Ulis schiefer Edgar W.

Wie eine große rostige Eisenkrampe riss „Die verdrängte Zeit“ von Marko Martin so allerhand Schlick der Jahre von alten, längst beerdigten Leseerlebnissen und Kinoeindrücken eines jungen Mannes, der mal der Vater der Toka-ihto-Tales werden sollte.

Und nun umwabern da mehrere Untote meinen Alltag und drängen sich ins Tagesgeschäft:

„Da sind wir aber immer noch und der Staat ist langst futsch und Monsanto ruiniert das Laaaand“.

Schreib über uns, schreiiiiib!

Grusel!

An vorderster Front Ulrich Plenzdorfs Marxschädel.

Tja, das war schon ein Held. Der schrieb „die Legende vom Glück ohne Ende“, also das „Paul und Paula“-Buch, das ich nie gelesen hab, aber der Film kam 1973 in die Kinos und die Macher selber staunten, dass der ziemlich gut besucht wurde. Gegenwartsfilme der DEFA waren eigentlich verlässliches Kassengift. Dieser nicht. Er kam zur richtigen Zeit. Honecker war seit ’71 dran, aber ‘73 starb erst der Ulbricht und nun sollte es heißen, kommen freiere Zeiten – da ging sowas.

Im selben Jahr erschienen als Buch „Die neuen Leiden des jungen W.“, sein zweiter Geniestreich – so hieß es. Es fuhr mächtiges Korrespondentenlob ein: Individualitätsbeweis der Jugend im sowjetischen Marionettenstaat. Honecker herausgefordert – den kollektiven Zwang zu lockern usw.

Ältliche Herren, angefixt von der Goetheparallele…

Westradio und seine Rezensenten taten ein Übriges. Die Zaungäste hinter der Mauer staunten nicht schlecht, dass da ein Buch gelobhudelt wurde, das man ab der Nachauflage tatsächlich zu kaufen bekam. Und sie kauften…

laubenpieper goes jazzLothar Loewe hat gesagt…

Also war das gut!

Sagt sogar der Deutschlandfunk!

Es wurde ein Bestseller. Aber wieviele der Käufer haben dieses Ding wirklich gelesen?

Welche Käuferschicht visierte ein Buch an, dessen „Held“ ein 17jähriger ist, der ausgefallener Weise auf Jazz abfährt, in einer Gartenlaube wohnt, weil er „von zu Hause weg ist“ und ungelernt bei einem Malermeister jobbt?

Die Generation Flakhelfer scheidet aus, wegen der „Urwald-Mugge“; die Ost-Hippies nicht minder, keine Landkommune, kein Blues, kein Burdon… meiner einer und sonstige Boomer feierten anno 73 irgendwas zwischen Slade und Black Sabbath, aber doch nicht Satchmo! Noch jüngere waren gleich ganz auszuschließen.

Wer also kauft sowas?

Unser Hausarzt (mitte 40) schleppte ca. 1976 oder 77 die Nachauflage an: „Hier müsster mal reingucken! Das kommt im Westen ganz groß an!“ Inzwischen hatte es der „Klassenfeind“ sogar verfilmt! Und zu mir:

„Du ooch! Is genau deine Altersgruppe!“

Aha. Meine Eltern legten es diplomatisch bei Seite.

Ich habs gelesen. Durch. Aber:

Ich kam aus dem Kopfschütteln einfach nicht heraus.

Wenn das ein Ost-Autor war und das Buch hier erschien, glaubte ich „Sozialistischen Realismus“ erkennen zu müssen, den ich hier aber überhaupt nicht fand.

Heute im Alter ist mir der Inhalt von Goethes Vorlage geläufig. Nicht, weil ich sie gelesen- , sondern weil ich den Film „Goethe!“ genossen habe. Der war so gut im Kino, dass ich Filmmuffel mir die DVD auch noch kaufen musste! Er enthält die Liebesgeschichte des jungen Goethe und schwer vermittelbaren Bummelstudenten mit Charlotte Buff. Sein Schlüsselerlebnis, dass zu seinem ersten Bestseller führte:goethe

Ein verkrachter Habenichts liebt, muss mit ansehen, wie die Angebetete in eine Vernunft-Ehe getrieben wird, und nimmt sich das Leben.

