Zobeltitz – Des Lebens Enge

Hanns von Zobeltitz veröffentlichte 1906 „Des Lebens Enge“. Bei „Engelhorn“.Zobeltitz II

Ja, es ist eigentlich Frauenliteratur, aber auch sehr gut lesbar für Männer mit Gutshausinteresse.

Es enthält die Anfänge des heutigen Feminismus und diese, da es „so früh“ entstand, in durchaus verständlicher und tolerabler Form.

Du erlebst hier keine „Flintenweiber“ die „Schwanz ab!“ schreien, keine „Amazonen“, die in die Offizierskarriere drängen – sondern eine junge Komtesse, die sich eingeschnürt in Korsett und Familie unfrei fühlt, die „etwas leisten will“, die „nicht am Stickrahmen ihr Dasein verdämmern“ will – so jedenfalls erlebt sie ihre Mutter.

Du erlebst hier Gründe für einen Aufbruch nach, der durchaus seine Berechtigung hatte und dem es nicht um Schattengefechte der Sprachzerstörung ging.

Aber halt: Diese Komtesse, die da „raus will ins Leben“ – das hatten wir doch schon in Zobeltitz Großwerk „Auf märkischer Erde“?! (Guckst du hier.)

Ja. Durchaus. Im ersten Drittel des Romans ähnelt er sich mit dem andern inhaltlich wie „You can win if you want“ und „Your my heart you’re my soul“ von Modern Talking. Leider glaubt man, zweimal dasselbe vorgesetzt zu kriegen.

Aber erstens kriegt das Werk dann doch noch die Kurve in eine ähnliche, aber andere Entwicklung der Hauptfigur; und zweitens ist ja auch ganz interessant, darüber nachzugrübeln, weshalb ein Autor sich veranlasst sieht, zwei so ähnliche Plots zu erschaffen.

Mir scheint, dass ihm erst beim Schreiben bewusst wurde, was für ein großes Thema er da an der Angel hatte – und vermutlich war er nach Fertigstellung nicht zufrieden mit sich selbst – deshalb entstand ein paar Jahre später mit „Auf Märkischer Erde“ das bessere-, ausgereiftere Werk.

Weshalb lohnt sich, die Vorstufe hinterher trotzdem noch zu lesen?

30205507977Wegen der Aphorismen voller Lebensklugheit, wegen der Variationen des Problems weiblicher Pubertät im Gutshaus. Wegen der Darstellung so lebensechter Typen des Landadel-Milieus, die heute verschwunden sind, deren Denkweise hier aber erhalten blieb. Vater Zarntow, Graf Kressin, Maler Rautenberg: Ein erfolgreicher Künstler, der nicht Beamter genug ist, um sein Geld sinnvoll zu verwalten. Der somit zur Chiffre wird, für soviele heutige Stehaufmännchen, die von der Zeit überholt werden. Boris Becker, Gunter Gabriel, Heinz Rudolf Kunze, Billy Joel…

Und last but not least, weil „des Lebens Enge“ den realistischeren Schluss erhielt, der der „Märkischen Erde“ ein bissel fehlt.

Und dann ist da noch, wie in jedem solchen Roman aus der Zeit vor 1914, die problematische Art der Ehe-Anbahnung. Das mutet doch sehr „orientalisch“ an, wenn man es heute liest. Wir waren da mal nahe dran und es ist historisch gesehen noch gar nicht so lange her; das „Kopftuch- bzw. Haube tragen“, das „Körper verhüllen“ und somit „Figur nur ahnen können“; die 18,19,20 Jahre alten Bräute, so naiv, und „dumm wie Stulle“, weil es erzieherisch gar nicht anders ging. Zwar gab es zum Ende des 19.Jhds Lyceen für „höhere Töchter“, die die aller nötigste Anpassung an moderner werdende Zeiten wenigstens versuchten; aber Berufstätigkeit oder Selbständigkeit -also autarke Alltagstauglichkeit- waren zu keiner Zeit Ziel dieser Einrichtungen.

Ähnlich heutigen Gymnasien, die „in drei Sprachen literarische Texte interpretieren lassen, jedoch einen Mietvertrag lesen zu können, lehrt das Leben hinterher nach dem Prinzip von try & error.“ Vor Jahren brachte dies wichtige Problem mal medienwirksam eine Abiturientin in die Schlagzeilen. Jedoch, ähnlich der „Ruck-Rede“ von Roman Herzog zuvor, geschah – nichts.

Weltfremder moralischer Maximalismus verdrängt weiterhin relevante Inhalte aus den Lehrplänen unserer müden Gesellschaft.

Und trotz allem gibt es da immerwieder vereinzelt wache Teenager, die mehr sehen oder fühlen, als ihre Altersgenossen, von zobeltitz2denen sich allzu viele -allzu schnell und allzu stumpf- ins „Unvermeidliche“ fügen und die Fehler ihrer Eltern kopieren.

