Der Hungerpastor (2)

(Vorwarnung: is‘ lang geworden. Alte Männer eben. Opas die (noch)keine sind, labern halt das Internet tot.)

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Du liest ein Buch, das dich packt. Du liest schneller als sonst; schaffst gar mal wieder hundert Seiten am Tag. Das ist lange nicht mehr vorgekommen! Kurz vor Schluss ahnst du zwar bereits, was jetzt noch kommt, aber egal. Als es eintritt, wie vermutet, ist es trotzdem nicht langweilig, die letzten 40 Seiten zu schaffen, da auch sie mit tiefgründigen Lebensweisheiten gespickt sind. Und so einige Triggerbegriffe jagen dich ein weiteres Mal „in deine eigenen Anfänge“, weil die Situation des Hilfspredigers Unwirrsch da in Hinterpommern an die des Absolventen in der Niederlausitz erinnert. – Dann ist es vorbei. Letzte Seite. Durch!

Du klappst das Buch zu. Die Begleitmusik läuft noch. Du starrst auf einen Fleck und lauschst den Stimmen der Jahrzehnte, die du hinter dir hast und die nun alle durcheinander quaken.

Versuch es zu ordnen, los!

1. Das Allgemeine

Der Roman durchläuft 3 Etappen:

  1. a) Unwirrschs Jugend bis Studienende; (1820- ca. 44)
  2. b) Unwirrschs  Hauslehreranstellungen; (1844-1847)
  3. c) Unwirrsch in Grunzenow. (1847-48)

Anspruchsvolle Romane gaben sich damals den Anschein der Überregionalität dadurch, dass allzu genaue Ortsangaben vermieden wurden, damit so das beschriebene ÜBERALL hätte sein können. Bloß kein Lokalschriftsteller werden!

Das verursacht dann aber das Problem, dass keine Figur so richtig Mundart sprechen kann, da diese ja ein Hinweis gewesen wäre. Somit erfindet Raabe für alle seine Käuze, die den Roman bevölkern, so ein Phantasie-Idiom, in dem gern „mir und mich“ verwechselt wird, „als wie“ straflos vorkommt und Fremdwörter mit volkstümlich falschen Schreibweisen und -Endungen den Bildungsstand erkennbar werden lassen – damals – in unbelesener Zeit; ab 1820 aufwärts.

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1a) Unwirrschs und Freudensteins Jugend (1820 – 1843/44 ungefähr)

Der eine und der andere, wie Anton Wohlfahrt und Veitel Itzig! Gustav Freytags „Soll und Haben“ war 10 Jahre vorher da. Und es war ein Literatur-Hit aus dem Stand! 1855 war das der erste Roman, der als „realistisch“ galt und der mit seinen 900 Seiten auch eine gerade noch fassliche Form hatte. Karl Gutzkow hatte zwar ähnliches vor, jedoch seine „Ritter vom Geiste“ gerieten uferlos. In „Soll und Haben“ hatte Freytag diese Konstellation erfunden: Der Bürger und der Jude; auf unterschiedlichen Werdegängen. Sprechende Namen, die eine volle Charakteristik sind. Kantenlos holdselig der eine, hinterlistig bös der andere. Das Bürgertum 1855 tröstete sich über die Pleite von 1848 hinweg, gewann in Wohlfahrt einen neuen Helden des puren ökonomischen Fleißes. Das Buch stand 1864 bereits in jedem Bücherschrank, so man sich einen leisten konnte. Der Freytag-Hype als neuer „Dichterfürst“ auf dem verwaisten Goethe-Thron, war wohl Hauptinspiration für Raabe, es ihm gleich zu tun, bzw. es sogar besser machen zu wollen. Denn bei Lichte besehen ist „Soll und Haben“ eine ziemlich dröge Angelegenheit. Zusätzlich gab es seit 1862 bereits „Die Problematischen Naturen“ des Newcomers Spielhagen – und auch der wurde dafür bereits gefeiert.

Bucherfolge jener Zeit muss man sich wie Smash-Hits in den 1960ern und 70ern vorstellen. In radioloser Zeit, waren sie DIE Kulturereignisse, die besprochen wurden.

Und nun erlebten die belesenen Kreise da 1864 ihren Beatles oder Stones Moment: Freytag oder Raabe. (Und abseits grinste das dritte Lager: Weder noch, sondern Spielhagen, also The Who jener Zeit.)

