nonnberg sinnlos rum und muss auf seine große Stunde warten, weil irgendwelche Dumpfbacken ihre Posten nicht räumen?

…kann ja nich‘ alle ersaufen lassen! ….müsst ich Thomas Mann heißen! Uäh! Buddenbrooks. Scheißfamilie.“

Er schaut angewidert ins Weinglas. Das Lächeln kehrt zurück:

„…kannst nichts dafür, guter Tropfen!“

Er erhebt sich und taumelt zum Kanapee hinüber, lässt sich dort fallen, wirft sich die Sofadecke über und lallt noch ein abschließendes:

„Findet die Guten, ihr Arschgeigen!“

Dann schläft er zufrieden ein.

©Bludgeon

14 Gedanken zu “Als Heyse gegen den Strom schwamm

  1. Heyses kleines Großes Buch über alles:

    Ich überleg mir immer, könnte die Geschichte HEUTE spielen…

    2009 strengten reaktionäre Kreise in Berlin einen Volksentscheid gegen den Berliner Senat an, der, um auch moslemische Schüler zu erreichen, ein Fach Ethik einführte. Das Thema Sterbehilfe ist ständig im Gespräch. Bei jeder Wahl treten Tierversuchsgegner an; bei der letzten Europawahl gab es auch eine Liste, die mehr Freiheit für die Forschung forderte. Meine Freundin fotografiert gerne Menschen, aber darf sie Fremde fotografieren?

    Um all das geht es in Gegen den Strom. Ein Maler, den ein Konkurrent wegen „Nuditäten“ denunzierte, ein wegen Sterbehilfe verurteilter Arzt, ein jüdischer Professor, der seine Tochter nicht in den Religionsunterricht schicken wollte, ein Offizier, der sich nicht mit einen Roué duellieren wollte, ein exkommunizierter Priester und ein zwischen allen Parteien stehender Politiker haben sich in ein Kloster geflüchtet… Aber, keine falsche Romanitik: die erste Klosterregel ist, nicht zu politisieren… Sie verschwenden als Aussteiger ihre Fähigkeiten, die in der vermöderten Kleinstadt zu Füßen des früheren Klosters dringend gebraucht werden.

    Ich bin gespannt, wie es ausgeht…

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    • Es ging in Berlin darum, das Fach Ethik als ordentliches Lehrfach, also als Pflichtfach für alle Schüler einzuführen. Es sollte nicht mehr nur als Ersatzfach für die Schüler herhalten, die keinen Religionsunterricht besuchen. Es sollte verbindlich für alle werden, also auch für diejenigen, die am Religionsunterricht teilnehmen. Der Religionsunterricht ist dort jetzt freiwillig und ohne die Bedeutung, die er früher hatte, während Ethik Pflicht ist.
      Gegen diese Neuerung liefen die Patentchristen Sturm. Gipfel war der volksverhetzende Slogan „Werte brauchen Gott“, der denen, die ohne Gottglauben bzw. ohne die Simulation dieses Glaubens auskommen, unterstellt, sie hätten keine Werte. Diese Kampagne erinnert an die feindliche Haltung der Kirchen zur Weimarer Republik, die die (halbherzige) Trennung von Kirche und Staat festgelegt hatte. Der damit verbundene Machtverlust gefiel den Kirchen gar nicht, was dazu führte, dass sie die Republik bekämpften und den Aufstieg des Faschismus begünstigten. Kirchenglocken mit Nazisymbolik legen davon ein beredtes Zeugnis ab.

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      • Ausschlaggebend HIER bleibt doch: Die Verblüffung darüber, dass Heyse ein solches Problem (Religionsunterrichtsvermeidung) 1907 ansprach. Eine unentdeckte Sensation deshalb, weil er damit und mittels der ebenfalls angesprochenen Sterbehilfeproblematik im selben Buch etwas viel Aktuelleres zu bieten hätte als Fontane mit seiner drögen Effi. Ein typisch deutsches Problem der Erbe-Pflege.

        MEINE Sicht der Dinge ist inzwischen, dass die dt. Lit.wiss. seit langem mit Fontane und Mann einzelne Gliedmaßen von etwas zu Reliquien erklärt, dessen Rückgrat der Vielschreiber Heyse und die Millionenauflagenbringer Freytag und Spielhagen waren, die unbeachtet bleiben.

        Kurios dämlich einerseits. Andererseits gut für mich, dass ich sie selbst entdecken konnte, ohne dass schulische Zerredungserinnerungen an ihren Werken kleben.

