Der Hungerpastor (2)

(Vorwarnung: is‘ lang geworden. Alte Männer eben. Opas die (noch)keine sind, labern halt das Internet tot.)

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Du liest ein Buch, das dich packt. Du liest schneller als sonst; schaffst gar mal wieder hundert Seiten am Tag. Das ist lange nicht mehr vorgekommen! Kurz vor Schluss ahnst du zwar bereits, was jetzt noch kommt, aber egal. Als es eintritt, wie vermutet, ist es trotzdem nicht langweilig, die letzten 40 Seiten zu schaffen, da auch sie mit tiefgründigen Lebensweisheiten gespickt sind. Und so einige Triggerbegriffe jagen dich ein weiteres Mal „in deine eigenen Anfänge“, weil die Situation des Hilfspredigers Unwirrsch da in Hinterpommern an die des Absolventen in der Niederlausitz erinnert. – Dann ist es vorbei. Letzte Seite. Durch!

Du klappst das Buch zu. Die Begleitmusik läuft noch. Du starrst auf einen Fleck und lauschst den Stimmen der Jahrzehnte, die du hinter dir hast und die nun alle durcheinander quaken.

Versuch es zu ordnen, los!

1. Das Allgemeine

Der Roman durchläuft 3 Etappen:

  1. a) Unwirrschs Jugend bis Studienende; (1820- ca. 44)
  2. b) Unwirrschs  Hauslehreranstellungen; (1844-1847)
  3. c) Unwirrsch in Grunzenow. (1847-48)

Anspruchsvolle Romane gaben sich damals den Anschein der Überregionalität dadurch, dass allzu genaue Ortsangaben vermieden wurden, damit so das beschriebene ÜBERALL hätte sein können. Bloß kein Lokalschriftsteller werden!

Das verursacht dann aber das Problem, dass keine Figur so richtig Mundart sprechen kann, da diese ja ein Hinweis gewesen wäre. Somit erfindet Raabe für alle seine Käuze, die den Roman bevölkern, so ein Phantasie-Idiom, in dem gern „mir und mich“ verwechselt wird, „als wie“ straflos vorkommt und Fremdwörter mit volkstümlich falschen Schreibweisen und -Endungen den Bildungsstand erkennbar werden lassen – damals – in unbelesener Zeit; ab 1820 aufwärts.

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1a) Unwirrschs und Freudensteins Jugend (1820 – 1843/44 ungefähr)

Der eine und der andere, wie Anton Wohlfahrt und Veitel Itzig! Gustav Freytags „Soll und Haben“ war 10 Jahre vorher da. Und es war ein Literatur-Hit aus dem Stand! 1855 war das der erste Roman, der als „realistisch“ galt und der mit seinen 900 Seiten auch eine gerade noch fassliche Form hatte. Karl Gutzkow hatte zwar ähnliches vor, jedoch seine „Ritter vom Geiste“ gerieten uferlos. In „Soll und Haben“ hatte Freytag diese Konstellation erfunden: Der Bürger und der Jude; auf unterschiedlichen Werdegängen. Sprechende Namen, die eine volle Charakteristik sind. Kantenlos holdselig der eine, hinterlistig bös der andere. Das Bürgertum 1855 tröstete sich über die Pleite von 1848 hinweg, gewann in Wohlfahrt einen neuen Helden des puren ökonomischen Fleißes. Das Buch stand 1864 bereits in jedem Bücherschrank, so man sich einen leisten konnte. Der Freytag-Hype als neuer „Dichterfürst“ auf dem verwaisten Goethe-Thron, war wohl Hauptinspiration für Raabe, es ihm gleich zu tun, bzw. es sogar besser machen zu wollen. Denn bei Lichte besehen ist „Soll und Haben“ eine ziemlich dröge Angelegenheit. Zusätzlich gab es seit 1862 bereits „Die Problematischen Naturen“ des Newcomers Spielhagen – und auch der wurde dafür bereits gefeiert.

Bucherfolge jener Zeit muss man sich wie Smash-Hits in den 1960ern und 70ern vorstellen. In radioloser Zeit, waren sie DIE Kulturereignisse, die besprochen wurden.

Und nun erlebten die belesenen Kreise da 1864 ihren Beatles oder Stones Moment: Freytag oder Raabe. (Und abseits grinste das dritte Lager: Weder noch, sondern Spielhagen, also The Who jener Zeit.)

Freytag und Raabe sind in heutiger Zeit in Verruf geraten: Antisemitismus; finden aber auch (noch) Verteidiger. Ich spare diese Problematik für „Hungerpastor 3“ auf.

„Soll und Haben“ enthält eine feinsinnigere Intrige, die der Böse einfädelt und der Gute aufdröseln muss. Aber Freytag lässt sich eben auch 900 Seiten Zeit. (Tipp an den Vielleser: Diesmal hab ich nachgesehen!)

„Der Hungerpastor“ bringt es in meiner 1912er Ausgabe auf 397 Seiten. Raabe kommt also schneller zu Potte. Der Konflikt kommt hier simpler daher, aber dafür wird Elend realistischer beschrieben als bei Freytag!

nap7Anton Wohlfahrt trifft auf Veitel in einem Gutsherrenpark; quasi in einem Paradies, das später den Zankapfel abgeben wird. Beide sind auf Wanderschaft in ihre jeweiligen Lehrverhältnisse. Es steckt also etwas Biblisches in diesem Romanbeginn: Veitel provoziert mit der Frage: „Das alles könnte dir gehören! Soll ich es dir beschaffen?“ Veitel als Schlange bzw. als Mephisto. Bibel und Goethe.

Hans Unwirrsch und Moses lernen wir gleich bei ihrer auf den Tag gleichzeitigen Geburt in der Kröppelgasse einer Stadt, die Neustadt heißt, kennen. Sie kommen aber erst im Alter von ca 10 Jahren zusammen und bleiben Freunde mit gemeinsamem Lebensweg bis sie 24 sind.

Die sprechenden Namen sind hier seitenverkehrt verwendet. Jeder hat das, was dem andern fehlt. Zusammen wären sie EINER; wenn man so will.

Auch Oheim Grünebaum ist eher schon morsch – oder, als alter Junggeselle, ewig unreif. Die Base Schlotterbeck schlottert nie! Sie ist die Mutter Courage der Kröppelgasse.

Raabe bebildert hier: Lern die Menschen kennen, jenseits des ersten Eindrucks!

Wenn Freytag die Bibel bemüht, so bedient sich Raabe einer anderen bekannten Anmutung: Unwirrsch wird einem alten Vater „nach langem Sehnen nun endlich doch noch“ geboren.

Ein Schelm, wer an Dornröschen denkt! Hundert Jahre schlafen muss der kleine Hans zwar nicht, aber er hat schon auch einen langen Weg als Schnarchsack vor sich, ehe er „erwacht“.

In beiden Romanen sind die positiven Helden jedoch seltsam asexuelle Streber. Am Gymnasium keine Streiche. Im Studium keine Feten. Da wird nur ganz kurz mal für eine Fee geschwärmt und ansonsten wird GEARBEITET und geschlafen. No Sex till 30! Prüde. Verkniffen.  Hier wirkt Raabe wieder sehr autistisch. Er scheint das nicht zu kennen. Im Roman von den „Leuten aus dem Walde“ war das genauso.

„Die Zeit!“ könnte man denken. Aber Heyse schrieb zeitgleich seine frühen Novellen vom „Bild der Mutter“, vom „Grafenschloss“! Was da alles ging!

Auch Spielhagens Hauptfiguren unterliegen Hormonstürmen im passenden Alter!

Freytag und Raabe sind elende Spießer.

1b) Unwirrschs Lehrjahre als Hauslehrer ( ca.1844-47)

Um 1864 sind Märchen „IN“.  Inzwischen nicht nur die Grimm’schen, der Erziehung wegen, sondern sogar die aus „1001er Nacht“, wegen der Exotik.