Freytag und Raabe sind in heutiger Zeit in Verruf geraten: Antisemitismus; finden aber auch (noch) Verteidiger. Ich spare diese Problematik für „Hungerpastor 3“ auf.

„Soll und Haben“ enthält eine feinsinnigere Intrige, die der Böse einfädelt und der Gute aufdröseln muss. Aber Freytag lässt sich eben auch 900 Seiten Zeit. (Tipp an den Vielleser: Diesmal hab ich nachgesehen!)

„Der Hungerpastor“ bringt es in meiner 1912er Ausgabe auf 397 Seiten. Raabe kommt also schneller zu Potte. Der Konflikt kommt hier simpler daher, aber dafür wird Elend realistischer beschrieben als bei Freytag!

nap7Anton Wohlfahrt trifft auf Veitel in einem Gutsherrenpark; quasi in einem Paradies, das später den Zankapfel abgeben wird. Beide sind auf Wanderschaft in ihre jeweiligen Lehrverhältnisse. Es steckt also etwas Biblisches in diesem Romanbeginn: Veitel provoziert mit der Frage: „Das alles könnte dir gehören! Soll ich es dir beschaffen?“ Veitel als Schlange bzw. als Mephisto. Bibel und Goethe.

Hans Unwirrsch und Moses lernen wir gleich bei ihrer auf den Tag gleichzeitigen Geburt in der Kröppelgasse einer Stadt, die Neustadt heißt, kennen. Sie kommen aber erst im Alter von ca 10 Jahren zusammen und bleiben Freunde mit gemeinsamem Lebensweg bis sie 24 sind.

Die sprechenden Namen sind hier seitenverkehrt verwendet. Jeder hat das, was dem andern fehlt. Zusammen wären sie EINER; wenn man so will.

Auch Oheim Grünebaum ist eher schon morsch – oder, als alter Junggeselle, ewig unreif. Die Base Schlotterbeck schlottert nie! Sie ist die Mutter Courage der Kröppelgasse.

Raabe bebildert hier: Lern die Menschen kennen, jenseits des ersten Eindrucks!

Wenn Freytag die Bibel bemüht, so bedient sich Raabe einer anderen bekannten Anmutung: Unwirrsch wird einem alten Vater „nach langem Sehnen nun endlich doch noch“ geboren.

Ein Schelm, wer an Dornröschen denkt! Hundert Jahre schlafen muss der kleine Hans zwar nicht, aber er hat schon auch einen langen Weg als Schnarchsack vor sich, ehe er „erwacht“.

In beiden Romanen sind die positiven Helden jedoch seltsam asexuelle Streber. Am Gymnasium keine Streiche. Im Studium keine Feten. Da wird nur ganz kurz mal für eine Fee geschwärmt und ansonsten wird GEARBEITET und geschlafen. No Sex till 30! Prüde. Verkniffen.  Hier wirkt Raabe wieder sehr autistisch. Er scheint das nicht zu kennen. Im Roman von den „Leuten aus dem Walde“ war das genauso.

„Die Zeit!“ könnte man denken. Aber Heyse schrieb zeitgleich seine frühen Novellen vom „Bild der Mutter“, vom „Grafenschloss“! Was da alles ging!

Auch Spielhagens Hauptfiguren unterliegen Hormonstürmen im passenden Alter!

Freytag und Raabe sind elende Spießer.

1b) Unwirrschs Lehrjahre als Hauslehrer ( ca.1844-47)

Um 1864 sind Märchen „IN“.  Inzwischen nicht nur die Grimm’schen, der Erziehung wegen, sondern sogar die aus „1001er Nacht“, wegen der Exotik.

Die Gebrüder Grimm haben ihre Hausmärchensammlung zwar bereits 30 Jahre vorher auf dem Markt, aber erst um 1860 beginnen die belesenen hundert Jahre; das Lektüre-Zeitalter: Als Analphabetismus schwand, Massenauflagen ungeahnte Buchumsätze ermöglichten; das literarische Niveau wuchs, Bestsellerautoren von ihnen großbürgerlich leben konnten, ohne nebenbei noch Zeitungen herauszugeben oder irgendwo lehren zu müssen. Raabe gehörte nie dazu. Seine Verhältnisse blieben – bescheiden. Vornehm ausgedrückt.