Malve (Malvine) von Zarntow heißt die Hauptfigur hier im Roman. Brandenburgisch-preußischer, verarmender Adel. Man nimmt es mit der Verehelichung längst nicht mehr so genau, wenn Fabrikanten-Mitgiften im Spiele sind. Da darf dann das „von“ durchaus fehlen. Vorausgesetzt, man hat dem „gesellschaftlichen“ Leben „der Familien“ ohnehin bereits abgeschworen, damit einen der „Mesalliancen-Schnack“ nicht mehr trifft.

Zobeltitz weiß, wovon er schreibt.

Malve ist seiner rebellischen Tante nachempfunden, die immerhin in die Welt entlassen wurde, um sich „auszuprobieren“, sei es nun mit Malerei- oder Gesangsschulung. Wohlwollende Väter wissen eben, dass „edle junge Pferde den Trab an der Lounge brauchen, bevor sie den Sattel dulden“. Hinterher wartet eh der Ehe-Hafen. Freiheitsdrang, Gerechtigkeitsgefühl und scharfe Beobachtungsgabe sind ihr mitgegeben. Und so urteilt sie über die Braut ihres Bruders, also die hereindrohende Schwägerin in spé, messerscharf:

„Sie ist ein Kind. Was aus ihr wird, wird an Felix liegen.“

Den Mann, der sich ihrem Herzen als Erster naht, durchschaut sie ein Quäntchen spät, jedoch gerade noch rechtzeitig und genauso richtig:

„Er ist so klug! Zu klug, um mutig sein zu können.“

Mit ihm kann ein Ausbruch aus alten Zwängen nichts werden!

Und sie erkennt schließlich auch, dass die Luftschlösser der Malerei, zumal als Frau in ihrer Zeit, zwangsläufig im Dilettantismus-Vorwurf enden würden. Und so lässt sie sich willig in den Bereich lenken, der ihr von Kindesbeinen vertraut ist, das Verwalten eines größeren Anwesens vertretungshalber für einen Onkel, der verreist. Preußische Tugend sozusagen: Einsicht ins Einarbeiten. Immerhin zu Hause, nicht fern der Heimat. Aber Zobeltitz legt eine Schippe guter Einfälle drauf. Sie endet NICHT als Gemahlin eines Gutsherrn, sondern besser. Wie?

Lesen!

Das Bändchen ist im ZVAB oder bei Booklooker immer wieder preiswert zu haben.

Malve ist die Nummer Vier großartig gelungener Frauengestalten in meinem Lesestoff der letzten Zeit.

Neben der Armen-Ärztin in Heyses Novellensammlung „Victoria Regis“, neben Wolzogens „toller Komtess“ und neben Malves „Nachfolgerin“: Helene von Hackenthin in „Märkischer Erde“.

Bisweilen bekommt man im Netz so Lesekanon-Vorschläge von „Klassikern“ empfohlen. Bücher, die man gelesen haben sollte. Darin wimmelt es immer von zahlreichen alten Russen.

Boris Godunow, Anna Karenina, Brüder Karamassow, Schuld und Sühne …

Hm.

Mein Kanon – würde gänzlich anders aussehen.

11 Gedanken zu “Zobeltitz – Des Lebens Enge

  1. Ich habe mir zwei Zobeltitze bestellt. Für die Zwischenzeit eine andere Frauengeschichte aus dieser Zeit.

    Frieda wurde 1869 geboren. Das linke Bild wurde im August 1893 aufgenommen, da war sie also 23- oder 24- Jahre alt. Das rechte Bild zeigt sie mit ihren Eltern. Sie war ein Einzelkind.
    Im April 1889 kam sie nach Zürich, um Medizin zu studieren. Zürich war damals der einzige Ort im deutschsprachigen Raum, wo Frauen studieren konnten. Aber schon bei der Vorbereitung auf das Studium wurde sie psychisch krank. Sie schaffte es nicht…
    Vielleicht hatten ihr schon die vielen Gefängnisaufenthalte ihres Vaters einen Knacks verpasst. Am Pfingstsonntag 1882 wurde er vor ihren Augen bei einem Spaziergang auf der Brühlschen Terrasse in Dresden verhaftet.
    Im Februar 1891 heiratete Frieda einen sieben Jahre älteren früheren Kommilitonen. Die Spötter sagten, dass er sie nur aus Verehrung für ihren Vater heiratete. Nach der Geburt ihres Sohnes 1894 stürzte sie erneut in Depression. Ihre Eltern bauten sich in Zürich ein Haus, um so oft wie möglich in der Nähe ihrer Tochter zu sein.
    Friedas Mann starb nach einem Mäusebiss. Er forschte mit Streptokokken, um das Kindbettfieber zu besiegen. Frieda brach völlig zusammen. Acht Tage später errang ihr Vater seinen größten Triumpf.

    Wer war ihr Vater?

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  2. Die „Tante aus Sparta“ und den von Dir besprochenen Zobeltiz.