Die Gebrüder Grimm haben ihre Hausmärchensammlung zwar bereits 30 Jahre vorher auf dem Markt, aber erst um 1860 beginnen die belesenen hundert Jahre; das Lektüre-Zeitalter: Als Analphabetismus schwand, Massenauflagen ungeahnte Buchumsätze ermöglichten; das literarische Niveau wuchs, Bestsellerautoren von ihnen großbürgerlich leben konnten, ohne nebenbei noch Zeitungen herauszugeben oder irgendwo lehren zu müssen. Raabe gehörte nie dazu. Seine Verhältnisse blieben – bescheiden. Vornehm ausgedrückt.

Er verwendet hier deutlich erkennbar den Drei-Schritt, den viele Märchen kennen:

Drei Anstellungen muss Unwirrsch „erdulden“, bevor er „erhöht“ wird.

Drei Brüder Götz spielen eine Rolle in seinem Leben. Wie die 3 Müllerssöhne im „Gestiefelten Kater oder in „Tischlein deck dich!“ Und immer ist der Loser der eigentliche Gewinner; und der, der alles hat, höchstens zu bemitleiden, wenn nicht gar zu hassen.

Rudolf Götz, der älteste von den dreien, ist ein heimatloser Waterloo-Veteran, der Loser, der dreimal Glück bringt; er tritt als erster auf und der Name ist Programm und Goetheanklang: Die Welt kann ihn am Arsch lecken.

Theodor Götz, der mittlere Bruder, zu kränklich für die Befreiungskriege, macht Bürokratenkarriere, wird Steuer-Rath, heiratet Wohlstand, aber ist unfähig in seiner traumhaft schönen Villa ein harmonisches Familiendasein zu erzeugen. Er ist zum Götzen-Dienst verdammt. Denn er ist an eine „böse Königin“ geraten, unter deren Fuchtel er steht. Frau Götz, geborene von Lichtenhahn, hasst ihren Mann und sich für diese Mesalliance, gibt sich bigott-arrogant und „selbstverständlich makellos“, macht jedem Hauslehrer das Leben zur Hölle, da diese nicht in der Lage sind, unter ihrer Aufsicht das verzogene Miststück von Söhnlein zu beschulen. Raabe beschreibt eine Helikoptermutter – als es noch gar keine Helikopter gab!

Felix Götz, der jüngste von den dreien, geistert nur als Toter durch den Roman. Wichtig ist sein „Überbleibsel“, die Tochter Franziska. Wie man sofort richtig ahnt: Die zukünftige Frau Unwirrsch. Felix Götz ist mit 17 von der Schule weggerannt, um sich den Frei-Corps anzuschließen. 1813-15 kämpft er romantisch schwärmerisch beseelt von Freiheit und Vaterlandsidee und wird enttäuscht. Er findet nicht zurück in zivile Verhältnisse. Ein weiterer Götz von Berlichingen: „Bürger-Karriere? Leck mich!“ Die Todesumstände lässt Raabe im „Ungefähren“, streut aber Andeutungen, sodass der Leser wählen kann, woran er glauben will: Duell? Suff? Syphilis? Die typischen Probleme der „Rock-Stars“ jener Zeit.

Gleich zwei Brüder also Befreiungskrieger, hinzu kommen noch Oberst von Bullau, Feldprediger Josias Tillenius und der Stammtisch der „Neuntöter“, allesamt Waterloo-Veteranen, und an der Katzbach dabei, und bei Leipzig und Paris…

DAS ist die eigentliche Sensation, für die man den „Hungerpastor“ feiern sollte; denn:

Raabe bohrt hier in einer Wunde des öffentlichen Bewusstseins. 1864. Das liegt knapp vor 1871. Der Roman entsteht in dem Jahr, indem der Deutsche Bund durch den Deutsch-Dänischen Krieg seinen Todesstoß erhält. Der Norddeutsche Bund wird entstehen und zwei weitere Kriege werden folgen. 1871 ist die Einheit endlich da und all die Helden von 1813-15 sind dann auch endlich medial „IN“. Von 1815 bis 1871 wurden sie totgeschwiegen.

nap5

Wellington und Blücher bei Waterloo – NICHT ABBA!

Zwar durfte der eine oder andere literarische Text über das Thema Napoleon gedruckt werden, aber offizielle Anerkennung; Jubiläum 50 Jahre Völkerschlacht 1863? Undenkbar!

Und so wurde es 1864 eben Zeit für dieses Buch!

1815 ist dem Hochadel voll bewusst, wie sehr er zuvor versagt hat. Er zitterte, er zauderte nach der Russlandpleite, er wollte das Volk zwingen, ruhig zu bleiben und weiterhin zum Rheinbund zu halten, aber die Erhebung lief bereits: Blücher, Scharnhorst, Tauenzien, schlugen bereits los. Gerade noch rechtzeitig hinkte König Friedrich Wilhelm III mit seinem Aufruf dem Zeitgeist hinterher. Der Mecklenburger in Schwerin tat es ihm nach. Jetzt war Napoleon schwach! Jetzt geht was!

Raabe 5c

Der Rückzug aus Russland 1812/13 – also nicht Hitler!

Napoleon hatte die Fürsten von Bayern und Württemberg zu Königen ernannt, die zitterten um ihren Titel und vor dem Volk. Sie schickten Napoleon erneut Truppen. In der Völkerschlacht bei Leipzig liefen sie über. Sachsen ebenso.

Der damals neue Nationalismus, der KEIN Nationalsozialismus war, hatte die alten Privilegien des Absolutismus gefährdet.

Der Wiener Kongress rückte die alten Strukturen wieder grade.

Niemals sollte an die Stunde der Schmach der Regierenden erinnert werden! Die vornapoleonischen Zustände sollten (soweit wie’s geht) wiederhergestellt werden. Restauration!

Keine Jubelfeiern aus Anlass irgendeines Schlacht-Jubiläums!

Keine Blücher-Denkmäler!

Keine Straßennamen nach Schill, Hofer, Lützow!

Biedermeier! Schnauze halten! Für fast 60 Jahre!

Studenten radikalisieren sich und werden gejagt. Die übrigen Untertanen ziehen die Michelmütze tiefer über die Ohren und üben sich im „unpolitisch Sein“.

Und Raabe scheißt auf das Tabu!

Er lässt die Kämpfer auftreten, als alte Herren, untergekommen in allen möglichen Berufen.

Liebenswerte Leute; bissel kauzig; und versoffen. Sie treffen sich in der Kneipe zum Grünen Baum als „Neuntöter“ zum Stammtisch. Den Namen gaben sie sich, weil als Gesetz gilt: Ein jeder darf in seinem allabendlichen Kriegerlatein nur 9 Leichen haben. Ansonsten muss er Strafrunden schmeißen.

(Außerdem passt der Name Neuntöter auch, weil es da einen Singvogel gleichen Namens gibt, der seine Insekten und Würmer auf Brombeerheckendornen spießt. Aber kaum einer hat sowas je in freier Wildbahn mal gesehen! Wie auch all die Freiheitskämpfer – Raabe stellt hier „Vögel“ vor, die keiner kennt.)

Wie antwortet der Wirt vom Grünen Baum dem Leutnant Götz bei Betreten des Restaurants auf dessen Frage:

„Neuntöter da?“

„Jeder Vogel auf seinem Ast!“

Die drei Götz-Brüder haben noch andere Spuren hinterlassen:

1868 veröffentlicht Spielhagen seinen vierten großen Zeitroman. „Hammer und Amboss“.

Auch dies ein Entwicklungsroman, in dem ein gewisser Georg Hartwig durch viele Stationen muss, um solides Glück zu finden. (Spielhagens Georg kommt ohne Juden als Konterpart aus.)

Aber auch ihm begegnen im Laufe der Zeit drei Brüder, die Einfluss auf ihn nehmen. Allerdings sind sie adlig und ihre Einflüsse sind deutlich andere. Der älteste ist der beeindruckende Individualist, das falsche Idol, weshalb Hartwig ins Gefängnis kommt. Der jüngste Bruder ist dort Gefängnisdirektor und ein Tugendbold; der mittlere ist -wie bei Raabe- der langweilige Bürokrat, der obendrein hier auch noch Zinker ist und seinen älteren Bruder verrät, obwohl dieser ihm seinen sündhaft teuren Lebensunterhalt finanziert.