Er verwendet hier deutlich erkennbar den Drei-Schritt, den viele Märchen kennen:

Drei Anstellungen muss Unwirrsch „erdulden“, bevor er „erhöht“ wird.

Drei Brüder Götz spielen eine Rolle in seinem Leben. Wie die 3 Müllerssöhne im „Gestiefelten Kater oder in „Tischlein deck dich!“ Und immer ist der Loser der eigentliche Gewinner; und der, der alles hat, höchstens zu bemitleiden, wenn nicht gar zu hassen.

Rudolf Götz, der älteste von den dreien, ist ein heimatloser Waterloo-Veteran, der Loser, der dreimal Glück bringt; er tritt als erster auf und der Name ist Programm und Goetheanklang: Die Welt kann ihn am Arsch lecken.

Theodor Götz, der mittlere Bruder, zu kränklich für die Befreiungskriege, macht Bürokratenkarriere, wird Steuer-Rath, heiratet Wohlstand, aber ist unfähig in seiner traumhaft schönen Villa ein harmonisches Familiendasein zu erzeugen. Er ist zum Götzen-Dienst verdammt. Denn er ist an eine „böse Königin“ geraten, unter deren Fuchtel er steht. Frau Götz, geborene von Lichtenhahn, hasst ihren Mann und sich für diese Mesalliance, gibt sich bigott-arrogant und „selbstverständlich makellos“, macht jedem Hauslehrer das Leben zur Hölle, da diese nicht in der Lage sind, unter ihrer Aufsicht das verzogene Miststück von Söhnlein zu beschulen. Raabe beschreibt eine Helikoptermutter – als es noch gar keine Helikopter gab!

Felix Götz, der jüngste von den dreien, geistert nur als Toter durch den Roman. Wichtig ist sein „Überbleibsel“, die Tochter Franziska. Wie man sofort richtig ahnt: Die zukünftige Frau Unwirrsch. Felix Götz ist mit 17 von der Schule weggerannt, um sich den Frei-Corps anzuschließen. 1813-15 kämpft er romantisch schwärmerisch beseelt von Freiheit und Vaterlandsidee und wird enttäuscht. Er findet nicht zurück in zivile Verhältnisse. Ein weiterer Götz von Berlichingen: „Bürger-Karriere? Leck mich!“ Die Todesumstände lässt Raabe im „Ungefähren“, streut aber Andeutungen, sodass der Leser wählen kann, woran er glauben will: Duell? Suff? Syphilis? Die typischen Probleme der „Rock-Stars“ jener Zeit.

Gleich zwei Brüder also Befreiungskrieger, hinzu kommen noch Oberst von Bullau, Feldprediger Josias Tillenius und der Stammtisch der „Neuntöter“, allesamt Waterloo-Veteranen, und an der Katzbach dabei, und bei Leipzig und Paris…

DAS ist die eigentliche Sensation, für die man den „Hungerpastor“ feiern sollte; denn:

Raabe bohrt hier in einer Wunde des öffentlichen Bewusstseins. 1864. Das liegt knapp vor 1871. Der Roman entsteht in dem Jahr, indem der Deutsche Bund durch den Deutsch-Dänischen Krieg seinen Todesstoß erhält. Der Norddeutsche Bund wird entstehen und zwei weitere Kriege werden folgen. 1871 ist die Einheit endlich da und all die Helden von 1813-15 sind dann auch endlich medial „IN“. Von 1815 bis 1871 wurden sie totgeschwiegen.

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Wellington und Blücher bei Waterloo – NICHT ABBA!

Zwar durfte der eine oder andere literarische Text über das Thema Napoleon gedruckt werden, aber offizielle Anerkennung; Jubiläum 50 Jahre Völkerschlacht 1863? Undenkbar!

Und so wurde es 1864 eben Zeit für dieses Buch!

1815 ist dem Hochadel voll bewusst, wie sehr er zuvor versagt hat. Er zitterte, er zauderte nach der Russlandpleite, er wollte das Volk zwingen, ruhig zu bleiben und weiterhin zum Rheinbund zu halten, aber die Erhebung lief bereits: Blücher, Scharnhorst, Tauenzien, schlugen bereits los. Gerade noch rechtzeitig hinkte König Friedrich Wilhelm III mit seinem Aufruf dem Zeitgeist hinterher. Der Mecklenburger in Schwerin tat es ihm nach. Jetzt war Napoleon schwach! Jetzt geht was!