1977 war mir nur bekannt, dass Goethe ein Buch dieses Titels verzapft hatte, aber wen hätte das interessieren sollen, nach inflationärer Goethe-Qual in Lesebüchern aller Alterstufen?

Plenzdorf gefiel die Idee: Er greift sich also den Goethe und erfindet ein DDR-Jugendschicksal, was ansatzweise zu passen scheint. Die Zensoren werden somit Beißhemmungen kriegen, denn Plenzdorf verbieten, hätte jetzt den Touch des Goethe-verbietens. Er holt also den Werther von 1772 aus der Gruft und in die DDR 200 Jahre später. Gelingt ihm das? Nö.

Seine zusammengeszwungene Parabel erzeugt reihenweise schiefe Bilder.

Edgar Wibeau heißt der Knabe. Französisch klingender Name. Zusätzliche Plenzdorfsche Absicherung: Hugenottenhinweis. Tolerantes Brandenburg! Naja. Ob’s viel genützt hätte, wenn die übrigen Inhalte so ähnlich ausgefallen wären, wie in Reiner Kunzes „Wunderbaren Jahren“, sei mal dahingestellt.

Wibeau schmeißt eine Lehre an der Berufsschule, die seine Mutter leitet, und verschwindet nach Ostberlin. Dort lebt er in einer verlassenen Gartenlaube.

Lehre schmeißen in der DDR hieß, sich den Halbsatz „zeigt keine Einsicht in gesellschaftliche Notwendigkeiten“ einhandeln. Minuspunkt für später. Kam deshalb auch nicht allzuoft vor.

Wer die Lehre schmeißt, ohne gesundheitliche Gründe zu haben, war Assi. Da fiel Verehrung schonmal aus. Außerdem, wenn seine Mutter in so gehobener Position ist, bekommt auch sie Ärger, da sie ihr „Früchtchen“ nicht im Griff hat. Denkt er daran nicht? Seine Mutter ist geschieden, also alleinerziehend – und da beschert er ihr solche „Zicken“?

Nun ja, Direktorinnen zu Ostzeiten, das waren so verkniffene §-Reiterinnen, garantiert humorbefreit, in erloschenen Ehen dahinvegetierend oder eben solo. Vielleicht ja Rabenmutter, dann wäre einigermaßen erklärbar, warum er nicht an Konsequenzen denkt. Scheint ja auch kein Überflieger zu sein, wenn er an der Berufsschule seiner Mutter keinen „Berufsausbildungsplatz mit Abitur“ inne hatte. Dass so ein intellektuell eher desinteressiertes Bürschchen dann freiwillig einen zufällig gefundenen Goethe liest – das ist nur mit hanebüchen hohem Autismus-Level erklärbar.

Dann schickt er Tonbandaufnahmen seiner Goetheleserei an seinen Kumpel!

Weiß Plenzdorf, was Bänder oder Kassetten in seinem Land kosten?

Er beschreibt seinen Edgar W. als Musiksüchtling, ohne aber an die Konsequenzen zu denken: NIEMAND verschwendet Bandkapazitäten für solche Deppenideen!

Und dann dieses Wohnen in der Laube. Entweder steht sowas in einer Schrebergartenanlage, dann hat der automatisch Nachbarn, die sich sorgen, welcher Laubenknacker in spé sich da eingenistet haben mag und dann bekommt er uniformierten Besuch!

Oder die Laube steht irgendwo im Unland an’ner Bahnschiene, dann interessiert das nach wenigen Tagen die TraPo, warum da abends Licht ist. Und dann gibt’s den Assi-§ im Strafgesetzbuch: Zuzugsgenehmigung? Nicht gemeldet in Berlin? Keine Berufsausbildung? „Schwarz pfuschen gehen“ ist keine Arbeit! Noch nicht 18? Glück gehabt! Kein Knast – „nur“ Jugendwerkhof!

