Auf dem Leichenwagen der Zeit

(geänderte Variante)

Hübsch martialisch, nicht?

Keine Angst. Es geht „nur“ um einen weiteren Raabe-Roman und sein immer wiederkehrendes Figuren-Ensemble im Hier & Heute.

Ja, da sitz ich nun mit all dem „Most in‘ Kopp“, den Raabe da aufgewühlt hat – mit seinem „Schüdderump“; was plattdeutsch sein soll für „Pestkarren“; Eselsbrücke „Schütt-Rampe“, Kipper.

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Eine tolle Metapher also für die Vergeblichkeit des Seins.

Wie wir doch ALLE unter der Erde enden; ob nun im Sarg oder im Massengrab.

Wie aber auch ALLES dort endet, was uns mal was wert war. Hingeschmissen, wegplaniert auf der Halde.

Ein Sinnbild auch für den Haushaltsauflöser, der auseinanderreißen wird, was du ein Leben lang zusammentrugst. Wo werden all meine Gründerzeitausgaben von Spielhagen, Heyse, Dahn etc. enden? Im Altpapier? (Alte Schrift!)

Und ich hörte all die Kopfschüttler ein Leben lang: Warum hast du auch „all den alten Mist“ gekauft? Und die Platten und die CDs?! Rechne mal um. Du würdest heute SUV fahren oder einen 57er Bel Air! Bar bezahlt! Und die Pilgerfahrt nach Graceland/Memphis wär‘ glatt auch noch drin!

Ach Blödsinn! Die Bücher wollte ich „bewahren“. Sie sollten in gute Hände kommen, also in meine; wo sie gewertschätzt und GELESEN werden. Ich wollte wiederbeschaffen, was Eltern und Großeltern einst besaßen, damals; hinter den Bergen; im Sudetenland. Die Leseeindrücke korrigierten dann so allerlei an Zeitgeistgeplapper – wurden Denkanstöße; „für den Jüngling und den Greis“. Kmh!

Die Musik? Die LP-Käufe von einst zu Schwarzmarktpreisen? Die Umstellung auf CD mitte der 90er? Vermeidbar? – Nö! Ohne die wär ich tot. Hätte die Rente niemals geschafft, wenn ich hätte nur im „hier und heute“ leben müssen! Mit nichts weiter als dem jährlichen Sommerhit und dem Radiogeplärr. Die Klänge waren Dauerdroge! Tonales Morphium, weil ich „die Umstände“ scheiße fand. Aber solange eine Yes-Scheibe läuft oder eine von Nazareth oder Heart usw. war die Welt vorübergehend wieder gut. – Der Geist war woanders. – Alles in Allem: Joe Walsh singen – und die alten Geschichten ruhen lassen. Abwink.

Ich sitz‘ nun zu Hause – und lege den ausgelesenen Raabe aus der Hand. Das Auto ist kein Bel Air. Das Haus – keine Villa. I never been in Memphis. Elvis hat eh gerade saisonale Pause. Van Morrison läuft… „…behind the curtain, behind the name“. Und „dahinter“ zu gucken, macht vor allem bei Raabe richtig Spaß und gibt jede Menge her.

Das Buch deprimiert nicht. Raabe hat Humor und lässt ihn reichlich blitzen. Ironie, Spott, Schwarze Galle. Sicher wäre er in England ganz groß rausgekommen, wenn er übersetzbar gewesen wäre. Aber er bemüht sich allzeit um so einen phantasievoll altertümlichen Chronisten-Slang. Da kapitulieren dann die Übersetzer – und die meisten Leser von heute auch. Aber angeblich ja Dostojewski verstanden haben: Ha! Brat mir einen Storch!

Ja, „Der Schüdderump“ ist ein gutes Buch. Frau Riess hatte recht, als sie vermutete, das könne mir gefallen. Sehr sogar! Im „Hungerpastor“ sind die persönlichen Parallelen zwar direkter, aber hier sind die Polit-Watschen größer, die heute immernoch passen.

Hier ein Paradebeispiel. Der „Ritter“ zu Beginn ist Antonies Ziehvater. Der „Edle“ – der Hauptstrolch des Romans. Antonies (= Tonie) geadelter Opa

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Erkennst du diese Sorte Politiker wieder? Wenn nicht, dann ist dir nicht zu helfen.

Worum also geht es?

Um die Tragikomödie des Lebens. Sagt jedenfalls der Autor.

Um eine Darstellung der ganzen Plage mittels eines Bündels unterhaltsamer Charaktere voller Schrullen; hie und da bissel sehr unrealistisch übertrieben; aber ihm geht es ja nicht um Psychologie. Sage ich.

Der „Schüdderump“ ist eine 300-Seiten-Parabel auf die alte Seltsamkeit: Der Ehrliche ist der Dumme!

