Wolzogens „Sünderin“

Ernst von Wolzogen (1855-1934)

Was für ein fähiger Erzähler!

Wenn man, wie ich unlängst, seine „Tolle Komtess“ gelesen hat, und herausfand, dass diese als eins seiner gelungensten Bücher gilt, dann wagt man sich nicht so leicht an ein Zweitwerk. Es könnte schlechter sein – und den positiven Ersteindruck ruinieren.

Andererseits aber will man „mehr vom Selben“, weil’s so schön war, das zu lesen.

Ich wagte mich nun doch an „Die arme Sünderin“ von 1902 – und – Entwarnung!

Wieder toll!

(Und: Ja, den Wiki-Artikel ab ich auch gelesen. Dazu weiter unten.)

Wolzogen, Vorstandsmitglied in Frauen-Fördervereinen in Berlin und München, beschreibt in diesem Gesellschaftsroman eine kriselnde Ehe so, dass du das ganze damalige Deutschland in der Hand hast. Und er braucht dafür nur 300 kleine Taschenbuchseiten verteilt auf 2 kleine Bändchen der roten Engelhorn-Roman-Reihe.

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Formal geht es also mal wieder um das garstige Thema Scheidung. 1902 noch mit gesellschaftlicher Ächtung verbunden. Romane über unglückliche Ehen sind damals notwendig. Freie Partnerwahl die Ausnahme. Millionen Schicksale stecken fest. Der Roman wird Ventil. Der Bedarf riesig. Man liest halt gern von Freiheiten, die man nicht hat. Vor allem, wenn sie mit feinsinnigem Humor daherkommen, wie in diesem Falle.

Wolzogen bereitet hier kein Rührstück auf.

1. Der Inhalt

wolz2awolz2c (3)Seine „Sünderin“, Karoline „Carry“ Dorn, erscheint mir als die deutlich bessere „Effi Briest“, angelegt im bürgerlichen Milieu – mit lediglich adliger Schwägerin als Nebenfigur. Deren Mann, Carrys Bruder,  wird als jovialer Lübecker Pfeffersack beschrieben. Ein Schelm, wer ihn als Gegenentwurf zu einer der deprimierenden Buddenbrock-Figuren (Erstauflage 1900) liest. Carry ist als literarische Figur sehr gelungen! Wolzogen-Gestalten agieren wie im wirklichen Leben: fehlerhaft, echt; hochmoralisch schwätzend und doch inkonsequent – eben real handelnd. Weit weg von Fontanes totdestillierten Mensch-Automaten. Dramatik steht neben gut platzierten Pointen. Treffend und krass wird mit der gutbürgerlichen Heuchelei ins Gericht gegangen. Erinnerungen an Spielhagens ebenfalls fast perfekten Roman „Hammer und Amboss“, vierzig Jahre zuvor, werden wach.

Dr. Philipp Dorn, Carrys Mann – eine Vollpfeife mit ein paar netten Seiten, ein scheiternder „Start upper“ gewissermaßen; sie – die kokett gebliebene, dreifache junge Mutter ohne Beruf. Er – ein Jammerlappen mit Ausbrüchen ins „Nassforsche“. Sie – hübsch und launisch; in der Krise plötzlich tougher als gedacht.

wolz2fImmerzu meint man zu ahnen, wie es weitergeht; aber der Autor weiß zu überraschen.

Die größte ist jene, die eine Spur legt zu Ingmar Bergmanns Meisterwerk „Fanny und Alexander“ rund 80 Jahre später. Kannte der „Die Sünderin“?wolz2e

Die Episoden, die sich um Carrys Kinder drehen, sind verblüffend Bergmann-kompatibel!

Dabei passieren klitzekleine Anschlussfehler: Aber gemessen an den großen, die Wilhelm Raabe ständig unterlaufen, ist das nichts.

Wolzogen beschreibt, wie Ehestreit aus NICHTS entsteht, nur weil beide Seiten mal einen Fußbreit aus dem Korsett der fest getackerten, gesellschaftlichen Rolle fallen. Am Anfang steht eine problematische Winzigkeit – aber aus Funken werden Flammen, wenn jahrelang unterdrückter Frust Feuer fängt. Es fliegen die Fetzen! Und anschließend wird von Scheidung gesprochen, diese aber nicht vollzogen, oder nur halb (als Trennung) , dann vergeben, aber nur halb „wegen der Leute“… Wie gesagt: Alles sehr sehr echt!

