Es war einmal…
…neulich im Roberto-Blog „Lebensnovellen“, als es um die Märchen ging, die uns weiterbrachten. Da wurde viel angerissen, worauf sich eingehen ließe: Die Rolle der Märchen in der frühkindlichen Erziehung/Prägung; die Rolle der günstigsten Vortragsart, Die Wirkung der Bilder in den Märchenbüchern, der „innere Film“ und die depperten Kulturvernichter-Glaubenskriege der Selbstgerechten.
Wo also anfangen mit dem Reagieren?
Auch in meiner Kindheit spielten Märchen eine Rolle. Aber eher wegen der Hörspielschallplatten und Karten-Quartette; wegen eines Bauklötzer-Puzzle-Mosaiks, auf dem für 6 Märchen Bilder geliefert wurden, wenn man die 20 Würfel richtig zusammenschob…
Vorlesen funktioniert ja meist auf Wunsch des Kindes. Das Kind war ich. Und meine Wahl fiel klar zugunsten von Schnurz oder Ritter Runkel aus. Oder ich entschied mich für „Schnucki-Has und Miese-Mau“, „Osterhase Hyazinth“ oder „Knusperfein und Mopsegard“. Zeitlich versetzt kam noch „Hamster Krietsch“ dazu. Tiere waren also meine erste und einzige Gang, der ich je angehörte.
Der dicke Wälzer „Grimm’s Kinder-und Hausmärchen“ lag auch da; war aber von Klemke illustriert. Das lockte nicht.
Und da sind wir schon bei so einem Kinderbuchschaden meiner Zeit. Die toll illustrierten Immerwieder-Kinderbücher kamen von ungarischen oder tschechischen Verlagen. Die hatten dort verstanden, was Kinder zur Phantasiebefeuerung brauchen: Entweder möglichst niedliche Kuschel-Figuren mit denen sich lachen und weinen lässt; oder wirklichkeitsnahe Darstellungen in exakter Malweise. „Schnurz“ und „Ameise Ferdinand“ waren stets Bückeware. DDR-Buchillustratoren lernten trotzdem nicht dazu. Der DDR-Kinderbuchverlag hatte zum einen oft so einen an der Kollwitz geschulten Federzeichnungs-Kritzel-Stil seit den 50er Jahren nicht aufgegeben, der recht selten für das große „Bum!“ im Kinderschädel sorgte. Oder es war eben – Klemke.
Kitschbunt. Pünktchen-Pünktchen-Komma-Strich-Gesichter. Für „künstlerisch wertvoll“ befunden, von den Erwachsenen, aber so leblos, so unwirklich für Kinder.
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Wenn du als kleiner Junge Märchenplatten hörst, dann bist du der Prinz! Was anderes bleibt dir gar nicht übrig. 90% der Märchen richten sich an kleine Mädchen und ihr Warten auf „Erlösung“. Schon hier passiert, was später auch alle Liebes-Filme bzw. -Romane aufgreifen: Die Hochzeit als Happy-End.
Vermutlich hängt das schon damit zusammen, dass Kindheiten im Mittelalter so gaaaar nicht vorgesehen waren. Die Jungs mussten frühzeitig mit auf den Acker, während die Mädchen beim Bohnenschnippeln und am Spinnrad die Sitz-Zahm-keit eingetrichtert bekamen. Und für Letzteres ist nun mal Geschichten erzählen, um „bei Laune zu halten“, besonders geeignet. Nur die kränklichen Jungs kommen somit in den Genuss, Märchen erzählt zu bekommen.