Schließlich nun noch der ganz und gar „danebene“ Musikgeschmack: 17 Jahre alt, und dann Satchmo hören; MSB lieben, und Uschi Brüning anschwärmen! Das ging weder 1973 noch 1977 auf!

Satchmos Krächzgeang klang lustig, wenn er mal den „treu Husar“ versuchte, oder den „Haifish, got much teeth in“. Das war mal ein Gag für zwischendurch, aber das Dixieland-Gedudel – NoGo! Unvermittelbar!

Zu sowas fandest du mitte/ende eines Studiums in elitärer Kunstrichtung, aber nicht als 10.Klässler mit Lehr-Abbruch!

Modern Soul Band – die gabs. 1973 waren die noch auf der Chicago-/Santana-Nachspielebene, wenn man sie live kannte. Im Radio aber sangen die jeden Schrott, der ihnen von genehmigten Textern in den Mund gelegt wurde. Da entsteht automatisch eine Kluft zwischen dem Romanhelden und seinen Lesern: Er mag die Band in Ostberlin live erlebt haben. Saaletal-Leser wie ich kannten nur den Radiomüll von denen. Auch war hier eine Entwicklung zwischen 1973(Buchentstehung) und 1977(Leseerlebnis) äußerst rasant vorangekommen: 1973 war gekonntes Nachspielen noch das Nonplusultra für den Konzerterfolg einer Band. 1977 hatte sich der Ostrock bereits durchgesetzt. Die eigenen Stücke störten längst nicht mehr. Es wurde fein unterschieden zwischen Bands mit (textlichem) Anspruch und Kreml-Rock. Und was MSB im Radio boten, war letzterer.Uschi B.

Uschi Brüning Begeisterung mit 17? Eine LP von ihr lag mehrere Jahre im Plattenladen herum! Die sang wie Manfred Krug in weiblich – so Jazz-Schlager-Soul. Das war die irgendwie richtige Musike für frisch geschiedene, enttäuschte Frauen in den End20ern, oder eben Musiklehrer, aber doch zu keiner Zeit für Teenies!

Bleibt noch dieses Theater um „echte Jeans“. Da hatte sich zwischen 1973 und 77 ebenfalls allerhand getan. Die landeseigene Jeansproduktion war mit Lössnitz-Jeans-Anzügen 74 oder75 gestartet. Bald folgten Boxer- und Wisent-Jeans. Christian hatte mir 10. oder 11. Klasse mal angeboten, er rangiere nun seinen Lee-Jeansanzug aus.  Sind eben neue Pakete angekommen. (Volksmund: „In manchen Familien kommt auch noch das Klopapier aus dem Westen.“) Ich könne den haben, für 50 Mark Vorzugspreis. Meine Antwort war kurz und knapp: „Ich soll deine Lumpen auftragen und dafür löhnen?“ Er fragte nie wieder und fand einen Käufer für 80 Mark. Also, es gab schon „Kunden“, die sich ihre abgehalfterten Niethosen gegenseitig verhökerten, die Löcher mit Flicken besetzten und über den Besitz so einer Ruine happy waren, aber wenn de an der EOS bist, dann sind das nu nicht gerade deine Helden.

Dann ist da noch diese sogenannte Jugendsprache, aber „die gibt’s in keem Russenfilm“, denn da „fetzt“ oder „peitscht“ überhaupt nüschd! Der Herr Alt-Boheme von mittlerweile 40 Jahren versuchte hier, sich an die Jugend heranzuwanzen, ohne sie zu kennen. Hatte Plenzdorf Kinder?

Ich war 17. Ich schaffte dieses Buch. Aber mehr noch schaffte es mich. Am Ende schlug ich es zu: Knäd!

Bis neulich: „Verdrängte Zeit“. M.Martin feierts in der üblichen Altgermanistenattitüde.

Wenn’s schee macht? Abwink.

Schlaf nun wieder gut Uli! Bist ja einer von den guten; wegen „Paul und Paula“ und weil du Strittmatters „Laden“-Verfilmung gerettet hast. Aber deine Laubenpieper-Saga da, die war Murks.

Die rettete dir nur die Westwerbung.