„Huuuuunaaaaa! Huuuuunaaaaa!“
Griesgrämig thront der alte weiße Mann in seiner ehemaligen Arbeitskemenate weit oben im Norden. Dort wo der Aar auf Starkstrommasten horstet und der Rote Milan sich Atzung erslalomt zwischen den Mühlen der Zeit, die da Windräder heißen. Er liest, während das Haupthaar bleicht und der Bart durch die Tischplatte wächst.
Die Trommeln donnern aus den Boxen. Sie begleiten den Lesestoff, jene Legende vom betrogenen Schmied mit dem Kindergemüt. Stiernackige Normannen, die Bartzöpfe ins Scheinwerferlicht reckend, entlocken mit muskelbepacktem Schwertarm ihren Gitarren jene Akkorde, die Wielands Frust tonal illustrieren. Kehlige Röchellaute inclusive: „Gwaaaaahrrrrr! Stirb Niiiiiidung! Stiiiiiiirb!“. Skandinavischer Deathmetal, Postmetal, Drone-Metal rührt an den Wurzeln, die hier herum vergessen sind.
Was hat denn der Bludgeon nu schon wieder?!
Antwort:
Er hat Huna gelesen. In passender musikalischer Umrahmung. „Wieland der Schmied“(Roman; 1924)
Ludwig Huna (1872-1945) ist auch so ein ehemals ganz Großer, über den die Literaturgeschichte inzwischen ganze Staublawinen blies. Sollte man ihn kennen müssen?
Ich finde: Ja!
Und gerade „in jetzig‘ Zeiten“, da die apokalyptischen Reiter traben.
Krieg, Teuerung und Seuche sind bereits da. Die Missernte wird kommen.
Wieland, der Wühlland, der Riesensohn, wählte die Selbstverzwergung und lernte dort unten, weit weg von den Fjorden Norwegens, weit unter der Erde, die Geheimnisse des Metallfindens, der Schmiedekunst für Schwerter und Geschmeide. Emporgelangt ans Tageslicht, spottete er dem Fluch der Zwerge, die wussten, dass ihre Geheimnisse nun verraten sein würden – an die Menschen, denn zur Hälfte war Wieland auch das.
Schön, stark und kenntnisreich wollte er nun in den Wolfstalen von Norge ein gar friedlich Leben führen; aber Neid ist in der Welt. König Nidung, der Neiding, lechzte nach jenem fähigen Waffenschmied und Oddrun, seine Gemahlin, die Widersprüchliche, die Probleme machende Schöne, sehnte sich nach dem Geschmeide und der männlichen Schmiedestärke.
Wieland wurde Opfer ihres Anschlages, missleitet verirrte er sich in der Welt „westwärts von Norge“ ins Reich seiner ärgsten Feinde, eben jenes Königreich Hetland von König Nidung. Die Schicksalsnornen hatten seinen Faden als zu knotenfrei empfunden und schnell so einige Knoten in die weiteren Abläufe seines Daseins hineingewoben. Die Knotenschrift der Schicksalsgöttinnen verhieß ihm nun plötzlich übel Drangsaal.
„Denn nur die Not lehrt dich zu leben! Danke der Not, die dich zwingt, über dich hinauszuwachsen!“
–
Es ist in alten Mären gar wunder vil gesayt…
Und lebenskluge Hinweise steckten in den Gesängen der Skalden, der Ur-Minnesänger der Völkerwanderungszeit.
Nidung lässt Wieland die Fußsehnen zerschneiden, damit er fluchtunfähig wird, jedoch arbeiten kann. Wieland wird sich böse rächen. Aber das dauert!
Die Waldwelt der Germanen zu Zeiten Roms war eine Welt des Kampfes. Die Völker waren jung und so benahmen sie sich ewig wie auf dem Schulhof, wo der friedliche Kluge dem kräftigen Sitzenbleiber unterliegt.
Nichts gedeiht auf Dauer.
Und mancher, der alle Gaben zu haben schien, lebt ein Leben voller Brüche in tausend Sackgassen.
Wieland; das ist der Knabe, der hoffnungsvolle Nachwuchs, der -vom Wege abgekommen- Dichter wird und sich auslachen lassen muss – bis eines Tages ihm oder seinem Werk Flügel wachsen, mit deren Hilfe er sich erheben kann über all das Erdengewürm, das neidhammelige.
Aber Wieland ist auch das Volk oder Land „das eigentlich alles hatte“, dem die Nachbarn jedoch nicht gönnten, was es sich selbst erschuf.
Die Sicht der Zeitgenossen Hunas auf den ersten Weltkrieg ist genau DIE.