Aber „Rotkäppchen“, „Dornröschen“ oder „Frau Holle“ juckt sie eher nicht. Schon alleine deshalb, weil früh erkannt wird, dass da Unmöglichkeiten erzählt werden: Ein Mädchen und eine komplette Oma entsteigen dem Gedärm eines toten Wolfes?! Pruuuust! Grins. Wie eklig! – Ein 100 Jahre altes Mädchen ist noch hübsch genug zum Heiraten? – Hä? – Nee! Niemals! – Und Goldmarie und Pechmarie – die sind beide so typische Mädchen! Keine Spiel-Idee! Die eine hilft halt Mutti oder der fremden Frau Holle, weil sie sonst nichts mit sich anzufangen weiß und die andere liegt nur faul herum und guckt in den Spiegel, wie meine eine Cousine. Nix los! Allerdings ist das mit Pech; respektive Dreck, übergießen ein verlockender Einfall! Nur: Hinterher droht sicher laaaange Zeit Fernsehverbot. Und man wird gezwungen, sich zu entschuldigen. Auch doof. Märchen haben eben so ihre Undurchführbarkeiten!
Im Wandel der Jahrhunderte kam es zur Alphabetisierung, die sich gegenwärtig nun wieder auf dem Rückzug befindet. Jedoch erschuf diese für kleine Jungs den dauerhaften Ausgleich der Räuber- und Indianergeschichten. Somit wird erklärbar, weshalb Märchen, wie auch in meinem Falle, bei Jungs nicht allzu lange locken.
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Manchmal aber wurden Märchen auf seltsame Weise sehr lebendig: Wir fuhren ab und an – und viel zu selten – einen Kollegen meines Vaters besuchen. Tierarzt und nebenbei Jäger. Alles dort hatte für mich eine ganz eigene Mystik. Das Haus, wie ein Forsthaus von Bäumen umstanden, war immer duster. Wohn-und Herrenzimmer waren durch eine Schiebetür getrennt, die in der Wand verschwand! Magic! Das Herrenzimmer, in dem der Schreibtisch des Vaters und die Aktenordner standen, war eigentlich ein Jagdzimmer! Trophäen an allen Wänden! Sogar ein präparierter Kopf eines Rehbocks! Ein wahrer Rittersaal! Und das Beste an den Aufenthalten war, dass das Kinderzimmer dort arg schmal war, wir also zum Aufbauen unserer Aktionslandschaften in eben jenes Jagdzimmer durften! Spielen unter Geweihen! Ich hatte jedes Mal den Ritter-Runkel-Drall! So wuchs Adel auf! „Vati, warum ham wir sowas nicht?“ Ich hätte rasend gern auch Geweihe an der Wand hängen gehabt, aber niemals fertiggekriegt, selber einen seiner Träger zu erschießen. Ein Widerspruch, der sich bis heute nicht auflösen ließ.
Dieser besagte Gastgeber packte uns vor dem Nachhausefahren auch dann und wann einen geschossenen Hasen in den Kofferraum, über dessen schiere Länge ich bass erstaunt war. So ein Hase ist mit langgezogenen Hinterbeinen ja so groß wie ich?! Da rückten mir die Bilder aus der „Häs-chenschule“ gleich sehr viel näher!
Und dieser freundliche Tiertöter hatte 4 Kinder, die sich untereinander bombastisch gut vertrugen! Zwei knapp ältere Mädchen und zwei Jungs, in meinem Alter – und Frieden! Das gabs auch nur dort! Ich kannte das ausnahmslos anders: Udo hasste seinen Bruder; Andreas auch. Mein älterer Cousin und seine Schwester zeigten keinerlei Neigung, sich näher zu kennen. Und dort im Jäger-Haus gingen die alle dermaßen nett miteinander um, begrüßten mich „Dauerfremdler“ jedesmal wie einen fünften Geschwisterteil, sodass das Drauflosspielen mit dem gleichaltrigen Sohn und dessen nur wenig jüngeren Bruder nie ein Problem war. Die beiden Mädels – tja – siehe Frau Holle: Die eine war Mutters Gehilfin und die andere las in irgendeiner Ecke des Hauses oder verschwand zu Freundinnen. Zwar spielte oder malte ich mit den beiden Jungs, aber sehr viel mehr glotzte ich der ältesten Schwester hinterher. Annegret! Meine Dauer-Fee! Ungefähr 3 Jahre älter als ich. Eine blonde Schönheit! Niemand im Umfeld hieß so! Alle Mädchen heißen Beytroa, Claudscha, Heige, Gonnie … aber Annegret! So heißen NUR Prinzessinnen! Sie passte in alle meine Märchen,– nur leider nicht in „Schneewittchen“.
