Der ganz frühe Punk

Mal ehrlich: Der Literatur-Unterricht, den wir Boomer als Schüler über uns ergehen ließen, damals in den 70ern, war zum —- ähem.

Suboptimal halt. Auch im Osten.

Die „Unterrichtshilfen“ der Ehemaligen, Lehrerhandreichungen, stanzten die Zielvorgaben fest; im ewigen Dreischritt: „Die Schüler erkennen die Überlegenheit der Arbeiterklasse anhand von…“ usw.  Die Lehrer vermittelten es wie „(Be-)Griffe kloppen“.

Ich genoss, da zwischen 5ter und 8ter Klasse der Deutschlehrer jährlich wechselte, vier Vertreter/innen an der POS und  zwei weitere an der EOS. Macht 6 Personen beiderlei Geschlechts.

Unterschiede? Marginal.

Horden von Deutschlehrern und -innen aller Generationen palaverten uns das nach Schema F vor, wir sollten’s nachbeten. That‘s all.

Als wir den „Woyzek“ hatten, (11. Klasse), probten wir den Aufstand: Das ist doch Mist! Der hat doch’n Knall! Ist das der erste Debile der Weltliteratur? Wieso wird dieser Unfug für so „bedeutend“ gehalten?!

Wie gesagt: Wir hatten schematisch einfallslosen Unterricht genossen. Historische Ummantelung geschah stets nur dadurch, dass irgendein Schüler zu Beginn einer Stoffeinheit einen Vortrag über das jeweilige Jahrhundert hielt. 18. Jahrhundert bedeutete also: einen Vortrag über die Französische Revolution, weil nichts anderes gelehrt wurde. Das war’s. Bastille – Kopf ab, Herr König! – Jakobiner-„Volks“Herrschaft – Aus. Das sollte dann helfen, zu verstehen, weshalb die „Klassiker“ so schrieben, wie sie schrieben und weshalb der „Woyzek“ nicht pinkeln darf. Denn für’s 19. Jahrhundert auch noch einen Vortrag halten zu lassen, dafür „fehle die Zeit“: Der Stoff! Soviel Stoff bis zur Prüfung! Einfühlungsvermögen entsteht so keins. Und das war in unserer „Woyzek“-Diskussion prompt zu merken. Die Deutsch-Russisch-Lehrerin war den Tränen nahe; das brave Mädchen hatte irgendwann im Studium die Lehrplaninhalte auswendig gelernt und sagte sie seither auf. Wir waren nicht zu bewegen, „diesen Quark“ zu mögen!

Es fehlte jeder Aufhänger für uns mit 17, diesen Stoff irgendwie an irgendwas anzubinden, was wir kannten. Und das ging so weiter.

Der eigentliche Höhepunkt wurde schließlich die Behandlung von Goethes „Faust II“ in der 12. Klasse, beim nächsten Lehrer; als wir allen Ernstes „ein Lehrgespräch über Revolutionen“ aus irgendeiner Stelle da herausinterpretieren sollten. Auch Fausts letzte Worte: „Mit freiem Volk auf freiem Grunde stehen“ wurde in diese Richtung gelenkt: „Das erfüllte sich im Sozialismus! Goethe wäre heute bei uns hier zufrieden.“

War ja klar. Für’s Nachplappern gibt’s die 1!

Als ich mich darüber zuhause echauffierte, grinste Vater:

„Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, dann war Goethe das arische Dichter-Genie, das Deutschlands Vollendung ersehnte! Nun isser Kommunist. – Im nächsten System wird’s wieder anders sein. Das ändere ich nicht – und du och nich‘.“

War auch klar. Und ich war kein Pannach und kein Kunert, der da jetzt den Revoluzzer spielt, mit der Illusion im Kopf, dem Deutschlehrer beizubringen, dass Goethe ein arroganter Höfling war, der sich ganz bestimmt nicht unter die Leuna-Pelzer von heute gesetzt hätte, um sich beim Fußball gucken alkoholisch abzuschießen.