Huna, der Österreicher, hin und her gerissen zwischen der gemütlicheren Lebensweise im vergreisten Kakanien des Uralt-Kaisers Franz Josef, aber gleichzeitig fasziniert von den Erfolgen „des Reiches“ da im Norden, ist empfänglich für all die romantisch anmutenden Sagen aus Urwäldern und von den rauhen Klippen Skandinaviens. Er steckt fest, als Deutscher unter all den Zwergenvölkerschaften Österreich-Ungarns. Eigentlich fühlt er sich den „Nordlandriesen“ zugehörig.
1872 geboren, Militärkadett gewesen und bereits als Leutnant unehrenhaft aus der Armee entfernt worden, (er hatte sich einem Duell verweigert, oder aber eine Streitschrift über den Unfug des Duellierens verfasst; die Quellen sind sich hierüber uneins) hadert er mit seinem nicht mehr reformierbarem Land. 1848 war es durch ein Russenheer vor dem Zusammenbruch und Auseinanderfallen geradeso bewahrt worden. Seither war es ein Gebilde im Wach-Koma. Folgerichtig erlebt er die militärische Schwäche Österreichs ab 1914; während Deutschland im Norden, nicht nur gelingt, Ostpreußen vor den Russen zu retten, sondern auch Österreich „herauszuhauen“, als die Russen an der Karpatenfront zum Durchmarsch auf Wien ansetzen.
Gorlice ist 1915 im Süden ein zweites Tannenberg, dank preußischer Waffenbrüderschaft.
Als 1918 alles zusammenbrach, da war es Huna, als ob Wieland nun ein weiteres Mal die Fußsehnen durchtrennt worden wären, damit er nicht fliehen, aber arbeiten könne, für den Sieger Frankreich.
Deutschland hatte auch nach 1918 alles, was es braucht, um erfolgreich zu sein: Fleiß, Stärke, Kenntnisse (Nobelpreise aller Art flatterten nur so herein) – aber richtungslos wie Wieland bei seiner Ankunft in Hetland stand es da:
„Was trieb dich her?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was willst du hier nun tun?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wie lange willst du bleiben?“
„Ich weiß es nicht.“
Tumb und bieder will Wieland fleißig sein. Selbstlos Wunderwerke schaffen. Sich ausnutzen lassen.
Keinen Gedanken verschwendet er an seine Zukunft.
Reparationen. Und Volksbetrug per Hyperinflation. Millionen Deutsche hatten Kriegsanleihe gezeichnet, dem Staat Geld geliehen. Da der Krieg verloren ging, bekamen sie ihre Vorkriegstausender harter Währung nun in Inflationsgeld zurück. Ende 1923: Ein Volk steht ohne Ersparnisse da. Und dankt es dem Staat mit Verachtung.
1924 erscheint Hunas Roman.
Seine Romane sind Bestseller bis 1945. Dann stirbt er 73jährig. Sein Ruhm überlebt ihn nicht. Ein Spielhagenschicksal.
Als ich nun 2022 den „Wieland“ endlich durchlas, überwältigten mich die Assoziationen.
Wie schlug dieses Buch 1924 ein? (Siehe oben)
–
Warum flocht Vater soviele Wielandvergleiche ins Alltagsgespräch ein?
„Du weißt, was du kannst; lass dich nicht zum Wieland machen!“
Als ich den Verlobungsring präsentierte:
„Bewahre den Ring! Denk an Wieland den Schmied!“ (Den ich bis dahin nicht gelesen hatte.)
Als mir mit 11 das Wachstumsrheuma dicke Füße machte:
„Kopf hoch. Wieland biste keiner. Das wird wieder.“
Usw. usf.
„Denn nur die Not lehrt dich zu leben! Danke der Not, die dich zwingt, über dich hinauszuwachsen!“
Genau DAS hatte Vater erlebt! Und der Spruch hatte sich bewahrheitet. „Von ganz unten auf“ hatte er es allen gezeigt. Mit 40 stand er besser da als alle in der Verwandtschaft!
Ich hatte den Wieland einmal mit 17 und einmal mit ungefähr 40 lesen wollen, aber wegen übergroßer Langweiligkeit des Anfangs beide Male beiseitegelegt.
Jetzt mit 62, wo nichts mehr drückt, hast du auch Zeit und Muße, dich durch ein rätselhaft lahm erzähltes Buch zu fräsen, um das Geheimnis der Saga zu ergründen. Deathmetal als Gleitmittel machts möglich!