In der ersten Klasse nahm mich Vater mit in meinen ersten Indianerfilm „Chingachgook – die Große Schlange“; es folgte ein Jahr später „Spur des Falken“. Und „die Söhne der großen Bärin“. Da waren die Gebrüder Grimm dann schwer auf dem Rückzug. Mein neues Schönheitsideal war nicht mehr blond. Und als Dakota-Mädchen kam Annegret nicht in Frage. Dafür musste ich mir in meiner Umgebung andere Entsprechungen suchen. Gabi in meiner Klasse hatte diese dunkle Wallemähne! Niemals gezähmt in Affenschaukeln oder Rattenschwänzen! Das beeindruckte! Mega! Würde man heute sagen.
Das Märchenwissen aber blieb wichtig. Alle paar Jahre wurde es gebraucht. Laienspielaufführungen in der Aula zum „Fest der jungen Künstler“, Zeichentrickfilme, die ab und an mal ins Kino gerieten und ob ihrer Seltenheit Sensation wurden: Zum Beispiel die einmalige Gelegenheit Walt Disneys „Dornröschen“ im „Chrosn Gino“ bewundern zu dürfen. Oder jene aberwitzigen japanischen Story-Vermanschungen, die zwar „Der gestiefelte Kater“ hießen, aber mehr „Musketierfilm in Katzenform“ waren; bzw. sowas ähnliches wie Katers Kampf gegen Katzen-Daltons darstellten. Cool zynische Dialoge. Top synchronisiert. Da musste man mit 14 noch ins Kino, sonst war man nicht dabei, wenn sich alles in der Hofpause am Tag danach noch beäumelte.
Niemals wäre einem von uns eingefallen, was im Westen längst zur Erwachsenen-Seuche geworden war: Die Märchen zu verteufeln, einzelne gar verbieten lassen zu wollen, weil zu sadistisch, präfaschistisch, oder wenigstens zum Spießer erziehend.
Die in die Jahre gekommenen Hippies waren doch bloß zu faul, ihre Rangen auf Zuhören zu konditionieren. Deshalb mussten ihre Kinder auch im „Kinderladen“ immer „spielen was sie wollen“, also Wände beschmieren, mit den Fingern essen, sich gegenseitig über den Haufen rennen…
Und obwohl diese selbstgerecht Erleuchteten in der Minderheit waren, hat sich ihre Sichtweise schleichend durchsetzen können, weil die Nachplapperer und Kapitulanten immer mehr wurden.
Fast hätte mich Roberto mit seinem Post getröstet, dass es sich ja lediglich um Pädagogen und Kindergärtnerinnen handelte, die dieser Neo-Scholastik frönen; aber auf den zweiten Denk wurde mir klar, dass diese ausgerechnet an entscheidender Stelle sitzen, um diesen Unsinn zu verbreiten.
„Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ -???- Nur, weil du zu motorisch gestört zum Zuhören warst, solltest du nicht anderen den Spaß verderben wollen! Das ist vereinfacht ausgedrückt der kategorische Imperativ des Immanuel Kant. Aber der ist ja neuerdings nu auch schon zum Rassisten gestempelt worden… Tja. Unfug rules.
Alle Völker feiern ihre Märchen. Alle Kinder wachsen damit auf, schulen ihren Gerechtigkeitssinn an diesen Geschichten. Interpretieren spielerisch ganz unbewusst um. Und gruselt sich einer vor einem Plot, dann wird dieser eben nicht mehr erzählt oder vorgelesen, aber deshalb bleiben doch die andern alle im Spiel! Nur (West-)Deutschland erschuf sich diese Sonderrolle, die die eigenen kulturellen Wurzeln kappt. (Naja, der woke Unsinn amerikanischen Ursprungs holt den Vorsprung gerade wieder ein. Inzwischen haben Amerika und England ja ganz ähnliche kulturrevolutionäre Probleme.)