    Gib Dir mehr Mühe beim Recherchieren! Ich gebe Dir noch einen Hinweis: Ich bin über Gerhart Hauptmann zu Frieda gekommen; Hauptmann war ein Jugendfreund von Friedas Mann. Durch ihn wurde Hauptmann bei Friedas Eltern eingeladen; und Friedas Vater gab ihm einen Hinweis, den er in „Einsame Menschen“ benutzte. Vielleicht diente eine Broschüre von Friedas Vater auch als Anregung für „Florian Geyer.“

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  3. Es gibt ein berühmtes Foto. IM „LÖWEN“ IN BENDLIKON IM AUGUST 1893. FERDINAND SIMON, FRIEDA SIMON GEB. BEBEL, CLARA ZETKIN, FRIEDRICH ENGELS, JULIE BEBEL, AUGUST BEBEL, SOHN UND FRAU VON BERNSTEIN, GANZ RECHTS EDUARD BERNSTEIN. Gemütlich in einem Gartenlokal. Doch die Idylle täuscht.

    Im August 1893 fand in Zürich ein Internationaler Sozialistischer Arbeiterkongress statt. Der „Friedrichshagener“ Bernhard Kampffmeyer berichtete: Schon vor Beginn wurden zehn deutsche Unabhängige ausgeschlossen. »Es wurde nun von den Anarchisten ein Nebenkongreß veranstaltet, dessen Sitzungen abends stattfanden, um so den Delegirten des anderen Kongresses Gelegenheit zur Theilnahme zu bieten. Den Berathungen wohnten neben den Ausgeschlossenen regelmäßig die holländischen Delegierten, ein Theil der französischen und mehrere englische Delegirte bei. Jedermann hatte Zutritt (…). Zu dem Punkt der Tagesordnung ›unsere Stellung zum Kriege‹ schloß man sich der vom anderen Kongresse verworfenen Nieuwenhuischen Resolution an, die für den Fall eines Krieges den allgemeinen Militärstrike fordert.«

    Ich hatte immer die gedacht, Bebel hätte wie Jean Jaurès 1914 protestiert. Aber das ist ein Irrtum

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  4. Die Sektiererei der SPD fand ich schon in der 8. Klasse sterbenslangweilig. Und mit Zobeltitz‘ Buch hatse ja nu ooch nüschd zu tun.
    “Die frühe SPD? Ein paar bärtige Herren mit viel Redebedarf.“
    Zitat von Gott weiß woher.
    Dem schließe ich mich an.

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  5. „Die Tante aus Sparta“ erschien 1901 in „Engelhorns allgemeiner Romanbibliothek.“ Offenbar wurden die Bändchen immer neu aufgelegt. Mein Exemplar ist wie neu. Auf der Innenseite ist ein Aufkleber: „Neuer Preis vom 1. August 1918 an M. 1,50.“ – Im ersten Kapitel erreichen zwei Reiter ein verwunschenes Schloss. Von Efeu überwucherte gewaltige Mauern. Leere Fensterhöhlen. Dem Mittelbau fehlt das Dach. Aber auf dem rechten Flügel noch ein halbwegs intaktes Wohnhaus. In dem Raum, wo der Prinz einquartiert wird, steht ein zierliches kleines Nähtischchen mit einer unterbrochenen Arbeit, das man offenbar vergaß, rauszunehmen, als man den Raum für ihn einrichte. Ich las das am Ende eines anstrengenden Tages und schlief danach mit angenehmen Träumen ein.

    „Die Tante aus Sparta“ ist ansonsten einigermaßen belanglos. (Ein wenig erinnert sie an „Königliche Hoheit“ von Thomasmann). „Des Lebens Enge“ (1906) von denselben Hanns von Zobeltitz ist da schon ein anderes Kaliber. Der Autor hat sich große Mühe gegeben, mit den Fragen der Zeit mitzuhalten. Er hat angestrengt nachgedacht und weiß kluge Dinge zu sagen. Vielleicht hätte das Buch Sensation gemacht, wenn es 15 Jahre früher erschienen wäre.

    Das kann uns heutige Leser egal sein. Zobeltitz‘ Buch ist eine in eine Geschichte verpackte Überlegung zur „Frauenfrage“. Spielhagen IST der Mann von 50 Jahren, der sich in die junge Erna verliebt. Spielhagen begehrt Klothilde. Er schreibt mit Blut, Angstschweiß und noch ganz anderen Körperflüssigkeiten. Zobeltitz schreibt mit ordentlicher Tinte.

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    • Ich wollt‘ schon nachfragen, wo DEIN Statement bleibt.
      Und diesmal sogar najezu Übereinstimmung!
      Staun.
      Tipp: Zobeltitz “aus dem knödelländchen“; seine Familiengeschichte/Autobiografie. Das erklärt auch, weshalb er so selbstbeherrscht schreibt.
      Aber doch einige Grad “heißer“ als Fontane.

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  6. Den kalten Fontane kann ich nicht unwidersprochen lassen: Fontane war neidisch, eifersüchtig rechthaberisch… war ein Hasser ohne gleichen. Er spielte den Hungerleider und strafte sein Gönner, die ihn protegierten, mit Undankbarkeit. Nach dem Vorbild seiner Eltern führte er einen jahrzehntelangen erbitterten Ehekrieg.
    Von dem ganzen Chaos flüchtete in die Idyllen, die er in seinen Werken malte.

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