Huna machts dem Leser nicht leicht. Die ersten 150 Seiten schaffst du, weil du es um dich donnern lässt. All die Frühzeitbezeichnungen für Götter, Halbgötter, Nornen und Alben, die Vorstellungswelt aus Yggdrasil und Midgardschlange machen dir zu schaffen. Und es ist wirklich wenig los soweit. Dann aber überschlägt sich die Handlung. Dialoge werden nötig, der Turn wird lesbarer, sogar spannend, spart auch eine ziemlich anschauliche Barbarenerotik nicht aus.
Beeindruckend, wie sich ein Autor aus vergleichsweise scheintotem Bodensatz so dermaßen emporschrauben kann, in seiner Erzählweise.
Am Ende pfuscht er wie Raabe in seiner „Hergotts Kanzlei“. Auch Huna scheint ganz plötzlich fertig werden zu wollen. Wieland ist durch Albenzauber an Botlinde, die zahme Tochter Nidungs gebunden und sie an ihn. Jedoch sind Vater und Stiefmutter gegen diese Verbindung. Die Sage verlangt jedoch die Vergewaltigung der Botlinde durch Wieland. Um Wieland im positiven Licht belassen zu können, muss sich Botlinde also von der zarten Fee in irgendwas Böses wandeln – und das geschieht bei Huna verunglückt abrupt. Von jetzt auf gleich ist sie „die Tochter ihres Vaters“, die mitleidlose, arrogante Kuh. Barbarin eben.
Aber zurück zur Lesewirkung im Wandel der Zeiten:
Wie fühlte sich das an, den „Wieland“ 1943 als Frontausgabe im Tornister zu haben? All die wehrpflichtigen jungen Männer, die 1943 noch übrig waren; die man von der Schulbank lockte, oder aus dem Hörsaal zwang „zu den Fahnen zu eilen“, und die sich in Russland die Zehen abgefroren hatten – sahen die sich als Wielande? Hatte Kuhlenkampff ihn gelesen?
Du hockst im Unterstand vor Charkow. Die Artillerie rumst in der Ferne und du liest, wie der Skalde Thorrolf Ragnarök (das Weltende) beschreibt in König Nidungs Halle:
Wie der Himmel einstürzt, die Berge bersten, nicht Eicheln- sondern Eichen fliegen…
Du hast das alles schon erlebt. Auf dem Vormarsch und nun auf dem Rückzug. Du wolltest nie in russischer Steppe siedeln. Wozu dieser Wiking, der nichts bringt? Wie kannst du dich aus DIESER Drangsaal davonmachen?
Überlaufen? Die Russen erschlagen dich!
Desertieren? Strafbattaillon. Vorwärts marsch ins nächste Minenfeld!
Sich selbst verstümmeln? Standrechtliche Erschießung bei Nachweis.
Man müsste fliegen können, wie Wieland am Schluss. Oder war sein Flug auch nur einer ins Jenseits?
–
Wie fühlte sich das an, wenn du 1954 unter Tage Kohle oder Erze förderst und den Wieland kanntest? Wann entkommst DU dem Zwergenleben? Welche Schicksalsschläge erwarten dich anstelle König Nidungs noch? Die einen fahren bereits Auto – du noch immer Fahrrad. Wann entstehen DEINE Flügel?
„Wirtschaftlich betrachtet ist Deutschland heute ein Riese, aber politisch ein Zwerg.“ (Franz Josef Strauß, irgendwann vor 1983)
Also war die alte BRD wieder in der Wielandrolle wie jene Republik zwischen den Kriegen, die nicht leben und nicht sterben konnte? Mir deucht; jener 20er Jahre Vergleich passt besser.
Oder war eher die DDR der Wieland, der nicht zu Potte kam, weil ihm Nidung(Moskau) das Gehen unmöglich machte?
–
Und heute nun – 98 Jahre später?
Passt die Sage eher auf Putins Russland, das einst auf den Westen zuging, jedoch von dort ausgenutzt, schließlich um sich schlägt?
(Nidung versprach Wieland Botlinde zur Frau, aber er trickste und hielt nicht Wort. Es waren schöne, Hoffnung machende Reden, so lieferte Wieland fleißig, was man von ihm verlangte.)
Oder passt sie auf die Ukraine, die „etwas konnte“, was Nidungs Leuten (in diesem Falle Putin) nie gelang, nämlich demokratische Ansätze zu schmieden, die (noch lange nicht perfekt) besser waren, als diejenigen, die man am Hofe Nidungs zu schmieden versuchte; weshalb ihr nun die Fußsehnen durchtrennt werden sollen?
Es steckt auch allerhand Ilja Muromez in Wieland – vom Krüppel zum Superstar.
–
Gwaaaahhhrrrr!
Es ist in alten Mären gar wunder vil gesayd…