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Fazit: Wir im Osten kriegten rechtzeitig beigebracht, was „Nationales Kulturerbe“ ist. Heute ein Begriff, bei dem mancher -drühm- reflexartig bereits in Schockstarre verfällt. Es war nicht alles schlecht.
Ich musste noch tun, was ich tun musste. So war die Erziehung. Die Halbgeneration nach mir musste dann tun, was sie tun durfte. Und wehe sie durften nicht richtig in der Vorstellung ihrer Eltern…
Märchen ohne Bilder sollten pädagogisches Grundrecht für Kinder werden. Die Kinder erleben die Bilder ihrer inneren Kraft entsprechend. So jedenfalls meine Erfahrung. Und wenn man ein Kind ein wenig in Bildern zu einem Märchen erzählen lässt, das ihm vorher beim Erzählen einen Schrecken versetzt oder es erschüttert hat, kann man nicht selten erkennen, was dem Kind fehlt oder was es bedrückt. Bei zwei ABC Schützen habe ich selbst erlebt, wie sich in den Tagen nach dem Erzählen ein Kindesmissbrauch herausgestellt hat.
Der Walter Klemke ist auch in der BRD mit nicht wenigen von ihm illustrierten Büchern gefeiert worden. (Für mich gehört auf die imaginäre Liste der überschätzten Künstler)
In der Tat ist es bedauerlich, dass sich die „Profis“, die an den Schaltstellen sitzen, oft am weitesten von der Problemlösung entfernt sind.
Anregend finde ich, was Du zur unterschiedlichen Rezeption der Märchen von Jungs und Mädels schreibst. Spontan fällt mir der Heller ein: „Die Frau hat eine Welt, die Liebe. Der Mann hat eine Liebe, die Welt“ – vielleicht läufts am Ende darauf hinaus.
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Ruskin gab als Fünfzigjähriger Grimms Märchen, mit den Illustrationen von George Cruikshank, die er als Kind geliebt hatte, neu heraus. Meine Ausgabe von Grimms Märchen hatte Illustrationen von Ludwig Richter, die mir damals wie heute nicht gefallen.
Claudia hat sich die Klemke- Ausgabe gekauft; sie wird ja noch sechzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen gedruckt. Ich war begeistert. (Ich kannte Klemke vorher nur von den „Magazin“-Titeln.) Klemke erschafft eine Welt, die zugleich zeitlos modern – und eben eine biedermeierliche Märchenwelt ist! Aber ist sie auch Kindgerecht?
Du schimpfst ja immer über moderne Unbildung. Die Märchenbilder von den Ansichtskartenmaler Paul Hey, die Du bringst, sind eine gemeine Anpassung an schlechte Sehgewohnheiten (so wie heute die Anleihen an Actionfilme in der Remarque- Verfilmung). Sie sind Kitsch. Dagegen denke ich, dass Klemkes Bilder Kunstgeschmack entwickeln helfen. Wenn Du mit Klemkes Buch aufgewachsen wärest, hättest Du vielleicht auch einen besseren Musikgeschmack.
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Quark. Aus dir spricht der kalte Mathematiker. Ich bin ja mit Klemke aufgewachsen. Er animierte mein Widerstands-Gen. Insofern alles gut.
Klemkes Malstil ist emotionslos schabloniert. Kein “Kuschelfaktor“, kein Hineinträumen in die Bilder möglich. Da lob ich mir den Ansichtskartenkitsch und Hannes Hegens Wimmelbilder von Zeit zu Zeit im Mosaik.
Meine “schlechten Sehgewohnheiten“ erlauben mir sogar manches Bild gegenstandsloser Malerei toll zu finden, wenn es Assoziationskraft hat.
Also klappt es dann und wann auch mit zeitgenössischer Kunst, ohne nun jeden Farbfleck anzuhimmeln, nur weil er bei Sotheby’s teuer verhökert wurde.
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