Raabe hat sich oft neidhammelig sauer über Spielhagen geäußert, sicherlich, weil dieser hatte, was Raabe zeitlebens fehlte: Ruhm und Wohlstand! Aber eventuell, weil er sich obendrein „beklaut“ fühlte.

1c) Grunzenow und Happyend (1847/48; weltabgeschieden, ohne Revolution)

In diesem letzten Drittel wird es so märchenhaft, dass Raabe selbst diesen Begriff ehrlicherweise mehrfach einschiebt. Für damalige Verhältnisse ist Grunzenow in Hinterpommern von Berlin aus noch so „märchenhaft“ weit weg, wie Kalifornien in seinem vorangegangenen Roman über „Die Leute aus dem Walde“. Eindrucksvoll wird die Umständlichkeit des Reisens 1845 geschildert.

Raabe schmeißt auch märchenhafterweise mit lauter friesisch-dänischen Fischernamen um sich: Johannsen, Klaasen, Petersen. Niemand heißt hier Pebelow oder Pryczibylski! Und Oberst von Bullau, ein alter rüstiger Mini-Blücher, spricht „da oben“ als alteingesessener Gutsherr einen Dialekt, der eher Machdeborgisch anmutet. Kein Fischi-Deutsch. Vermutlich sind ihm die gerade genannten Fehler wirklich durch Unwissenheit passiert und nicht durch bewusste „Überregional-Machung“.

Oberst von Bullau und winters auch Leutnant Götz hausen also in ihrer Junggesellen-Burg mit rein männlicher Dienerschaft. In dieser Karikatur eines Gutshauses wohnen somit alle guten Geister, die es braucht, um Unwirrsch und Franziska endlich zu verkuppeln. Und die Neuntöter geben helfende Tipps.

Hier treibt Raabe seine Heldenverehrung für die totgeschwiegenen Schutzgeister Deutschlands auf die Spitze: DIE und nur DIE richten, was verbogen ist! Ohne diese alten Herren – keine Chance auf Glück für Unwirrsch und Franziska!

Last but not least hab ich mir das Folgende für den Schluss aufgehoben:

Wieder 10 Jahre später wird sich ein anderer Autor den Raabe zunutze machen, wie einst Raabe den Freytag:

Ein erster Verdacht war mir bereits gekommen, als Raabe Hansens Oheim Grünebaum in gar seltsamem Outfit auf den Abiturienten Hans warten ließ, aber dann:

nap1Diese Waterloo-Veteranen… Das ist das Figurenensemble der Herren von Greifenklau! Oheim Grünebaum ist eine Mischung aus Sam Hawkins und Tante Droll. Auch Namen wie diesen hat sich Karl May bei Raabe abgeguckt. Als Trapper Geierschnabel nach Deutschland reist und sich zivilisiert gewanden muss – ist er eine weitere Grünebaum-Variante.

Und: May guckt sich auch die Art der Elendsschilderung hier ab. Oft aus Kinderperspektive erzählt, damit man Dinge sagen kann, die sonst Probleme bekommen hätten, in gut bürgerlichen Familienblättern gedruckt zu werden. In ein bissel Kitsch verpackte drastische soziale Anklage!

– Raabes „Leute aus dem Wald“ – da ist das idyllische Försterhaus, aber nur eine Bettstatt für 7 Kinder; mit Waldlaub statt Bettzeug. Und 5 von 7 sterben darin ohne ärztliche Hilfe. Weil der treue Förster fleißig ist, aber nichts verdient.

– Raabes Hans Unwirrsch als Sohn eines fleißigen, sparsamen Schusters hat ein kleines bisschen Startkapital fürs Gymnasium, muss aber betteln gehen für ein Stipendium, damit es reicht. Als er arm und dürftig gekleidet beim Herrn Assessor Dank sagen will für bewilligte Förderung, sieht er dessen Villa und dessen Töchter, wie sie in ihren langen Kleidern zu schweben scheinen, wie sie kichern. Er ist verblüfft. Geschockt. Verdaddert. Diesen Lebensstandard kennt man in seiner Kröppelgasse nicht! Als er seinem Freund Moses von diesem märchenhaft schönen Eindruck erzählt, erdet der ihn umgehend:

„Man hat dir eine Tür geöffnet und eine neue Welt gezeigt. Aber niemand rief: Herein!“

Und Raabe selbst ergänzt später:

„Es gibt allzeit fleißige Menschen, denen es vergönnt ist, aufzusteigen. Da, wo sie herkommen, werden sie verehrt. Aber da, wo sie ankommen, sieht man lediglich die Herkunft.“

Mays „Sklaven der Arbeit“, das „Buschgespenst“ und einige der Erzgebirg-Geschichten hauen in die gleiche Kerbe.

May wird ab 1875 bekannt und er hatte zuvor im Knast viel Zeit zum Lesen!

Raabes Zitat von der „lediglichen Herkunft des Emporkömmlings“ wird sich an ihm besonders bitter bewahrheiten.

Aber Raabes „Hungerpastor“ half ihm seine Käuze zu erfinden, denen ein hundertjähriger Erfolg beschieden war.

Alles hängt mit allem zusammen.

(Auch wenn es vergeblich ist:) Entdeckt die Alten neu!

Abu Alkalam

oder:  Der Vater der Worte

oder: Karl May (VI)

Der Vater der Worte ist ein Leben lang auf den Spuren des Siddih unterwegs. Wo immer Karl May einst weilte, da weilte auch er – rund 100 Jahre später. Oder einer seiner Mitstreiter vom kleinen feinen Club „Karl May in Leipzig“.

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Er weiß, wann welche Magd den Meister einst verklagte; mit welcher ihm Kinderzeugung unterstellt wurde, warum dies aber nicht sein kann –

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und dass er, der sich phasenweise für Old Shatterhand hielt, privat nur kleine Hunde hatte.

Als einer dieser Dackel spitzbekam, wie man, per Dampfer über die Elbe kommt, wenn auf der anderen Flussseite eine Dackeldame heiß ist, soll jener tollkühne Rattler doch tatsächlich sich daheim fortgestohlen haben, hin zur Anlegestelle. Bei Anlegen des Schiffes sei er dann eigenpfotig und ohne Herrchen an Bord gegangen – aber vom Kapitän erkannt worden. Am anderen Ufer stieg er zielbewusst aus, verlustierte sich einen Tag lang – und beim abendlichen Anlegen der Fähre gings zurück zum Futterschüsselchen im Hause Old Shatterhands, das damals noch in Dresden stand, da das Radebeuler Domizil noch nicht gefunden war.

Diese und andere Geschichten erzählte Abu Alkalams Zeitschrift Club-Mitgliedern und Gleichgesinnten seit rund 30 Jahren. Was Mühe macht in der Akquise immer neuer Episoden und Legenden über den Radebeuler Alleskönner, der uns einst mit Pulverdampf und Lagerfeuergefahren versorgte, um Pioniernachmittage, verbracht bei dröger Bastelei und FDJ-Studienjahre vergessen zu helfen.

So begab sich der Abu an all die Orte, in denen Werke und Artikel des Meisters entstanden waren, in Archive, in denen noch immer die vielen Prozess-Akten schlummern, auf die Friedhöfe an die Gräber der Lehrer und Freunde des kleinen Großen und-und-und…

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Als er – inshallah! – das In-dher-nedd durchquerte, gewahrte er eine Oase in der Reisende bei ihrer Rast alles das erzählen konnten, was zu Hause nicht mal ihr Friseur hätte hören wollen. Der Serdar dort, Bladd Sch’nn Walidu Alshaku, der Vater des Zweifels, brachte selbst den Zuhörern allerhand Kurioses über die Bücher Kara Ben Nemsis zu Gehör, so dass der Vater der Worte beschloss, eine dieser Geschichten daheim in sein Blatt aufzunehmen; denn trotz der großen räumlichen Entfernung erschien ihm jener Bladd Sch‘nn abn tabib mashia als ein irgendwie entfernter Bruder im Geiste.