Raabe 5c

Der Rückzug aus Russland 1812/13 – also nicht Hitler!

Napoleon hatte die Fürsten von Bayern und Württemberg zu Königen ernannt, die zitterten um ihren Titel und vor dem Volk. Sie schickten Napoleon erneut Truppen. In der Völkerschlacht bei Leipzig liefen sie über. Sachsen ebenso.

Der damals neue Nationalismus, der KEIN Nationalsozialismus war, hatte die alten Privilegien des Absolutismus gefährdet.

Der Wiener Kongress rückte die alten Strukturen wieder grade.

Niemals sollte an die Stunde der Schmach der Regierenden erinnert werden! Die vornapoleonischen Zustände sollten (soweit wie’s geht) wiederhergestellt werden. Restauration!

Keine Jubelfeiern aus Anlass irgendeines Schlacht-Jubiläums!

Keine Blücher-Denkmäler!

Keine Straßennamen nach Schill, Hofer, Lützow!

Biedermeier! Schnauze halten! Für fast 60 Jahre!

Studenten radikalisieren sich und werden gejagt. Die übrigen Untertanen ziehen die Michelmütze tiefer über die Ohren und üben sich im „unpolitisch Sein“.

Und Raabe scheißt auf das Tabu!

Er lässt die Kämpfer auftreten, als alte Herren, untergekommen in allen möglichen Berufen.

Liebenswerte Leute; bissel kauzig; und versoffen. Sie treffen sich in der Kneipe zum Grünen Baum als „Neuntöter“ zum Stammtisch. Den Namen gaben sie sich, weil als Gesetz gilt: Ein jeder darf in seinem allabendlichen Kriegerlatein nur 9 Leichen haben. Ansonsten muss er Strafrunden schmeißen.

(Außerdem passt der Name Neuntöter auch, weil es da einen Singvogel gleichen Namens gibt, der seine Insekten und Würmer auf Brombeerheckendornen spießt. Aber kaum einer hat sowas je in freier Wildbahn mal gesehen! Wie auch all die Freiheitskämpfer – Raabe stellt hier „Vögel“ vor, die keiner kennt.)

Wie antwortet der Wirt vom Grünen Baum dem Leutnant Götz bei Betreten des Restaurants auf dessen Frage:

„Neuntöter da?“

„Jeder Vogel auf seinem Ast!“

Die drei Götz-Brüder haben noch andere Spuren hinterlassen:

1868 veröffentlicht Spielhagen seinen vierten großen Zeitroman. „Hammer und Amboss“.

Auch dies ein Entwicklungsroman, in dem ein gewisser Georg Hartwig durch viele Stationen muss, um solides Glück zu finden. (Spielhagens Georg kommt ohne Juden als Konterpart aus.)

Aber auch ihm begegnen im Laufe der Zeit drei Brüder, die Einfluss auf ihn nehmen. Allerdings sind sie adlig und ihre Einflüsse sind deutlich andere. Der älteste ist der beeindruckende Individualist, das falsche Idol, weshalb Hartwig ins Gefängnis kommt. Der jüngste Bruder ist dort Gefängnisdirektor und ein Tugendbold; der mittlere ist -wie bei Raabe- der langweilige Bürokrat, der obendrein hier auch noch Zinker ist und seinen älteren Bruder verrät, obwohl dieser ihm seinen sündhaft teuren Lebensunterhalt finanziert.

Raabe hat sich oft neidhammelig sauer über Spielhagen geäußert, sicherlich, weil dieser hatte, was Raabe zeitlebens fehlte: Ruhm und Wohlstand! Aber eventuell, weil er sich obendrein „beklaut“ fühlte.

1c) Grunzenow und Happyend (1847/48; weltabgeschieden, ohne Revolution)

In diesem letzten Drittel wird es so märchenhaft, dass Raabe selbst diesen Begriff ehrlicherweise mehrfach einschiebt. Für damalige Verhältnisse ist Grunzenow in Hinterpommern von Berlin aus noch so „märchenhaft“ weit weg, wie Kalifornien in seinem vorangegangenen Roman über „Die Leute aus dem Walde“. Eindrucksvoll wird die Umständlichkeit des Reisens 1845 geschildert.

