Verehrte Geprügelte

In den 70ern des vorigen Jahrhunderts – spieln wa ma unsa methusalemisches Alta so richtig aus! – gab es Jugendfunk-Sendungen, in denen die Moderatoren noch so richtig „Freiheit“ hatten. Sie spielten da ihre Favoriten manchmal tagelang hintereinander. Musik, die nirgendwo chartete, aber -stets mit verbalen Lobeshymnen ummantelt- zu Gehör gebracht wurde.

Mitte der 70er waren das auf NDR2 z.B. Little Feat, Van Morrison und Herbie Mann; aber auch die Kometenmelodie von Kraftwerk oder gar die obskuren Bad News Reunion bekamen reichlich Airplay, weil Peter Urban dort Mitglied war. (Ja, glaubts ruhig: Genau DER Peter Urban, der seit hundert Jahren alljährlich zum ESC diesen ganzen tonalen Abraum feiert! Der hatte mal ne Band, die sich an Dylan&the Band orientierte, an den Doors und Little Feat! Unglaublich? Ich weiß!)

Und diese Moderatoren hatten auch die Freiheit, neu erschienene Alben ausführlich zu verreißen. Zur besten Sendezeit!

Wesentliche Verrisse, an die ich mich noch erinnern kann, trafen Jethro Tulls „Too Old to Rock&Roll too young to die“; Nazareths „Close enough to Rock&Roll“ und Dylans „Street legal“. Aber auch Onkel Neil war gut dabei und sogar die gepriesenen Wings und Yes bekamen zu spüren, dass sich der Wind drehte in der zweiten Hälfte der 70er.

Mit diesen Schmähungen erging es mir nun selber sehr unterschiedlich.geprü1

Jethro Tull ließen mich kalt. Ich hatte eine handvoll Tracks unterschiedlicher Alben auf meinen Kassetten, aber im Gedenken an mein Schlüsselerlebnis „Thick as a brick/Part2“ blieben die im hinteren Bereich meines Interesses. Egal.

Nazareth mochte ich. Die Hits, die man so haben musste, zu der Zeit, hatte ich im Radio irgendwann erbeutet – aber, was hier nun zu Gehör gebracht wurde, das war nicht mehr das, was man von ihnen erwartete: 7 Minuten „Telegram“, gewürzt mit dem Moderatorenurteil: „Manche Bands können „komplex“ und manche nicht. geprü2Das hätten Nazareth lieber lassen sollen. Sie sind nicht Yes oder Gentle Giant.“ Ja, und DER Meinung schloss ich mich an. Auch die anderen Nummern lösten keinerlei Begehr aus. Um die Platte machte ich zukünftig einen Bogen. Als ich mir in den Nullern schließlich die „Snaz(Live)“ zulegte, war „Telegram“ der Opener und immer der zuverlässige Skip-Kandidat. Das Konzert beginnt ausgerechnet mit dieser Graupe! Also war es ja einfach, das ganze mit Track 2 starten zu lassen – und alles war gut. Vor kurzem erst landete ich bei jutuuuubh mal wieder ausgerechnet bei „Telegram“, weil mich irgendein Bildchen so eines do-it-yourself-videos angelockt hatte. Und nun schlug die Altersmilde zu! Mit 63 Jahren kann ich das nu doch noch gutfinden. Wow! Lerneffekt – oder Vertrottelung? Man weiß es nicht. (Naja, unter die Top Ten meiner Nazareth Favoriten kommt die Nummer nicht. Aber in Zukunft starte ich vermutlich meine „Snaz“ mit Track 1!)

geprü3Dylans „Street legal“ ist die Nachfolgeplatte der gepriesenen „Desire“ und enttäuschte die Herren Althippies da auf NDR2 an den Mikrophonen derb: „Er hat noch nie aus so wenig Substanz Geld gemacht.“ … „Erbärmlich.“… „Aufgeblasen.“… „Der reine Las Vegas Kitsch a la Elvis.“ – Nur hatte ich zu der Zeit bereits „Changing of the guard“ auf Kassette und mochte das SEHR! Die spielten dann „One more cup of coffee“ von der „Desire“ und hinten dran „New Pony“ um all ihre „Argumente“ zu beweisen. Naja, und wenn man die Graupe auswählt, dann überzeugt das im ersten Moment auch.