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  2. Als ich Helenes kluge Bemerkungen im Gespräch mit dem Professor las, war ich voller Begeisterung. Aber das limonadensüße Happy-End verdirbt alles. Und dann der utopisch gemeinte, auf mich dystopisch wirkende Epilog: Carus und Hauptmann Greiner haben Windheim in ein Modebad verwandelt. Das alte Kloster diente als Steinbruch für die Bauten zur Regulierung des Flusses, die „erbgesessenen“ Angler haben ihre idyllischen Plätze verloren. Nur die Armen wohnen noch in den alten Gemäuern, während auf dem Oberland Villen entstanden. Als der Maler Peter Paul zu Besuch kommt, bleibt er nur eine Nacht.

    Und noch was zur Erbediskussion: Fontane schreibt so gut wie Heyse und Spielhagen. Das Problem ist, dass der Romantiker zum Realisten umgelogen wird. Die Leute halten „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ für eine zeittypische Gestalt und deshalb die Bodenreform für böses Unrecht. Das ist ein zugegebenermaßen plattes Beispiel, aber es paßt für viele flache Köpfe.
    Und Fontane war zwanzig Jahre bezahlter Agent einer reaktionären Regierung, wurde schon früh mit seinen olle Generäle verherrlichenden Balladen Schulbuchautor… Dagegen kämpfte er an, als er Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ feierte… Aber Korrumpiertheit und Falschheit steckten tief in ihm. Er schimpft privat auf die Juden – und weiß sich zugleich gut mit „den Literaturjuden“ zu stellen. Ohne seine charakterlichen Schäden wäre Fontane in Wirklichkeit der, als den ihm die Deutschlehrer feiern: Der größte deutsche Romancier.

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    • „Das limonadensüße Happyend verdirbt alles.“ – so gings mir auch. Leider wahr.
      Bei Fontane schießt du übers Ziel hinaus. Wer heute einen judenkritischen Satz liest, denkt „Auschwitz!“. Fontane konnte das nicht ahnen. Seine Haltung ist nach heutigen Vergleichen eine FDPig schwammige. Oder auch SPDig Gabrielianisch. Die Judenemanzipation war noch jung, da erledigen sich nicht gleich alle Klischees von 900 Jahren von selbst. Antisemit im Nazi-Sinne hineinzugeheimsen, das ist SED-Stil der 50er Jahre, für die Karl May sowas wie ein früher SA-Mann war.
      Und: Nein, so lebensnah und erschütternd, wie Spielhagen und Heyse schreiben konnten, schreibt Fontane nicht. Jedenfalls mich erreicht er nicht. Manches von ihm ist lesbarer als anderes, aber nur mal so zum Spaß gefragt: Was hätten Heyse oder Spielhagen aus einem Plott wie „Schach von Wuthenow“ herausholen können! Da hätte ich vermutlich mitgelitten. So aber les ich das, sage am Ende „Tja, schlimm.“ und fange bereits an, den Anfang zu vergessen.
      Habe gerade Heyses „Moralische Unmöglichkeit“ durch. Das bringt meine bisherige Bestenliste gehörig in Gefahr. Umgekehrt gedacht: Wie hätte Fontane DIESE STORY vergurkt!

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  3. Schlimmer als das Happy-End war der Epilog: Carus und Greiner haben die Idylle zerstört und die Einwohner der Stadt entmündigt: Wessis in Windheim.

    Schach von Wuthenow gehört zu Fontanes Besten, der Stoff kam seinen speziellen Talenten entgegen und er konnte, vor der totalen Niederlage 1806, ein Preußen so schlecht zeichnen, wie es war. Schach war nun mal kein Revolutionär oder Künstler und noch nicht einmal ein verhinderter Kunsterforscher wie der Held von Stumme des Himmels, und die entstellte Schönheit wollte sich nicht selbst verwirklichen, wie Spielhagens Heldinnen, sondern einfach nur geheiratet werden… Nein, Spielhagen hätte das nicht besser gekonnt. Dir fehlt vielleicht ein Ohr für die zarten Töne.
    Vielleicht liest Du mal Fontanes Vor dem Sturm und entdeckst dabei, die von ihm benutzten Spielhagenschen Motive. Es lohnt sich.

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  4. Carus und Greiner beseitigen Biedermeier-Mief und erzeugen Gründerzeitkommunismus:Allen scheint es gut zu gehen. Man bewohnt ne Villa, kriegt gesunde Kinder, die Stadt kann als Kurort scheinbar Metropole ohne Industrie-Schlote werden….

    Vllt fehlt mir wirklich das Gespür für die leisen (literarischen) Töne. Wenn damit Ereignislosigkeit in nicht anheimelnder Wortwahl gemeint ist.