Raabe schmeißt auch märchenhafterweise mit lauter friesisch-dänischen Fischernamen um sich: Johannsen, Klaasen, Petersen. Niemand heißt hier Pebelow oder Pryczibylski! Und Oberst von Bullau, ein alter rüstiger Mini-Blücher, spricht „da oben“ als alteingesessener Gutsherr einen Dialekt, der eher Machdeborgisch anmutet. Kein Fischi-Deutsch. Vermutlich sind ihm die gerade genannten Fehler wirklich durch Unwissenheit passiert und nicht durch bewusste „Überregional-Machung“.

Oberst von Bullau und winters auch Leutnant Götz hausen also in ihrer Junggesellen-Burg mit rein männlicher Dienerschaft. In dieser Karikatur eines Gutshauses wohnen somit alle guten Geister, die es braucht, um Unwirrsch und Franziska endlich zu verkuppeln. Und die Neuntöter geben helfende Tipps.

Hier treibt Raabe seine Heldenverehrung für die totgeschwiegenen Schutzgeister Deutschlands auf die Spitze: DIE und nur DIE richten, was verbogen ist! Ohne diese alten Herren – keine Chance auf Glück für Unwirrsch und Franziska!

Last but not least hab ich mir das Folgende für den Schluss aufgehoben:

Wieder 10 Jahre später wird sich ein anderer Autor den Raabe zunutze machen, wie einst Raabe den Freytag:

Ein erster Verdacht war mir bereits gekommen, als Raabe Hansens Oheim Grünebaum in gar seltsamem Outfit auf den Abiturienten Hans warten ließ, aber dann:

nap1Diese Waterloo-Veteranen… Das ist das Figurenensemble der Herren von Greifenklau! Oheim Grünebaum ist eine Mischung aus Sam Hawkins und Tante Droll. Auch Namen wie diesen hat sich Karl May bei Raabe abgeguckt. Als Trapper Geierschnabel nach Deutschland reist und sich zivilisiert gewanden muss – ist er eine weitere Grünebaum-Variante.

Und: May guckt sich auch die Art der Elendsschilderung hier ab. Oft aus Kinderperspektive erzählt, damit man Dinge sagen kann, die sonst Probleme bekommen hätten, in gut bürgerlichen Familienblättern gedruckt zu werden. In ein bissel Kitsch verpackte drastische soziale Anklage!

– Raabes „Leute aus dem Wald“ – da ist das idyllische Försterhaus, aber nur eine Bettstatt für 7 Kinder; mit Waldlaub statt Bettzeug. Und 5 von 7 sterben darin ohne ärztliche Hilfe. Weil der treue Förster fleißig ist, aber nichts verdient.

– Raabes Hans Unwirrsch als Sohn eines fleißigen, sparsamen Schusters hat ein kleines bisschen Startkapital fürs Gymnasium, muss aber betteln gehen für ein Stipendium, damit es reicht. Als er arm und dürftig gekleidet beim Herrn Assessor Dank sagen will für bewilligte Förderung, sieht er dessen Villa und dessen Töchter, wie sie in ihren langen Kleidern zu schweben scheinen, wie sie kichern. Er ist verblüfft. Geschockt. Verdaddert. Diesen Lebensstandard kennt man in seiner Kröppelgasse nicht! Als er seinem Freund Moses von diesem märchenhaft schönen Eindruck erzählt, erdet der ihn umgehend:

„Man hat dir eine Tür geöffnet und eine neue Welt gezeigt. Aber niemand rief: Herein!“

Und Raabe selbst ergänzt später:

„Es gibt allzeit fleißige Menschen, denen es vergönnt ist, aufzusteigen. Da, wo sie herkommen, werden sie verehrt. Aber da, wo sie ankommen, sieht man lediglich die Herkunft.“

Mays „Sklaven der Arbeit“, das „Buschgespenst“ und einige der Erzgebirg-Geschichten hauen in die gleiche Kerbe.

May wird ab 1875 bekannt und er hatte zuvor im Knast viel Zeit zum Lesen!

Raabes Zitat von der „lediglichen Herkunft des Emporkömmlings“ wird sich an ihm besonders bitter bewahrheiten.

Aber Raabes „Hungerpastor“ half ihm seine Käuze zu erfinden, denen ein hundertjähriger Erfolg beschieden war.

Alles hängt mit allem zusammen.

(Auch wenn es vergeblich ist:) Entdeckt die Alten neu!

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