Mir gerieten später jedoch noch „True love tends to forget“ und und „Baby, please stop cryin‘“ auf Kassette bzw. (Zeitchen später) auf Band – und da ahnte ich: An dem Verriss stimmt was nicht! Als mir die Platte dann in den 80ern in Plauen ins Netz ging, hatte ich den Beweis: I’m no Hippie! Mich juckt nicht, dass er hier aus alten Fahrwassern ausbricht und neue Wege sucht: Klasse Album! Und „No time to think“ ist zwar nicht gerade die umwerfendste Komposition, aber einer seiner allerbesten Texte! Heute aktueller als Anno’78.

geprü4Auch Neil Young traf es in jener Zeit heftig: „Comes a time“ floppte regelrecht weltweit. Unbegreiflich heute – aber damals? „Jämmerlich!“… „Einfallslos“… „Hingeschludert“… „…damit klaut er Leonard Cohen die Kundschaft“.

Ich hatte „4 strong winds“ auf Band.  Bis heute einer meiner Young-Lieblingstracks! Mit gut hörbarer Nicolette Larson als Duettpartnerin. Der Prinz und die Märchenfee! Sie hätte mit auf’s Cover gehört!

the queenWunderschöne Entstehungsgeschichte, die anlässlich von Nicolettes Solo-Debut im Radio erzählt wurde: Das ganze Album ist eine Lovestory: wie sie in die Sierra fahren, wie sie da Motorrad fährt, für ihn, und zu seiner Muse wird. „…and the wind blows in her hair…“, wieviel sie dabei anhaben, weiß man nicht. „Grenzpunkt Null“ spukt im Gehirn. „Neil is happy again?!“ staunt zu jener Zeit halb Malibu. Man müsste den Hund fragen, denn nur er war dabei. („I gotta Dog his name was King, I told the dog about everything…) Die Andeutung gibt es auf der „Harvest Moon“ von ’92. Auf der sich auch „Unkown Legend“ befindet. Eine Reminiszenz an die Entstehungszeit der „Comes a time“, wie Neil Young selbst erzählte: „Nicolette holte mich damals aus einer Depression. Nun hatte sie die gleiche Hilfe nötig. Ich glaubte, wir könnten noch einmal so sein, wie damals.“ Die „Comes a time“ dagegen hält dicht. Lediglich die Songauswahl „4 strong winds“ für den Schluss spricht Bände für Eingeweihte: „Guess I’ll never find a way…“ Denn beide haben zu der Zeit einen Ring am Finger. Aber es ist nicht derselbe.

Das Album brauchte trotz dieses schönen Hintergrundes Jahrzehnte, um im Bludgy-Archiv zu landen. Zu Ostzeiten hatte die irgendwie niemand in meinem Umfeld. Und nach der Wende gab es soviel Gutes aus dem Hause Young, weil er gerade sein Super-Comeback hatte; da kam man fast nicht mit:

„Eldorado“, „Harvestmoon“, „Weld“-Live-Album, „Sleeps with angels“. Stark wie nie! Und einigen anderen Altmeistern ging es ähnlich! Das lenkte ab. Aber: Als ich jene Eloge auf Nicolette Larson für den Rockzirkus schrieb, so 2010 oder 11 herum, da war dann doch die Zeit reif für Rückbesinnung und den Kauf – und siehe: Somit hatte ich mir ein Album aufgespart, das wirkt und wirkt!