Wolzogen hält also deutschen Sufragetten die Stange: Lasst (bürgerliche Ehe-)Frauen tätig sein!

Sie müssen raus aus den Villen, in denen sie verkümmern!

Lebenserfahrung erzeugt familiäre Kommunikationsmöglichkeiten auf Augenhöhe.

2. Das interessante Beiwerk

Was der Roman aber zusätzlich leistet, ist das reichliche Einbinden von Zeitkolorit 1902; es taucht alles auf, was damals Gesprächsthema war:

Bigotterie in Gestalt von Carrys wohlhabenden Bruder; der spanisch-amerikanische Krieg als schädigend für die deutsche Tabakindustrie; Ibsen und Strindberg als „Theater-Punk“, der viel Kopfschütteln erzeugt, von anderen aber auch begriffen wird; die „Nora“ insbesondere.

Die Schattenseite ist: Du musst damit klarkommen, dass er Carrys Naturkrause als „Niggerhaar“ beschreibt und ihren Bruder äußerlich kurz mal in den Verdacht des „Semitismus“ rückt; sein schwarzhaariges Erscheinungsbild jedoch durch eine venezuelanische Mutter und blaue Augen sofort wieder „entschuldigt“. In unseren ahistorisch-hysterischen Zeiten sind das arge Stolperer im Lesegenuss.

Was als Kontext nirgendwo vermittelt wird, ist Folgendes:

  1. „Neger, Nigger, Kaffer, Hottentott“. Es herrscht begrifflicher Wirrwarr. Man will weltläufig erscheinen, ohne gereist zu sein, verwendet dieses Vokabular – ohne die Nuancen zu kennen; wie Rentner von heute, die „Link“ und „Like“ nicht unterscheiden können, wenn sie mit ihren Zocker-Enkeln reden wollen. Auch herrscht äußerste Unklarheit in Bezug auf Kolonien; sie sind DAS Thema der „besseren Gesellschaft“, eine immense Propagandawelle läuft, weil zwar alle von der Wichtigkeit „afrikanischer Besitzungen“ reden, aber man ums Verrecken nicht genug Siedler findet; die dort ihr Leben riskieren wollen. Hinzu kommt der Fakt vor sich hin dümpelnder antisemitische Klischees, die im einfachen, besitzlosen Volk zwar abnehmen, in der „besseren“ Gesellschaft aber nicht aussterben können, weil in Gestalt vorwiegend jüdischer Privatbanken das Wucherjuden-Bild immer neue Nahrung erhält. Jeder sich verspekulierende Geschäftsmann findet hier sein Argument auf dem Silbertablett, woran es (angeblich) lag, dass er in Armut geriet. Noch ist es keine mehrheitsfähige Meinung; aber latent vorhanden.

Ein verderblicher Ansatz für das, was 1923 seinen finanzpolitischen Höhepunkt erfuhr, dessen gesellschaftliche Folgen ab 1933 sattsam bekannt sein dürften.

Und eine Falle, in die auch der alte Wolzogen nach Inflation und „Währungsschnitt“, die ihn ruinieren werden, tappt. Aber 1902 sind diese Entwicklungen nicht vorhersehbar.

3. Ein biografischer Wandel

Jedoch ist die Zeit um jene vorletzte Jahrhundertwende eine einschneidende Phase in der Biografie des Autors. Sein Kabarett „Das Überbrettl“ wird „wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten“ – sprich: mangels Publikum – aufgelöst. Erhalten blieb die Information, dass es seinen Namen dem Nietzsche-Hype um dessen „Übermenschen“ verdankt. Wolzogen ist also KEIN Nietzsche-Jünger der ersten Stunde; karikiert die barbarische Messlatte, die Nietzsches Schwester geschickt in das wirre Werk des Bruders hineingefälscht hat, und fällt mit seinen humanistischen- und frauenemanzipatorischen Botschaften beim Publikum durch. Der Zeitgeist ist gegen ihn. Also beginnt ein schleichender Prozess des Einlenkens, bei dem er jedoch weitestgehend er selbst bleiben möchte.