    „Vor dem Sturm“ und den ach so viel gepriesenen „Stechlin“ hatte ich schon manchmal ins Auge gefasst, aber nu hab ich gottlob erst mal den Heyse abzugrasen und danach vermutlich die alten Storm-Erinnerungen aufzufrischen, da hat Fontane noch Zeit.

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  5. Nachtrag:
    Beim zweiten Lesen fand ich Helenes Bemerkungen gar nicht mehr so klug: Peter Paul hatte ihr erzählt: Simon hatte nach heftigen Streit mit der Schulbehörde erreicht, dass sein Sohn von der Religionsstunde dispensiert wird. „Jetzt war er Zielscheibe für die Verfolgung seiner Kameraden, die auch den Judenhaß gegen ihn losließen. Bei einem Angriff auf dem wehrlosen Knaben, dem nur ein paar Freunde bei-sprangen, wurde er über den Haufen geworfen, mit Füßen getreten und dann schwer verletzt den Eltern ins Haus gebracht. Eine Monat noch dauerte das Hinsiechen, bis er starb. Als er dann begraben war, legte sich die Mutter nieder.“ (S. 59f)
    Und diesem Mann sagt sie: „Mir scheint, Sie messen die große Mehrzahl der Menschen zu sehr nach Ihrem Maßstabe. Wie wenige sind des klaren Erwägens und Erkennens fähig, und wie würden die anderen, Schwächeren die Kraft finden, trotzdem ihre Pflicht gegen sich und ihre Nebenmenschen zu tun, wenn ihnen nicht von früh an der Trost eingeflößt wurde, der im gläubigen Vertrauen liegt auf eine liebevolle höhere Macht, möchten die Zeugnisse dafür auch vor dem Verstande nicht bestehen können.“ (S. 109)

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    • Zu der Zeit interessierten sich noch weniger Leute für Politik als heute. Die Gebildeten fürchten die dumme Mehrheit und die dumme Mehrheit lässt sich was vorschwafeln von Agitatoren, die „ihren“ Marxismus auch nur halbkapiert haben. Das radikalisiert die einen, während andere ermüdet abwinken, weil es „zu hoch für sie“ ist. Da ist naivreligiöser Trost sowas wie ein letztes bißchen Klebeband, bevor alle auseinanderfällt. Dass eine Frau von Rittberg so argumentiert ist wirklich intelligent.
      Der Professor macht tatsächlich den Fehler, der sich bis heute in vielen Zeitungen hält: Der Glaube, man könne Menschen formen nach „seinem“ Bilde, womit nicht Gott gemeint ist. All die betulichen Volksaufklärer, die den „neuen Menschen“ schaffen wollten/wollen, kenn ich wenigstens zur Genüge noch aus Ostzeiten. Und vieles, was in den einschlägigen Onlineportalen großer Blätter so zu lesen ist, erzeugt ein Deja vu nach dem anderen. Früher siegte der Kommunismus sich tot und seine Substanz in die Verwahrlosung, heute ist das angebliche Heil die Globalisierung, wollmama janz schnell allden galoppierenden Neokolonialismus übersehn, wa?!
      Der Professor setzt mit seiner Pädagogikkritik (1907!) viel zu hoch an, nicht massenkompatibel, geht den dritten Schritt vor dem ersten und zweiten, so erreicht er niemanden. Deshalb geht er ja zu guter letzt in die Schweiz.

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  6. Ich habe etwas anderes gemeint: Simon hat seinen Sohn und seine Frau verloren, und da ist es ganz unangemessen, ihm so einen Vortrag zu halten.
    Dieser Fehler wirft ein Licht auf Heyses Persönlichkeit, er wollte die Dinge, die er Helene in den Mund legt unbedingt sagen – und dabei war es ihm egal, ob es zu der Romansituation und –gestalt passt.

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    • Nö. Das war von ihrer Seite Taktgefühl, die Tragödie nicht anzusprechen. Er hat sie im Vorwort seiner Schrift nicht erwähnt. Sie hat ihre Kenntnis darüber nicht von ihm, sondern vom Maler, der Professor ist in dem Glauben, sie liest die Schrift als uneingeweihte neutrale Person – also redet sie mit ihm über die „Wissenschaft“. Von ihrer Warte aus. Die Witwe eines „Junkers“ kennt Zusammensetzung der Landbevölkerung, und deren erbärmliche Bildungslage (siehe Sudermanns „halbe Tiere“ im Katzensteg) weiß, dass er viel zu hoch ansetzt.

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  7. Gut, der Interpretation, dass Helene aus „Taktgefühl“ die Tragödie nicht ansprach, kann ich nichts entgegensetzen. Heyse hatte eine jüdische Mutter, das muss man bei dieser Stelle mitbedenken… Nun freue ich mich auf Deine Ausführungen zu „Moralische Unmöglichkeit“.

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