Bild (25)

So kam es, dass im September’20 wiederum ein Heft den Weg an die Krippen und Kamine der letzten aufrechten „edlen Wilden von ehemals“ seinen Weg fand. Voller Recherchen und Geschichten aus einer Zeit, da in Germanistan noch die Germanistanis lebten und im Orient die Wüstensöhne mit ihren Harems; da man unbeglotzt Indianerspiele betrieb, und noch keine alte Helikopter-Squaw dazwischenzankte, weil wir lieber schossen, statt uns beim Zwangs-Crepes-Backen und Mandala malen ihr verquastes Maharishi-Hippie-Geseier anzuhören und die Abenteuerlust austreiben zu lassen. Howgh!

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Salam Aleikum!

Winnetou reloaded(Karl May V)

Experiment gelungen. Die TV-Sensation 2016 ist perfekt. Auch der 3. Teil hält Wort!

Er beginnt zunächst mit einer recht platten Darstellung einer Familien-Idylle des frisch verheirateten Old Shatterhand, der eine Ranch gegründet hat und eine Scheune bauen lassen will. Dazu wirbt er 3 polnische Zimmerleute an, die erst ihre Vorurteile gegen Indianer ablegen müssen, was dadurch geschieht, dass Shatterhand sie darauf hinweist, dass er aus Sachsen kommt „an der Grenze“ und man dort davor gewarnt wird, nach Polen zu fahren „in das Land der Diebe“.

Dies sind nicht die antipolnischen Klischees des May’schen Jahrhunderts, in dem obendrein Sachsen gar keine Grenze zu Polen hatte. Wer Lust hat, konnte also wieder allerhand dechiffrieren.

Santer jr. und Santer sen. – zwei Schurken mit Macht, die nicht viel voneinander halten. Wer den Spielfilm über George W. Bush gesehen hat, weiß, worauf das anspielt. Auch dass Santer jr. einen (Indianer-)Erdöl-Krieg auslöst, der ihm letztlich nichts bringt, ist mehr als nur ein Hinweis auf Zeitkritik.

Aber der Oberschuft (Santer, der jüngere)ist diesmal der facettenreichste Schurke. Eine klare Steigerung von Film zu Film.

Er ist zunächst ein Künstler ohne Fortune, wie Hitler und Goebbels welche waren, der deshalb das Metier wechselt. Da er geschäftlich ebenfalls nicht zu Reichtum kommt, geht er über Leichen(Tod des Pokerspielgewinners) und betreibt Politik auf eigene Faust(Anwerbung seiner Killertruppe)

„Ich brauche skrupellose Killer! Männer, die keine Hemmungen haben! Männer, die schießen ohne Fragen zu stellen! Es wird sich lohnen! Ich mach euch reich!“

Nach jedem Satz gibt es Jubel in der Kneipe.

„Und jeder von euch muss glühender Verehrer von Richard Wagner sein!“

Der Jubel bricht ab.

„Ein Scherz. Nur ein Scherz!“

Und eine überdeutliche Anspielung auf Hitler und Himmler mit ihren Kult-Fimmeln, die sie allzu gern ihren Paladinen von SA und SS eingetrichtert hätten, was sich als nicht machbar erwies.

Wer diesen Schlüssel zu den tieferliegenden Botschaften fand und nun erwartet, dass lediglich die 12 Gröfaz-Jahre Pate standen für einen Bilderreigen entstehender Völkerverständigung nach großer Katastrophe, irrt, denn meisterhaft geben sich hier Anspielungen des Stalingrad- und Irakkriegzeitalters die Hand.

Der Film ist eine sehr gelungene Allegorie auf die Zweigesichtigkeit des Menschen geworden. Der Ethiker (Shatterhand) und der (neoliberale) Geschäftsmann (Santer; Vater+Sohn). Shatterhand hat keine Kinder. Der alte Santer schon. Auch wenn dessen Filius ein – seinem Leben angemessen – unprätentiöses Ende findet; vergessen und (nicht mehr) verehrt: Das Böse ist potenter.

Der Ethiker gewann im Film, obwohl er faktisch betrachtet mehrfach die schlechteren Karten hatte:

Er findet zufällig beim Brunnenbau Erdöl auf der Ranch; will den Fund vertuschen, da er weiß, dass dies der Untergang der Apachen wäre; wird aber von Santer jr. beobachtet, der ihm die Ranch zunächst abkaufen will. Moralisch integer lehnt Shatterhand alle Angebote ab – und erntet Krieg.

Der homo economicus gibt niemals auf.

„Die Zukunft hat sich längst gegen Sie entschieden!“ (Santer jr.)

Leider wahr. Die Ausrottung der Indianer und die dabei genutzten Erbfeindschaften der Stämme untereinander ergeben die Blaupause für das „Große Spiel“ der Santers der Weltpolitik; und das Ausspielen alter arabischer Stammes-und Religionsfehden gegeneinander bis auf den heutigen Tag.

Der Film liefert in eindringlichen Bildern den Kampf um die Utopie der Gemeinschaft aller Stämme des roten Mannes. Schon May wünschte sich dies und wusste, dass er auf verlorenem Posten steht.

Er ließ deshalb Winnetou scheitern und im letzten Moment zum Christen werden. Wenigstens DAS sollte (nach May) möglich sein. Die Verfilmung des 21. Jahrhunderts aktualisiert, indem sie Winnetous letzte Worte in Bezug auf die Freundschaft zwischen zwischen Weiß und Rot verändert:

„Wir sind nicht das Ende! Wir sind erst der Anfang!“

Schön wär’s! Guck auf die Indianer! Guck auf die Araber! Guck auf die Chinesen, die gerade erst die Industrialisierung nachspielen, inclusive allen Umweltverschleißes … das Böse hat das bessere Waffenarsenal:

„Ich will lieber EINMAL lichterloh brennen als langsam zu vergehen!“ brüllt Santer in Nöten, als er in der Ölpfütze steht und Shatterhand bereits die Fackel hält.

Oops! Kenner wissen: Das ist zitierter Neil Young! „Better to burnout, than to fade away!“ Und das einem Verbrecher in den Mund gelegt, der kurz zuvor davon träumt, amerikanischer Präsident zu werden? Sie kämpfen mit allen Waffen, denn Skrupel sind ihnen fremd. Reagan wollte mit „Born in the USA“ Wahlkampf machen. Anderen Songs erging es in anderen Staaten ähnlich. Scheiß doch auf den Text!

„Wer bist du denn? Kein Weißer und kein Indianer! Ein Nichts! ICH wäre beinahe Präsident geworden, aber du?!“ (Santer jr.)

Homo Economicus vs. Ethiker. Manche Duelle brauchen keine Colts.

Shatterhand hält inne. Der klassische einfache Showdown hat sich überlebt. Einen Santer jr. zu flambieren bringt nichts. Sowas wächst immer wieder nach. Winnetou wird nicht simpel 1:1 in der Ölpfütze gerächt, sondern Shatterhand schleppt die verdreckte Präsidentschaftsanwärter-Karikatur, zu dessen Vater, um diesen zum Verzicht auf die Ölfelder und damit auf das Land der Apachen zu zwingen. Zähneknirschend unterschreibt Adorf, der bereits in den 60ern den Santer spielte:

„Mr. Shatterhand? Sie – ein gemeiner Erpresser?!“ (Santer sen.)

Das kennt der Ethiker, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand und sich nun der Waffen der Gegenseite bedienen will! Plötzlich appelliert der Strolch mittels ethischer Phrasen!

Aber Shatterhand ist dem Zynismus gewachsen:

„Wilkommen in Amerika, Mr. Santer!“

Grandios.

Der Film schließt trotz Winnetous Tod mit einem optimistischen Schwänzchen, wie auch die meisten DDR-Indianerfilme, trotz gegenteiliger historischer Faktenlage: Gojko rettet seinen Stamm.

Shatterhand wird Oberhäuptling der geeinten Stämme des roten Mannes.

Das streichelt das Gerechtigkeitsempfinden jüngerer Zuschauer und unbelesener Cineasten; lässt jedoch die älteren Karl-May-Leser möglicherweise melancholisch an „Winnetous Erben“ denken; jenen Band aus Karl Mays Spätwerkphase, der gut gemeint war, aber am Vorabend des I.Weltkriegs nicht überzeugte und deshalb heute vergessen ist.