Wir erleben den Alltag auf dem Lauenhof bei Krodebeck (Krötenbach) nahe Halberstadt im Harz. Sprechende Namen sind immer ein wichtiger Teil in Raabes Botschaft: Der Hof derer von Lauen beherbergt eine ganze Reihe ziemlich „lauer“ Gestalten, die sich für nichts richtig heiß machen, aber auch nicht vergletschern. Ein verbauerter, schon bissel ärmlicher, Gutshof, der von der Witwe Adelheid geführt wird; die sich den Adel kaum anmerken lässt, sondern mit-buttert, mit-schlachtet, mit-kocht mit den Mamsells. Hier gibt es keine Winterquartierwohnung in der Stadt, keine Ball-Saison. Eben Adel – hide.

Ihr Sohn Henning von Lauen; ist ein irgendwie sympathischer Nichtsmerker, an dem die Erziehungseinflüsse aller Art nur mikroskopische Spuren hinterlassen. Und der -vor allem deshalb- gut durchs Leben kommt. Glanz vergeht, Mittelmaß besteht! Henning – der stolz daherschreitende – hühnerhaft Flüchtende. Ein Henn-ing, aber kein Hahn. Eine Art vorweggenommener Flashman.

Ausgeliefert wird er von seiner Mutter zwecks Erziehung an zwei Faktoten, die die unruhigen Zeiten zuvor an den Lauenhof spülten – und die ebenda blieben:

Eine französische Madmoiselle des dortigen Hochadels, deren Familie einst vor der Revolution floh; und der Ritter von Glaubigern; der gutmütige, verständnisvolle Veteran der Befreiungskriege. Bei Ligny verwundet; vom Kriegskameraden von Lauen mangels eigener Besitzungen mit in den Harz genommen. Beide verkörpern Plus-und Minuspol in Sachen Henning-Beeinflussung. Das stockkonservative Standesbewusstein des „Frölens“ aus Frankreich stößt auf die Zukunftsvisionen des Träumers von 1815. Jedoch gibt es weder einen Weg zurück vor 1789 – noch einen nach vorn in wirklich bessere Zeiten, denn all die Schadstellen im menschlichen Sammelsurium haben bisher jede gute Idee verkorkst. Bingo!

Dann haben wir Antonie Häußler, die Tochter der „Schönen Marie“, welche einst von ihrem eigenen Vater zum „Geld machen“ missbraucht wurde und als sterbende Halbwahnsinnige in den Heimatort Krodebeck zurückgebracht wird. Nach Mutters Tod wird die kleine Toni von der Dorfbettlerin im Siechenhaus an Kindesstatt angenommen, was wiederum nur ein Jahr dauert, bis auch diese stirbt. Toni hat also Hundezeiten, wird gemobbt, gejagt, geschlagen als „Auswurf einer Verdorbenen“ – und dann plötzlich an den Lauenhof geholt, wo sie zum Mündel der beiden alten Erzieher des Henning wird. Hier nun wechselt sie praktisch den Kulturkreis vom Lumpenkind zur „Prinzess ohne Stammbaum“ – und Raabe pfuscht, denn das früher so praktische abgehärtete Kind, auf Widerstand und Selbständigkeit geeicht, wandelt sich von jetzt auf gleich zur zaghaften Fee, die einen Retter bräuchte, als plötzlich ihr böser Großvater, der Mädchenverderber, auftaucht, schwer reich geworden ist und sie mit nach Österreich nehmen will.

Raabe bricht hier den Plot arg übers Knie, weil er den Handlungsort möglichst rasch nach Wien verlagern will, da er Großvater Häußlers Werdegang in der Agonie der Donau-Monarchie darstellen möchte. Wobei ihm wiederum das korrupte Wien eine Chiffre für ein ebensolches Berlin ist. Manche Abschnitte wollen mehrfach gelesen werden – um alle Frechheiten mitzukriegen.

Großvater Häußler war eigentlich ein versoffener, arbeitsscheuer Friseur im Harz, ging mit Tochter einst nach Hamburg, wo er dank ihrer Attraktivität sein Startkapital erwarb,  – um schließlich als Militär-Lieferant Altösterreichs Geld zu scheffeln. Österreich verliert gerade Stück für Stück die norditalienischen Provinzen, aber Häußler gewinnt per Abrechnungsbetrug am teuren Verkauf minderwertiger Truppenverpflegung seine erste Million. Bei seiner Rückkehr nach Krodebeck nennt er sich nun Ehrfurcht gebietend: Dietrich Häußler Edler von Haußenbleib; bzw. kurz: Herr von Häußler.