Er begibt sich in seine „Dichter-Klause“ und verarbeitet seine Lebenserfahrung nun mehr im stillen Kämmerlein. So kommt es zu einer Einigelung, die widersprüchliches gebiert.

„Niggerhaar“ der Bürgerin und „Semitismusverdacht“ gegenüber einem dunkelhaarigen reichen Kaufmann sind erste Sporenelemente der Anschlusssuche an den Alltag, der ihn umgibt.  Saatkörner der Borniertheit. Fremdkörper in einem Werk, das sich so ganz und gar frech-progressiv und kritisch gibt. Keine Gnade für konservative Lebensmaxime! Ob scheinheilig religiöses Gebarme kinderloser Betschwestern, die Carry ihre Attraktivität und ihr Mutterglück neiden, ob männliche Triebabfuhr in den „Amor-Hallen“ Berlins. Warmherzig wird für Versöhnung statt Scheidung geworben, im Sinne der gemeinsamen Kinder; die gesellschaftliche Ächtung demaskiert und auf den Müllhaufen der Geschichte gewünscht!wolz2d

wolz2c (2)Ein Weltkrieg aus allseits dümmlichen Gründen der Gier und ein unmögliches Friedensdiktat -im Verein mit Ersparnisraub durch Extreminflation- bilden das Gewächshaus, in dem Nutzpflanzen zu Giftpflanzen mutierten. Der Demokratie fehlt durchsetzungsstarkes, mitreißendes Personal; keiner der vielen gesichtslosen Kanzler prägt irgendeine „Ära“; keine Legislaturperiode schafft ihre 4 Jahre. Der nationale Minderwertigkeitskomplex greift um sich und überhitzt in Richtung NS.

Wolzogens Lebensabend gerät in Unordnung. Er ist alt. Frustriert. Sehr wahrscheinlich bankrott durch die Hyper-Inflation von 1923. Hat in jungen Jahren vieles richtig kommen sehen, was ihm nun falsch erscheint: Hat er früher einer zu weit gefassten Liberalität das Wort geredet, die das Vaterland schwächte? Hat er sich lustig gemacht über einen Militarismus, von dem es mehr gebraucht hätte, um 1914 gewinnen zu können? – „Gold gab ich für Eisen!“ – Und das rostet nun in Flandern und Scapa Flow vor sich hin. – Er grantelt, hadert mit der Zeit, in der er leben muss und lässt sich blenden:  Da will eine „Neue Kraft“ gesellschaftliche Schranken überwinden, den „Arbeiter der Stirn mit dem der Faust aussöhnen“ ohne kommunistisch zu werden. Das klingt verführerisch für einen alten Gerechtigkeitssucher wie ihn. Und so endet er als der verbitterte, weltfremde Künstler -der ausgerechnet in Hitler einen weißen Ritter sieht- tragisch.

Ein wohlwollendes Schicksal nahm ihn 1934 davon. Er musste das Platzen auch dieser Illusion nicht mehr erleben.

Übrig bleibt: Alles Andere als ein Langweiler! Ein typischer Autor seiner Zeit.

Ein Mensch – wie du und ich.

4 Gedanken zu “Wolzogens „Sünderin“

  1. Es fällt mir schwer, an Wolzogens literarische Qualitäten zu glauben. In seiner Autobiografie schreibt er über alle nur Böses, spritzt er nur Gift. Über die Brüder Hart, Bölsche und Wille schreibt er, dass sie in unsauberen Verhältnissen mit ihren Zimmervermieterinnen lebten und weit unter ihrem Stand heiraten. (In der Tat heiratete Bruno Wille seine Wirtin und Julius Hart hatte mit einer über zehn Jahre älteren Vermieterin ein Kind.) Wolzogen brachte seine „Freunde“ in einem Theaterstück mit dem hübschen Titel „Das Lumpengesindel“ auf die Bühne. (Das Stück wurde 1892 auch aufgeführt.) Hartleben stellt er als Alkoholiker dar.