Viele Prominente starben 1912, einer von ihnen May; der Mahner. 1914 war Krieg.

Viele Prominente starben 2016, einer von ihnen Cohen, der Mahner. 2017 ist sicher.

Guten Rutsch!

Winnetou reloaded (Karl May IV)

Eigentlich wollte ich gar nicht zu jedem Teil was schreiben, aber: Es ist einfach zu großartig!

Zunächst jedoch sei dies vorausgeschickt: Ein May-Western ist kein „Der mit dem Wolf tanzt II“. Es geht hier nicht um Völkerkunde oder Echtheit. Allerdings geht es auch nicht nur um Abenteuer für die ganze Familie. Ein May-Western sollte aufgreifen, dass im imperialen Größenwahn der vorletzten Jahrhundertwende mit all seinem Überlegenheitsdünkel ein Schriftsteller erfolgreich Menschlichkeit propagieren konnte. Betonung auf erfolgreich! May konnte das und die neue Verfilmung – auch.

Werkstreue ist ihr wurscht. Der zweite Teil kommt in zeittypischem schlechten Deutsch daher:

„Winnetou – das Geheimnis vom Silbersee“. Ächz! Genitiv verrecke! Klingt fast so schlimm, wie das ständige „An Weihnachten…(kommt Winnetou ins Fernsehen)“. Aber damit hat sich‘s auch schon in Sachen Kritik. Der ganze Rest ist nur zu loben.

Berger und Rümelin schrieben das Drehbuch. Stölzl hatte die Regieeinfälle. Ein Feuerwerk der Zitate geht ab. Youngsters von heute kriegen das nicht mehr mit. Gottlob bin ich alt – und Ossi.

Wessis kennen die ostdeutsche Indianerliteratur nicht. Ihnen entgeht ungefähr die Hälfte der Einfälle:

Start: Winnetou und Old Shatterhand fangen Mustangs. Winnetou fix, Shatterhand braucht länger. Die Kamera hat somit Zeit, die Erinnerung an das Intro von „Spur des Falken“ (DEFA 1968) aufzubauen. Das war einst der spannendste der DDR – Western. Super Einstieg!

Die Helden kehren ins Indianerlager zurück. Plötzlich fällt mir die geschickt gemachte auffällig unauffällige Färbung der Zelte auf: Von oben nach unten schwarz-rot-gold! Alle! Wenn das kein Lacher ist! Ein Hinweis auf einen deutschen Western! Jetzt macht es automatisch auch Sinn, wenn Winnetous Schwester, sich wie eine emanzipierte Häuptlingin gibt. Bei den Indianern eine Medizinmännin? Ganz bestimmt nicht! Deutschland allerdings kennt das.

Nscho-tschi möchte Shatterhand indianisch ehelichen, dieser lehnt ehrerbietig ab, da er glaubt, kein Apache werden zu können. Eine ähnliche Szene gibt es in den „Söhnen der Großen Bärin“ als Toka-ihtos Schwester dem Indianer-Scout Tobias ihre Zuneigung zeigt und ebenfalls abblitzt.

Shatterhand kehrt kurzzeitig in die Welt der Weißen zurück, erfährt aber, dass seine indianischen Freunde in Not geraten sind und eilt unter Mitnahme des Henrystutzens ihnen zu Hilfe.

Allerdings spielt das Gewehr im weiteren Verlauf des Films ebenso wenig eine Rolle, wie Chingachgooks schickes Silberbüchsenplagiat 1967 im gleichnamigen DEFA-Film.

Dann kommen die Bösewichte ins Spiel; und die nächste Überraschung: Der Oberschurke ist kein „roter Cornel“, sondern ein mexikanischer Strolch mit Knarre und Gitarre, der obendrein aussieht wie Andreas Bourani und El Loco heißt. Er bekommt ausreichend Spielraum, um wirken zu können und macht deshalb eine deutlich bessere Figur als die beiden Bösewichte im 1. Teil.

Seine stümperhafte Musikalität bringt die Erinnerung an Harry Hurry aus „Chingachgook – die Große Schlange (DEFA 1967)“ auf, der sich dort in einer Szene auf den Tisch in der „Biberburg“ schmeißt und „Wer reitet so spät nach Littlefield“ anstimmt. Andererseits könnte man auch an Fonda oder Bronson denken: Hey, Bourani! Spiel mir das Lied vom Tod!

Noch deutlicher wird der Bezug zum Überwestern vom Harmonica Frank, wenn Sam Hawkens als wichtige Nebenfigur die sparsame Prostituierte Peggy besucht, der noch ein paar Dollar fehlen um einen Gemischtwarenladen zu eröffnen. Er gibt ihr das fehlende Geld und kehrt später in ihren tatsächlich eröffneten Laden zurück, wie Cheyenne(Jason Robards) zu Jill (Claudia Cardinale).

Während dort jedoch Jill als unberührbare Erotica die Leinwand beherrscht und Cheyenne (von ihr verschmäht) letztlich angeschossen stirbt, kommt hier ein Happyend zwischen den beiden ramponierten Wildwest-Zeitzeugen zustande.

Der Clou aber ist die Art, wie der Schatz einst in den See kam und auch wie er nun gefunden wird.

Winnetou und Old Shatterhand sind in Gefangenschaft von El Locos Bande und müssen für die Mexikaner tauchen. Da ihr Luftvorrat nicht reicht, konstruiert Ingenieur Karl May eine Taucherglocke aus einem großen Fass und einer Seilwinde. Die Idee stammt 1:1 aus – dem MOSAIK; Heft 172-174 und 192. Damals eine Hegen/Dräger Reminiszenz an den 1973 immer noch offiziell verpönten „Schundliteraten“ aus Radebeul. Also auch in diesem Teil der Neuverfilmung schließt sich da ein Kreis, diesmal indem zwei ostdeutsche Kulte miteinander verwoben werden.

Allerdings wird im Film trotz dieser hilfreichen Maschine noch kein Schatz gefunden. Denn noch eine Anspielung will verwoben sein: Der Zugang zur Schatzhöhle liegt unter Wasser. Ganz so wie der aus der Schloß Rodriganda-Saga, den dort Dr. Sternau findet.

Als Winnetou, Shatterhand und Nscho-Tschi aus der Höhle fliehen, kommt es zu einer Schießerei zwischen den Helden und der Bande. Winnetou erbeutet hier die Silberbüchse, die einem der Verbrecher gehörte. Dieser erwähnte kurz zuvor: Jeder Silbernagel steht für einen toten Gegner. Ganz so, wie Sans Ear in Winnetou III für jeden Erschossenen eine Kerbe in seinen Gewehrkolben schnitzt.

Schließlich sind alle Strolche tot, die Helden frei und Shatterhand wird Winnetous Schwager.

Klare Steigerung gegenüber Teil 1.

Wird’s ein Hattrick? Oder ist die Schatzkiste der Zitate nun leer?

Winnetou reloaded (Karl May III)

Festtagsprogramm 2016: Die Zeiten ändern sich. Das Gute bleibt?

Nicht ohne Gezeter. Helene Fischer vs. Winnetou. Wer würde zum Erdogan der Fernbedienung? Gelingt es der weiblichen Übermacht den Papa an den Computer-Katzentisch zum Streamen oder zeitversetztem Späterguck zu verdonnern? Wenn sein Blog doch heißt, wie er heißt und jene legendären grünen Bände bis heute das Wohnzimmer schmücken, entgegen allen modernistischen Entlibrisierungsversuchen der weiblichen Mehrheit?!

Quotentechnisch gewann die atemlose Schlagerdrossel deutschlandweit. Im Hause Bludgeon nicht.

In meinem nun 101. Post zum 3.Mal auf Karl May zusprechen zu kommen, ist anlässlich der Neuverfilmung gar kein schlechtes Thema, deucht mir.

Zu Weihnachten 2016, am 1. Weihnachtsfeiertag ereignete es sich, dass Winnetou und Old Shatterhand einen Moment lang wieder auferstanden.