geprü5Ganz ähnlich lässt sich über Yes’ns „Drama“ (1980) schreiben. Einst verlacht und belästert. „Heißt „Drama“ und is‘ auch eins!“ und ähnliche Bonmots mehr. Anderson und Wakeman waren nicht mehr dabei. Die vermeintlichen Masterminds der Band. Stattdessen zwei der Buggels – „Video killed the radio star“. Das schreckte gehörig ab – und nicht nur mich! Das war, als wäre Chris Norman den Rolling Stones beigetreten, weil der Jagger abhanden kam! Oder Lippy singt für Renft! Da hört man also gar nicht erst hin, wenn sich mal die Gelegenheit ergibt! Ich bekam die LP in den 80ern 2x zum Aufnehmen angeboten. Hatte einmal die A-Seite gehört und darauf verzichtet.

Aber ende der 90er -zu Napsterzeiten- wurde ich von einem edlen Spender mit selbstgebrutzelten CDs bedonnert. (Das galt ja mal als arg umstritten. Ich hoffe, das ist verjährst.) Und da gab es dann eine Yes-CD voller Rudimente aller erdenklichen Veröffentlichungen und reichlich  Live-Bootlegschnipsel darunter. Hörte sich interessant- und überwiegend bekannt an. Zwischendrin gab es ein paar unbekannte Dinger: Frisch! Rockig! Die hatten so Namen wie „I am a Camera“ oder „Tempus Fugit“… und klangen halt geil. Auch live! — Tja, und die Recherche ergab, alles, was du da so neu kennenlernst, ist „Drama“-Stoff!

Ich muss Yes gut 20 Jahre Lästerei abbitten! Die „Drama“ zählt unumwunden zu den ernstzunehmenden Großwerken! Andersons Fehlen hin oder her.

Dieser Tage brachte mir die Schwägerin die „Good Times“ mit. (Ich hatte schon länger keine Musikzeitung mehr gekauft.) Darin die Titelstory „YES“. Sie rankte sich zwar um das „Wendealbum 90125, das die Geister spalte“; aber es wurden eben drumrum alle altbekannten Yes-Kamellen nochmal aufgewärmt; von einem Schreiberling, der so alt ist wie ich. Und auch den ganzen „Drama“-Spott kannte er.

Da legte ich sie mir auf, las den Text und war wieder ganz in den frühen 80ern; als ich oft bei Thomas in seiner Wohnruine in Leipzig saß, beim Sambalita-Trunk. Umgeben von reichlich Yes- und Wings-LPs malten wir uns unsre Zukunft aus – und alles kam soooo anders!

Long, long gone.

Da sind dann plötzlich Bildungsmisere und Ukraine sehr weeeeeiiit weg….

Nicht stören! Papa träumt vom „Galdn Griech“. –

8 Gedanken zu “Verehrte Geprügelte

  1. Ein immer wieder erstaunliches Phänomen. Beim Ersthören verfällt man geradezu einem Musikstück oder einer Platte und schon bald verglüht die anfängliche Begeisterung. Und natürlich passiert das auch umgekehrt.
    Irgendwas irgendwo gehört – ist ja fürchterlich. Und (viele) Jahre später entdeckt man im gleichen Stück eine Perle.
    Meinen derzeitigen Musikkonsum beurteile ich danach, ob sich die Musik noch immer bewährt. Alles andere darf weiterziehen. So wird das Archiv bestellt. Nur keine unnötigen Belastungen mehr.

    Schönen Dank an die Erinnerung an BNR. Hier stehen die ersten vier Scheiben. Dann folgte ja eine ziemlich lange Pause bis nach 2010(?). Die neueren Scheiben kenne ich nicht mehr.