    Aber Hartleben, Bölsche, Wille und auch die Harts waren im Gegensatz zu Wolzogen vollständige Menschen, weil sie positive Überzeugungen hatten, für die sie wenigstens in ihrer Jugend auch eintraten. Diese Überzeugungen bis ins Alter zu bewahren gelang nur einem Spielhagen. Du fandest Spielhagens Erinnerungen langweilig, weil er über alle mit Wärme und Verständnis schreibt… Ich befürchte fast, dass Du an Wolzogens Bosheiten Gefallen finden würdest.

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    • Gut möglich.
      Wenn er die Harts mit Dreck bewirft, die wiederum dem Spielhagen den Ruf „geschlachtet“ haben, dann ist das doch ein Pluspunkt!

      Da dachte er sich eben: Wer in den „Waffengängen“ so martialisch austeilen kann, der kann auch mal einstecken. Mal schauen, was die Herren von Kants Imperativ halten. Und der eventuelle Skandal nützt eventuell meinem Fortkommen.

      (Nur für eventuelle Mitleser die folgende Erklärung:
      Spielhagens „Erinnerungen“, die sich für den Vielleser „voller Wärme und Verständnis“ für allerhand Zeitgenossen lasen, lasen sich für mich wie – ähem – „Lakaiengeschreibsel“, weil er ähnlich einigen heutigen Promis sein Leben so erscheinen lässt, als habe er es NUR unter Sympathen verbracht. Das trieft nur so vor lauter Dankbarkeit gegenüber jedermann. Und da denk ich mir eben: Das kann nicht sein!)

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  2. Ich muss das mal richtigstellen: Als bludgeon Spielhagens Erinnerungen las, hörte er gleichzeitig Musik. Es klang wie die Trauergesänge grusinischer Klageweiber, bludgeon war begeistert; und so überlas er Spielhagens bewegende Schilderungen der Ehe seiner Eltern. Sein Kopf übersetzte ganz von alleine den Songtext – der Vers „alles ist so schwer / ich kann nicht mehr“ verzückte bludgeon – und so entging ihm Spielhagens spannende Darstellung der Revolutionsereignisse von 1848 in Stralsund und Bonn.

    Aber zurück zu Wohlzogen. Als Dreißigjähriger hat er 1885 ein Buch über George Eliot veröffentlicht. Da ich selber ein kleines Buch über sie geschrieben habe, hat mich das interessiert. Ich las aus Wolzogens Buch das Kapitel über ihren Roman Daniel Deronda. Der Held wurde von seiner Mutter verlassen, da diese ihre Karriere als Opernsängerin mit aller Energie betreiben wollte. Am Ende begegnet er ihr, erfährt, dass er jüdischer Herkunft ist und zieht hinaus, einen jüdischen Staat zu gründen. – Für Wohlzogen ist das alles Quatsch. Von dem 30 Seiten in dem Daniel Deronda- Kapitel bei Wohlzogen sind zwanzig enger gedruckte Seiten lange Zitate aus George Eliots Meisterwerk, dazwischen liest man den sehr kleinen Menschen Wohlzogen. Was immer man über das heutige Israel denken mag: hier erklärt einer für undenkbar, was ein halbes Jahrhundert später Wirklichkeit wurde.

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    • 🙂 Erster Teil: Nun ja. Und abwink.
      Belassen wir’s dabei: Ich finde den mutigen Autor Spielhagen, den klugen Denker in den „Erinnerungen“ nicht wieder. Grusinische Chöre hin oder her. In der privaten Schreibe der Erinnerungen bleibt er ein altgewordener Musterschüler, der allen seinen Lehrern/Profs/Leutnants im Stil damaliger Zeitungs-Elogen winselnd dankt.

      Zweiter Teil: Schau dir mal die Doku zu Theodor Herzl und seiner Idee vom Judenstaat an. Herzl fand zu Lebzeiten nicht viele Fans für diese Idee, die ja letztlich auch nur eine ist, die vor kolonialem Hintergrund geboren wurde.

      Wolzogen ist diesbezüglich eins mit der Welt von 1900, wenn er sie ablehnt. Die Zeichen standen auf zunehmende Assimilation. 1923 war noch weit. 1933 war um 1900 schier undenkbar.

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