Für eine neuerliche Indianer Renaissance besteht keine Hoffnung. Das begänne schon bei der Wortklauberei der politisch korrekten Benennung schwierig zu werden: Ich bin indigener Amerikaner! Du bist einwandernder, xenophober Mittelständler! Connie wird amtierende Häuptlingin und einer muss den schwulen Marshall spielen! … Das wäre dann zwar KiKa-sendefähig, würde aber keinen Spaß mehr machen. Außerdem besitzen all die dicken Kinder vor ihren Laptops und Tablets längst kein Huppe-Seil mehr, mit dem sie die Gefangenen an der Teppichstange fixieren könnten. Teppichstange? Hä? Wie spricht man das aus? Tippitschständschi? Und was war das mal früher? Alternativ existiert auch keine Wäscheleine mehr in Muttis Haushalt. Hier und da eventuell Kabelbinder unter den Ehebetten, aber um nachzusehen müsste man sich bücken, denn der geizige Weihnachtsmann hat wieder keine Drohne gebracht… Probleme ohne Ende.

Ich schweife ab. Zurück zu Karl May.

Es handelt sich um ein Wunder mit Ansage, denn Monate vorher bereits wurden zahlreiche PR-Register gezogen, damit dieser Reanimierungsversuch auch ja ausreichend vielen Leuten bewusst werde.

So erfuhr man immerhin davon, dass Philipp Stölzl als Regisseur seine Hand im Spiel hatte. Und der ist Kennern seit „Goethe!“ (2010) bestens bekannt. Der schaffte es damals, mir, als bekennendem Goetheverächter, eben jenen „Dichterfürsten“ auf menschliches Studentenmaß herunterzubrechen und somit näher zu bringen. Ich hätte diesem Film damals gern den Erfolg von „Fuck ju Göthe!“ gegönnt. Aber, tja. Die Mär vom „Volk der Dichter und der Denker“ wird trotzdem weiter überstrapaziert.

Wenn nun aber DER  Stölzl für DIESES Unterfangen zuständig ist, dann wird das was!

Und siehe da – es wurde!

Mays Vorlage wiederfuhr zwar eine weitere Umdrehung in der Modernisierungsmoulinette, das bekam ihr jedoch durchaus.

Ohne Henry-Stutzen, ohne Silberbüchse, ohne religiöse Bekehrungsgespräche, aber mit zwei Hauptdarstellern, die in ihre Rollen passen, drehte man da, wo die Winnetou-Film-Saga nun mal hingehört: an den altbekannten Drehorten in der Prärie Kroatiens; mit der beibehaltenen Böttcher-Musike, und mit reihenweise Zitaten aus den Indianer-Altverfilmungen Ost- und Westdeutschlands.

Gojko Mitic als Intschu-Tschuna; Apachen, die Lakota sprechen und mit Untertiteln übersetzt werden; Dakota-Kleidung und Dakota-Bestattungsriten stellen den Bezug zum unvergessenen Toka-ihto her oder schicken dich auf die “Spur des Falken“. Vorausgesetzt, du bist über 30 und Ossi.

Gojko, als alter Apachenhäuptling, verhandelt mit den Bleichgesichtern und erscheint dazu im großen Dakota-Häuptlingsputz. Eine ähnliche Szene gibt es mit dem jungen Gojko 1966 in „Söhne der großen Bärin“. Er bekommt wieder ein Glas Feuerwasser angeboten und schiebt es mit dem Handrücken auf die Seite. Die gleiche Geste wie 50 Jahre früher als junger Toka-ihto im Fort am Niobara. Sekunden später wird er am Verhandlungstisch erschossen; stirbt ein ruhmloses Ende, das den Sohn in die Rachespur setzt. Die Szene lässt hier die Erinnerung an Toka-ihtos Filmvater Matto Taupa anklingen. Ein Oscar würdiger Regie-Einfall: Nun selbst ergraut, schließt sich hier ein Lebenskreis: Die erste und die letzte Rolle. Einst rächte er. Nun lässt er rächen. Er gibt den Stafettenstab weiter an Nik Xhelilaj. Der neue Winnetou ist wiederum ein Balkanbewohner mit Superstar-Aura. Aber wir haben nicht mehr 1962. Für eine Serie von verfilmten Häuptlingsbiografien gibt es keinen Markt.

Die alten Winnetou-Verfilmungen waren extrem erfolgreich. Sie verkitschten zu ihrer Zeit den Stoff jedoch sehr in Richtung Heimatfilm-Sehgewohnheiten. Als Ossi-Zaungast jener Zeit war es mir vergönnt, durch die Gojko-Streifen geprägt zu sein, bevor ich mit ca. 15 Jahren um ‘75 herum erstmals den „Schatz im Silbersee“ im Westfernsehen sah. Ich war somit aus dem eigentlichen Zielgruppenalter raus und merkte mit dem geschärften Urteilsvermögen des Pubertierenden, dass „unsere Filme“ echter wirkten. Pierre Brice und Lex Barker wurden als West-Stars zwar hingenommen, die Shatterhand-Melodie blieb Hit, die Krone aber behielt allzeit Gojko Mitic. Auch unsere Schufte waren fieser: Allen voran Jiri Vrstala, Hanjo Hasse und Rolf Hoppe.

Die Haupthelden der Neuverfilmung entsprechen in angenehmer Form einer berichtigten Sicht auf den Wilden Westen. Die Schufte der Neuverfilmung schwächeln. Sie erhielten zu wenig Entfaltungsspielraum. So bleiben sie Abziehbildstrolche wie ihre Vorgänger in den Pierre Brice Filmen.

Trotzdem hat die neue Verfilmung eine ordentliche Schippe Realismus draufgepackt bekommen.

Sie ist 5fach für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Möge sie einige davon bekommen!

Karl May II

Winnetous Tod – oder: Eine Sucht von gestern

Heute verstarb Pierre Brice.

Auch wenn mir Gojko Mitic der allzeit wichtigere ist, holt die Nachricht allerhand herauf aus alter Zeit:

Steh ich heute in Antiquariaten herum, stoßen meine Füße manchmal an Kartons unter den Regalen: darin mehr oder weniger gut erhalten – Karl May Bücher. Sie in die Angebotsregale zu stellen, lohnt nicht mehr. Die Nachfrage ist tot. Der Anblick schmerzt. Ich kenne noch andere Zeiten. Karl May war mal gesucht wie Goldstaub. Damals. In der DDR. Vor 1983.

Auch mich hätte es treffen können, ein Karl May Verächter zu werden.

Zwar kannte ich die Hauptfiguren alle lange bevor ich lesen konnte. Vater, wenn er gute Laune hatte, konnte von diesen Helden schwärmen, dass es einfach mitreißen musste!
In solchen Momenten kam in seine Augen die eigene Kindheit wieder hoch! Nur leider besaß er keins der Bücher mehr. Sie waren „zu Hause geblieben, als wir wegmussten!“, so der familiäre Sprachgebrauch für die erlittene Vertreibung 1945.

Mitfühlende Verwandtschaft hatte sich später mal aufgerafft und in 3 Paketen die 3 Winnetou-Bände in die Täterätätä geschickt, wohl wissend, dass nach § XY/b der sozialistischen Willkürverordnung nicht gestattet war, westlichen Druckerzeugnissen eine postalische Einreise zu genehmigen. Es kam, wie’s kommen musste: Band 1 und 2 fielen dann vermutlich in die Hände irgendwelcher Zöllnerkinder. Nur Band 3 kam durch!
Und ein wunderschön gemaltes Indianer-Quartett aus Bamberg. (Keine Film-Fotos!)

Das geschah zu der Zeit, als ich bereits „Dakota war“. Aber gleich nach den „Söhnen der großen Bärin“ irgendeine Art von Indianerbuch lesen zu wollen, musste schief gehen. „Winnetou 3“ erwies sich als zu schwach, um mithalten zu können.
Es vergingen ein paar Jahre mit Indianerspielen.
Zwar hießen auch zwei Figuren dauerhaft Winnetou und Old Shatterhand, aber mit dem Lesestoff haperte es eben.