Also geht man auf sein Zimmer, schreibt vorhersehbares Zeug in Hausaufsätze oder lernt russische Partizipien oder gar „die Teilchenbewegung in der Spule“ für das Physikmonster, während NDR 2 die Debut-LP der Nina Hagen Band vorstellt:

„Ich war schwanga! Miar gings zum Kotzen! Jetz isses Zeit endlich ma aufzumotzen!“ … „Ich glotz von Ost nach West! I’kannmichdochnichentscheidn! Alles so schön bunt hiea!“… „Und Flöten! Flöten solln auf der Wiese wachsen!“

Natürlich wollten bei DER Begleitmusik weder die Partizipien noch die Spulenteilchen in meinem Hirn irgendwelchen Platz beanspruchen…

Zeitchen später behelligte man uns noch mit dem Hamlet – ich quälte ihn mir rein – und da passierte es!

Ophelia: „Ihr seit reichlich spitz heut‘ morgen!“

Hamlet: „Es kostete euch einiges Keuchen meine Spitze zu erweichen.“

Waaaaaaas? So deutlich? Von wann ist das?!

I don’t need anyone! Need no atomic gun! … No fee-a-lin‘ for anybody else!

Plötzlich hatte ich DIE Eingebung:

Finde den Punk der Vorzeit in den alten Meistern – DAS machte ihren Erfolg aus! Denen gings wie uns! Die waren -aus biografischen Gründen- auf Krawall gebürstet und hatten noch keine Gibson Les Paul!

Release all, release all!

Armee und Studium gingen dahin…

Der Junglehrer steht vor der 10. Klasse und soll „Kabale und Liebe“ unterrichten. Wir sind in den 80ern; der Spätphase des kommunistischen Absolutismus. Aber das wissen wir ja erst seit den 90ern so richtig.

Die Begeisterung der Schüler hält sich in Grenzen. Der Deutschlehrer denkt an „Woyzek“ und grinst: Er lässt die „Halten zu Gnaden Szene“ mit verteilten Rollen lesen und hakt bei DER Schlüsselstelle ein, in der der Präsident dem alten Miller arrogant ins Gesicht sagt:

„Mein Sohn wird die Dienste Seiner Tochter doch wohl stets bezahlt haben oder war ihr mit dem bloßen Verschlusse gedient?“

„Was meint der hier?“

Schweigen.

„Prämien-1 für den, der ausspricht, was der Präsident hier meint. Traut euch.“

Der Klassendepp: „Hö-hö-hö! Ficken!“

„Treffer! 1!“

„Waaaas!“ Allgemeines Augenaufreißen! Nun waren alle wach. „Sie geben dem doch jetzt nicht wirklich ne 1?!“

„Versprochen ist versprochen!“, sprach der Lehrer achselzuckend und beugt sich übers Klassenbuch.

„Echt jetz‘?!“ Der Klassendepp ist sichtlich verwirrt, aber Begeisterung macht sich auf seinem Gesicht breit. „Ich hatte noch niiiiie ne Ejns in Deutsch, ey!“

Der Lehrer setzt fort: „Wenn sich der Präsident so ausdrückt, dann wirkt das aufs Publikum wie?“

Nun wirds rege: „Volle Kanne Asozial.“…“Ordinär!“…“Fies.“

Die Klassenschönheit: „Der is och bestimmt alt und fett! Wuuuuuä!“

Ihre Banknachbarin setzt einen drauf: „Und dann haste sowas auf dir drauf liegen! Iiiiii!“

„Stimmt alles. Und ausgerechnet DER hat die Macht! Schiller ist also der Punk seiner Zeit, der keinerlei Ehrfurcht hat vor den fiesen Knochen, die zu seiner Zeit das Sagen haben. Er traut sich was! Wenn der alte Miller dann sagt: …dem zeig ich, wo der Tischler das Loch gelassen hat“ Dann meint der Miller eigentlich: „Da ist die Tür! Raus, du Arschloch!“

„Und das durfte damals auf die Bühne?“ fragte der Klassenbeste ungläubig.