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    • Soso. Die Nebensache ist die Hauptsache für dich? Die Bad News Reunion waren für mich stets Sendezeitvergeudung: Ich saß am Apparat und hoffte „Spielt John Miles! Spielt Novalis! Spielt was von den Pistols!“ … und statt dessen noch’n Peter Urban Bericht von der letzten Tour und noch’n Stück dazu und noch ne Kostprobe vom kommenden Album…. Ächz!
      Vielleicht würden die mir heute ja ansatzweise gefallen. Aber damals?! Nö. Ging nichts von denen. Klingt wie nachgemachter Dylan für Arme, klingt wie dieser nölige Van Morrison; (der mir damals auch absolut nicht gefiel, außer mit THEM.), warum singen die dauernd englisch, wenn es Deutsche sind!
      Nach der letzten Tour schnappten sich die Roadies die Instrumente und spielten als Roadie Band 3 Stücke, die irgendwer aufnahm, sodass sie ins Radio gerieten. DIE sangen deutsch – und frech die NDW vorwegnehmend. Ich hatte alle 3 Stücke aufgenommen und fand die gut. Ihr „Nutten-Tango“ blieb mir in Erinnerung.

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      • Vielleicht liegts daran, dass der NDR hier nicht zu empfangen war. Urban war mir folglich nur als Tastendrücker von BNR bekannt. Und die Band ist auch nicht erste Liga. In meinem Sammersurium gehört zur Hamburger Szene und hat einmal pro Jahr ihren Auftritt hier bei mir. Der fand heute Morgen statt mit Live im Pogo und Two Steps forward. 😉

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  2. Unglaublich, dieser Urban, oder? Bemerkenswert auch seine Podcast-Folgen zur Musik (https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4976.html). Hörenswert. Und weit weg vom ESC-Mist.
    „Street Legal“ von Dylan. Es war mein drittes Album von Dylan (nach „Blood on the tracks“ und „before the flood“). Erst irritiert und- dann mochte ich es irgendwann – bis heute. Rückwärts betrachtet „liest“ es sich auch anders. Ein Teil des großen Dylan-Kosmos.

    Danke fürs Erinnern!

    Liebe Grüße,
    Werner

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    • Hallo und ebenfalls Danke -für’s Kommentieren. Denn nur dadurch kommt bissel Unterhaltung ins System.

      Nun ja, der Urban. Da ich einer bin, der eher das Herz auf der Zunge trägt und sich bremsen muss, um mal das ein- oder andere Fettnäpfchen auszulassen, war mir der Urban immer suspekt. Vielleicht lande ich mit dieser Aussage ja bei dir auch im Fettnapf. -? – Hm., tja. Ich kann nicht anders. Es geht ja „nur“ um einen Moderator.

      Der kommt im Radio rüber, wie so ein ewiger Besserwisser, der auch in den 70ern intelligent verrissen hat – und dann erlebst du ihn beim ESC, wie er dir einreden will, dass die allerletzte Hupfdohle da angeblich eine zweite Mahelia Jackson ist!

      (Bin seit ca.10 Jahren wieder Stammgucker des ESC, weil wir da mit Freunden vor der Glotze hocken und selber moderieren; also ablästern. Denn der Herr Fernseh-Moderator lässt ja Humor und Sachverstand bei dem Event völlig im Stand by.)

      Wie kann man sich und seinen eigenen Musikgeschmack -jahrzehntelang – soooo verleugnen?

      Eigentlich müsste er bei diesen Nummern doch Lachkrämpfe kriegen, messerscharf heruntermachen, dass da eine musikalische Minimalidee für 15 Sekunden zur 3 Minutennummer wird, dass die Village People da im Grab routieren, dass der in seinen Anfängen gescheiterte Lipsi der DDR da fröhlich urständ feiert… usw.

      Ist das musikalische Toleranz oder berufliche Intellektprostitution?

      Dieses Jahr macht er das zum letzten Mal. Endlich.

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  3. Ja, die Musik und die eigenen Ohren sind seltsam.
    Einiges was uns früher grauenvoll vorkam, geächtet wurde, gefällt auf einmal im Alter und umgekehrt Frage ich mich beim Durchschauen meiner Sammlung heute ab und an, warum ich so einen Scheiss, sorry, mal Superklasse fand und gekauft habe, aber auch der Musikgeschmack liegt im Fluss…

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