Dann wurden wir 8.Klässler und sollten uns kurz vor der Aufnahme in die FDJ noch einmal an einer Pionier-Altstoffsammlung für eine Soli-Spende der Schule beteiligen. Wie immer gingen wir also Straßenweise aufgeteilt die Leute abklingeln, ob sie nicht ein paar Gläser oder Zeitungen hätten. Der große Trecker-Hänger vor der Schule wartete darauf gefüllt zu werden.
Oft lagen die alten Zeitungen in den Kellern der Leute bereits gebündelt herum. Die warteten einfach auf die Pioniere. Ebenfalls oft waren in diesen Stapeln „Schätze“ mit eingeknotet worden: Alte Hefte des „Magazins“ zum Beispiel! In jedem davon EINE Aktfotografie! Hey! Wir waren 14! Und männlich.
Oder MOSAIK-Hefte! Der WAHRE Schatz! Möglichst der älteren Art unterhalb der Nummer 90! Herausziehen aus dem Stapel und Interessenten weiterverkaufen, war selbstverständlich. Sowas landete nie auf dem Hänger! Diesmal aber hatte einer aus der Parallelklasse ein anderes großes Los im Stapel: „Hier habch boar alde Biechor!“, hatte die Oma gesagt, die ihm zwei Stapel in die Hände drückte. Eine Zusammenstellung des Schreckens aus „Buchprämien“ der Jahrzehnte. Granin, Tschechow, Seghers, Gotsche… Zwischen drin: „Durch das Land der Skipetaren“ und „Der Schut“!

Otmar war ein besonders gerissener Hund: Er nahm die beiden Karl Mays an sich, informierte uns 3 Leseratten von so altem Zeugs und ließ uns steigern. Er begann bei 20 Mark Gesamtpreis und erwartete unsere Gebote. Zwei Tage zog sich das hin. Der Preis stieg fünfzigerweise. Schließlich bekam ich den Zuschlag für 35 Mark (sponsored by Vati) und die Family hatte somit nun abgesehen von jenem „Winnetou 3“ Karl May Zuwachs.
Zunächst war Papa begeisterter als ich. Jedoch gelang auch in meinem Fall der Leseversuch diesmal besser als vor Jahren. Die Bekanntschaft mit dem Orient-May war für mich der Urknall. Geborgter Maßen war es mir kurze Zeit später möglich „Durch die Wüste“ und „In den Schluchten des Balkan“ lesen zu können. Dann ruhte der See wiederum für Jahre.

1982 ging mir per Zufall „Benito Juarez“ ins Netz. Tolle Spannung! Aber es fängt irgendwo mittendrin an und hört abrupt auf. Wie mag das weiter gehen?
Weihnachten 82 krönte Hermann Kant sein Lebenswerk mit der Wiederzugänglichmachung des ach so verfemten Schundliteraten.
Kant hatte in seinem Debut-Roman „Die Aula“ 1965 entgegen der DDR-Doktrin eine warmherzige Danksagung an den „braven Lügenbold“ untergebracht, Karriere gemacht und diplomatisch die Zeit abgewartet.
Nun war sie reif: Pierre Brice und Lex Barker wurden die Helden des Feiertagsprogramms Ost und die Vorankündigung …dass man sich im Rate der Kalkriesen zu Wandlitz entschlossen habe, pro Jahr einen Band der beliebten Gesammelten Werke veröffentlichen zu lassen, sorgte für zusätzliche Verblüffung. Mit „Winnetou I“ sollte begonnen werden. Die Werke seien „überarbeitet“ und von „Weitschweifigkeiten“ befreit. Es gehörte kein großer Scharfsinn dazu, zu ahnen, dass damit vor allem die Bekehrungsdialoge zwischen Shatterhand und Winnetou gemeint sein mussten.
Trotzdem bekam ein Sammler in der Altstadt kalte Füße und er inserierte, dass er eine Sammlung der Romane Mays verkaufen will.

Studenten haben meistens Zeit und so ging ich also hin, um mein Glück zu versuchen: Verkauft der nur „geschlossen“ oder jeden Band einzeln?
Zum anberaumten Termin drängelten sich ca 60 Leute im Hausflur und wurden in 3er Grüppchen in die Wohnung gelassen.
Meine Hoffnungen schwanden: Mist. Zu spät. Hier ist nichts zu holen.
Da öffnete sich die Tür und ein enttäuschter Rentner kehrte in den Flur zurück und machte sich Luft: „Der spinnddoch da drinne! Fuffzsch Morg bro Buch! Und wennse gabudd sin’ wille noch vörzsch!“ – und ging.
Mit einem Stöhnerchen halbierte sich die Meute. Nun waren wir noch 30.
Wieder kamen welche aus der Wohnung: „Winnedu is schon weg. Ich hawwe noch „undor Gejorn“ und’n „Ölbrins“ erwischt.“ Wieder gingen einige mit.

Meine Hoffnungen stiegen: Dank Papa-Sponsoring hatte ich reichlich Munition im Portemonnaie und an den abgelatschten Reißern war ich eh nicht so interessiert:

Der Tag ging in die Familiengeschichte ein: 8 Bände Beute! Zwei davon die Nachfolgebände des „Benito Juarez“. Ich flog praktisch nach Hause! Vater sah das Ergebnis, zückte die Brieftasche und schickte mich ein zweites Mal hin: Vielleicht ist noch was übrig.
Zweiter Anlauf und noch mal 6 Schwarten, zerlesen, teilweise auseinander fallend, aber egal!
Vier davon die Greifenklau-Bände.
Ich konnte, da ich „letzter Kunde“ war sogar den Preis deutlich drücken.

Außerdem erschien um Ostern 83 nun offiziell „Winnetou 1“ sowie eine gut geschriebene May Biografie „Der Mann der Old Shatterhand war“.
Auch die Zollbestimmungen schienen sich geändert zu haben: Karl May Taschenbücher flatterten herein, dass es sich nur so hatte: Pawlak-Verlag, Tosa-Verlag, Ueberreuther… oder aber klassisch grün aus Bamberg.
Sie stehen heute noch repräsentativ in meinem Bücherschrank.
Zweireihig, oberstes Regal, statt Goethe oder Shakespeare.
Leider aber hat die Stafettenübergabe in die nächste Generation nicht geklappt.
Nach mir, werden wohl auch meine Bände in einer Antiquariatskiste enden…

Heute starb Winnetou. Das Gesicht, das ich in der Rudi Carrell Show kennen lernte.

Karl May

Neulich war anlässlich der „Söhne der Großen Bärin“ hier im Blog eine Spontandiskussion zum Thema Karl May entstanden. Deshalb hier etwas umfassender der Fall, wie ich ihn sehe:

Wenn du 1842 im Erzgebirge als Weberkind geboren wirst, so sind das wirkliche Scheißzeiten für dich, denn die Weberei geht gerade in dieser Zeit genauso den Bach runter, wie heutzutage die Uhrmacher und die Buchhändler. Die Industrialisierung bricht sich Bahn. Englisches Tuch macht deutsches platt. Die Weber im Erzgebirge dulden still. Ihre schlesischen Kollegen probierten wenigsten 1844 einen Aufstand, der allerdings nichts rettete.

Karl wird geboren in einer kinderreichen, extrem armen Familie. Die Mutter kocht jede Sorte Unkraut und Brotreste zu Suppe und der Sohn erblindet. Vom 2. bis zum 5. Lebensjahr sieht er nix, hört lediglich die Geschichten der Großmutter, die sich kümmert und bei der er sitzt, während sie die abgetragenen Lumpen flickt, mit denen sich die Familienmitglieder ihre Blößen bedecken. Mutter geht zunächst putzen, unter anderem bei einem Arzt, der erkennt, dass seine Putze auch etwas anderes hätte werden können und der ihr die Möglichkeit verschafft, eine Schulung machen zu dürfen, um eine Art Gemeindeschwester werden zu können. Außerdem reden die beiden über medizinische Neuerungen der Zeit. Am kleinen Karl wird somit eine Augen-OP ausprobiert, die ihn entweder wieder sehen lässt oder aber das Leben kosten kann, wegen der zu erwartenden Infektionen.