„Ja. Denn das Gute war: Es verstanden -damals schon- die wenigsten. Und wenn ein Fürst schlecht gemacht wird, dann denkt der Herrscher, der im Theater sitzt: Der meint ja den Idioten in Württemberg und nicht mich.“ Und so kam das immer durch: Hier mal verboten, dort wieder erlaubt. Deutschland war ja zerstückelt in 300 Mini-Ländchen.“

Zeitchen später kam die Kammerdiener-Szene dran. (Mylady, die Fürsten-Mätresse, lehnt Schmuck ab, den ein Diener überbringt, weil er dabei erzählt, dass dafür mehrere Regimenter Landeskinder an die Engländer verkauft wurden, die immer mehr Soldaten brauchen im Krieg gegen die Amerikaner. Sie ist entsetzt. Der Diener soll ihn verkaufen und das Geld zum Wiederaufbau von niedergebrannten Häusern einer Feuersbrunst in der Stadt verwenden.)

Wir klären, was eine Mätresse ist. Jetzt hat auch der Klassenbeste Mut: „Sowas wie ne Edel-Nutte?“

„Stimmt.“ Diesmal ist die Verblüffung schon geringer. Aber das sollte sich gleich ändern.

„Aber: Wie verhält sie sich hier?“

„Anständig.“ … „Fair.“ … „Gerecht.“ … „besser als ihr Lover!“

„So. Und sie ist die Edelnutte. Was ist hier also Schillers Provokation; sein „Punk“?“

„Die Nutte ist die einzig‘ Anständige im Schloss!“ ruft diesmal der stille Dirk.

„1!“

„Ooooohr! Der Schiller is‘ne Topp-Sau und wenn wir das verstehen, gibt‘s 1en!“ Klassen-Depp bleibt Klassen-Depp.

Der Lehrer macht eine Pause.

„Da wir im Aufsatz nächste Woche nicht von „Nutten“ und „Toppsau“ schreiben können, das müsst’ich als Ausdrucksfehler anstreichen: Wie drücken wir das schöner aus?“

„Schiller is‘ – – – oberaffengeil.“ Gelächter.

„Geil. G-g-g-g-geil!“, stimmt René den Sommerhit des letzten Jahres an. Noch mal einiges Kichern. Der Lehrer winkt ab. „J.R.is geil! Aber du nich‘!“

Lacherfolg. Dann wieder zurück zum Schillerbezug:

„Andres Wort! Bissel vornehmer?!“

„Revolutionär.“ Klassenbester mit ironischer Betonung.

„Ne Nummer kleiner! Nicht so übertrieben.“

„Fortschrittlich.“

„Passt. Nehmen wir. Aber damit ihr nun nicht in jedem Satz fortschrittlich-fortschrittlich-fortschrittlich schreibt: Wortfamilie gesucht! Hausaufgabe bis morgen: 10 andere Begriffe für Fortschrittlich. Stubenreine Begriffe! Klar?!“

Es klingelte. Die Klasse ging.

Der Junglehrer dachte an „Woyzek“ – und fand sich gut.

6 Gedanken zu “Der ganz frühe Punk

  1. Am nächste Tag sind die Schüler verzweifelt: „Uns sind keine zehn anderen Begriffe für >fortschrittlich< eingefallen. Noch nicht mal einer. " Sag Du sie uns. Mein ich ernst.

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  2. … bin nicht im sgnt. Osten aufgewachsen und somit nicht dort zur Schule gegangen. Ein klasse Lehrer was ich von meinem in punkto Literatur nicht sagen kann denn der tönte sein scheinbares mit uns auf einer Augenhöhe sein indem er, so es Ihm beim Erscheinen im Klassenraum zu laut war, dominant verlautete: *Ihr haltet UNS auf!* woraufhin ich mir meist Iggy Pop in jüngsten Jahren unter lesendem Einfluss von Arthur Rimbaud in der Pause einverleibte

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