Die OP gelingt. Karl ist 5 kann sehen und hat 3 Jahre normale Persönlichkeitsentwicklung verpasst…

In allen von mir bisher gelesenen Karl May Biografien fehlt der Punkt, dass sich genau daraus erklärt, wie es zu jenen kriminellen Verfehlungen kommen konnte, die ihn im Alter um seinen guten Ruf bringen werden.

Der Erblindung und Augenlichtrettung fehlen die Beweise. Sie finden sich nur in seiner Autobiografie „Mein Leben und Streben“ im Band „Ich“ und da ihm im Zuge der Lebius-Intrige allerhand biografische Hochstapeleien nachgewiesen wurden, wird diese schöne Legende ebenfalls in Zweifel gezogen.

Passen würde es gut: Phantasievolles Bürschchen, mit schwächlichem Körperbau und ohne Einbindung ins „Ganggeflecht“ der Gleichaltrigen wird wieder sehend und gleich darauf vom Vater vergattert, Wunderkind sein zu müssen, von normaljugendlichen Einflüssen weitgehend abgeschirmt, zum büffeln verdammt.

Die Prügelknabenlaufbahn ist vorprogrammiert. Minderwertigkeitskomplexe machen sich bemerkbar und schreien nach Kompensation. Große Fresse-Versuche, Wunschbiografische Hochstapeleiansätze werden somit ganz zwangsläufig erklärbar.

Nicht mehr ausgelacht werden, als der kleine Spinner!Zu den Honoratioren der Stadt gehören, vor denen man den Hut zieht! ANSEHEN erlangen!

Nach einer letzten 4jährigen Haftstrafe 1870-74 wird er ins frisch gegründete DEUTSCHE REICH entlassen, in eine Boomzeit der Medienlandschaft, ins Wahnfriedzeitalter. Noch ist die Welt nicht wirklich entdeckt. Koloniale Abenteuerlust greift um sich, aber fast niemand reist wirklich. So merkt er: Du kannst von fremden Kontinenten wirklich alles behaupten, es wird niemand nachprüfen können.

Die edle Rothaut Winnetou, der liebe Neger Massa Quimbo, der arabische Krakeeler Hatschi Halef… bevölkern seine „Reisebeschreibungen“, die lieber gelesen werden als diejenigen von Livingstone und Stanley. Die Auflage macht’s. Die Vorgängerin der Quote.

Bei May gibt’s keine langen Flussufer- und Hügelvermessungen, kein Malariagejammer oder untreue Träger. Wetterwechsel? Unwichtig. Dolmetschermissverständnisse? Der wahre Reisende bereitet sich vor und kann alle Sprachen selbst!

Somit ist Platz für „Zauberpferde“ mit „Geheimnis“, Verfolgungsjagden, religiöse Dispute, Gerechtigkeitsschaffung durch zivilisatorische Lichtgestalten. Gerstäcker mag „arte“ sein. May ist „pro7“! Die Quote hat ER! Aber ist er deshalb schlecht? Kitsch? Schund?

May ahnt mehr als er weiß, dass die Chance der Naturvölker nur darin besteht, sich so schnell wie möglich anzupassen an die Eindringlinge mit dem industriellen Vorsprung. Ein Zurück zur Natur kann nicht gelingen. Aber die Vertreter sollen nicht als Karikaturen aufgefasst werden, sondern als liebevoll gezeichnete Originale. Auch seine deutschstämmigen „Westmänner“ sind eher Dorftrottel, die in der Leere der Prairie ungestört ihre Macken pflegen können und trotzdem oder gerade deshalb zu Helden werden über die dort niemand lacht! Es ist die Verarbeitung der erlebten Geringschätzung zu Schülerzeiten, im Gefängnis und danach.

May recherchiert viel im Rahmen seiner Möglichkeiten. Liest jede frisch erschienene Völkerkunde auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, die er verwenden kann und steigt von Buch zu Buch auf.

Der Menschenfreund in ihm wird jedoch von oberflächlichen Zeitgenossen als sächsischer Carl Peters missverstanden. Der Journalist Lebius will anlässlich des Boxeraufstandes ein China-Kompendium der Art „Was erlauben sich diese Schlitzaugen! Bringen unseren Botschafter um!“ herausbringen. May wird angesprochen, doch bitte einen spannenden Beitrag zu leisten… und er … will erst ablehnen … dann aber lieber mahnen: Er reicht „Und Friede auf Erden!“ ein und hat nun mächtige Feinde.

Der erfolgreichste deutsche Buchautor stemmt sich gegen den Zeitgeist! Mal sehen, was wir über ihn finden… Eine zeitlos beliebte Verfahrensweise, sich an „Spielverderbern“ zu rächen.

Die letzten 12 Lebensjahre sind ein Graus für ihn. Plötzlich ist er wieder der „kleine Spinner“. Man wirft ihm vor, gelogen zu haben. Seine Geschichten sind erfunden! Was soll das? War Jules Verne wirklich auf dem Mond oder 20 000 Meilen unter dem Meer? Hat Dumas den Grafen von Monte Christo wirklich gekannt? Es ist das Gejaul der betrogenen Betrüger.

Aber es sorgt dafür, dass ein sprudelnder Phantasiequell versiegt. Mays Spätwerk ist schwerfällig sich dahinschleppende Rechtfertigungsliteratur.

Zwei Trümpfe lassen sich auch hier noch heben: 1. „Die Waage der Gerechtigkeit“ heißt ein Kapitel in „Am Jenseits“, dem letzten noch flüssig lesbaren Reiseroman. Hier beschreibt er, wie die Seelen nach dem Sterben der irdischen Hüllen gewogen werden und er führt alles das vor, was ihm zu schaffen macht: Die Bigotterie, die brutale Skrupellosigkeit der Gründer, das charakterlose Speichelleckertum, all die Alltags-Judasse, die ihre ehemaligen Retter von gestern heute mitleidlos ausliefern und abstürzen lassen, die korrupte Justiz, die Klüngelei … die Zusammensetzung der Gesellschaft in all ihrer Erbärmlichkeit. Es liest sich zeitlos. Ackermann, Kerner, Maschmeyer… Jedem Leser werden sich andere Zeitgenossen vor’s innere Auge schieben. 1899 geschrieben? Déjà vu!

Und dann sind da noch — die ganz wenigen, wirklichen Gläubigen: Die entsagungsvoll Bescheidenen, die immer die Dummen sind, aber nun nach dem Tod endlich Gerechtigkeit erfahren. Hier sind die aktuellen Bezüge äußerst knapp und deshalb muss wiedermal die arme Mutter Theresa herhalten.

2. Arno Schmidt, der vermutlich einzige Mensch des Universums, der es geschafft hat, „Im Reiche des Silbernen Löwen“ Band III und IV wirklich zu lesen, gebührt die Ehre, den Nachweis erbracht zu haben, dass dort in einem Monolog Kara Ben Nemsis eine Abrechnung mit Nietzsche erfolgt. Der von der „gut bürgerlichen Gesellschaft“ enttäuschte May erkennt fast als einziger seiner Zeit Schwächen in der Sprache „eines großen Philosophen“, von dem ein paar Lehrsätze mehr als nur angedeuten, wer gemeint ist. Und der Leser, der bis hierher durchgehalten hat, erfährt: Wer sich nicht ausdrücken kann, dessen Lehre führt in die Irre. (Chapeau!)

Diejenigen, die in May gestern noch den Weltreisenden sahen und ihn hofierten, ihn nun aber nicht einmal durch den Dienstboteneingang mehr in die Villa lassen würden, rennen inzwischen dem nächsten Blender hinterher, dessen Lehre voller brutaler Forderungen die Hirne sturmreif schießt für die Schlachten am Waterberg und vor Verdun.

„Frieden – gebt Frieden nur allein!“ und „ …die alten Zeiten reden zu uns in der Sprache der Ruinen, sie künden von vermessenen Ansprüchen unserer Vorfahren und sollen uns lehren, uns zu mäßigen.“ Das steht nicht bei Nietzsche. Das stammt von May, dem kleinen Spinner, dessen Werke man in der zweiten Reihe im Bücherschrank verschwinden ließ, als in der ersten Reihe die Machwerke anderer Autoren mit mehr oder weniger kurzen Oberlippenbärten standen.