Raabe verbindet nun all diese Schicksale interessant miteinander, wobei schnell deutlich wird: Die Schlimmen kommen besser klar. Antonie beschreibt kurz vor Ende des Buches einen Traum:

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Interessant in diesem Zusammenhang ist die Vorgeschichte des Ritters von Glaubigern. Raabe setzt ihn als personifizierte Vernunft ein. Der Name spricht für sich. Die Vernunft ist edel, aber besitzlos; darauf angewiesen „geduldet“ zu werden und wird eben mal hierhin, mal dorthin verschlagen. Er kämpfte in den Befreiungskriegen für die Idee eines Volks-Reiches gegen Napoleon. Aber er kam ausgerechnet bei Ligny, der letzten Schlacht, die Napoleon gewann „unter die Hufe“; sein Pferd wurde erschossen, er lag auf dem Schlachtfeld und die Attacke ging über ihn hinweg. Es gibt damals die berühmte Geschichte, dass es Blücher selbst so ergangen sein soll.  Somit ist Glaubigern ein Alter-Ego Blüchers. Ergo: Die Vernunft unterlag, aber sie kam nicht um, denn Waterloo ereignete sich kurz darauf. Der Bedrücker war erledigt. Nun hätte dieses bessere Reich entstehen können, aber es entstand „der Deutsche Bund“ aus 40 neidhammeligen Feudal-Staaten, mit dauerhaftem österreichisch-preußischem Gegensatz. Besser als 360 Staaten im Alten Reich, aber eben keine Erfüllung des Volkwillens. Bis 1848 wird über die Helden von 1815 „laut geschwiegen“. So will es die Restauration der Fürsten. Nach 1848 werden diese vorsichtiger und verhindern nicht mehr, dass eine Rückbesinnung einsetzt: Wo bleiben Denkmäler für Blücher, Schill, Gneisenau, Tauenzien? Raabe schlägt in diese Kerbe bereits reichlich mit seinen „Neuntötern“ im „Hungerpastor“, schreibt als die Einigungskriege bereits laufen, seine Meisternovelle „Im Siegerkranz“ und setzt nun auch noch im „Schüdderump“ mit seinem Herrn von Glaubigern den Veteranen von Leipzig (Völkerschlacht) und Ligny ein unpathetisches Denkmal.

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Bliebe noch zu erwähnen, wie heftig Raabe das alte K&K Österreich-Ungarn von ca 1860 abwatscht, denn dieser Umstand macht die zweite Hälfte des Werkes aus: Hier in Wien, passenderweise im Stadtteil Mariahilf, wohnt Großvater Häußler, der nun das „Staatssäckel rasiert“ und plant, auch seine Enkelin zu verschachern. Und zusätzlich wird überdeutlich beschrieben, dass dieser umgeben ist von einer ganzen Schar von Adligen, deren Stammbaum „gewisse mythologischen Bauteile beinhaltet, über die wir jetzt gar nicht nachdenken wollen“. Neureiche Spekulanten, „adlige“ Friseure und Hochstapler aller Art, die ihre Profite feiern, während militärisch gar nichts mehr gelingt. Raabe macht deutlich, dass der Koloss auf tönernen Füßen steht und unmöglich noch lange halten kann. Er erlebt 1918 nicht mehr, aber er hat veranschaulicht, woran es lag: Dem Gebilde fehlt die Identität. „Die Befehle werden auf Deutsch gegeben; geflucht wird in allen Sprachen des Balkans.“ Und die Schlitzohren aller Nationen der Monarchie bereichern sich -bussi-bussi- unkontrolliert und Orden behängt. Ich weiß auch nicht, wieso ich da jetzt auf Brüssel komme. Da wo sich die Edlen von Haußenbleib heute tummeln. Die kennen die Tricks um allen Untersuchungsausschüssen zu entgehen. „Um die müssen wir uns keine Sorgen machen!“, würde Raabe sagen.

Die neuen Ritter von Glaubigern, Leute wie Assange und Snowden – tja, denen gegenüber sind wir alle Henning von Lauen: Zur Kenntnis nehmen; bissel bedröppelt gucken, den nächsten Grillabend vorbereiten – Musik!

„Still I’m suffering, that’s my problem.“ (Van the Man)

Raabe – alter Seher! Ich glaube, ich werde doch noch Fan!

Raabe „Zum Wilden Mann“

Nach zahllosen Heyses in kaiserzeitlichem Chic von Hertz und Cotta kostet es schon Überwindung, so ein schlichtes Reclam-Bändchen aus DDR-Zeiten aufzuschlagen. Haben die Sieger 1945 eigentlich jeglichen Buchschmuck verboten? In Ost und West?

Wilhelm Raabe „Zum Wilden Mann“(1874) in Reclamauflage von 1965.

Ich wollte das nun mal lesen. Es tauchte bei Lena Riess im Blog bisher nicht auf und da mich in Literatur-Blogs 98% der Bücher kalt lassen, ist es schon was Besonderes, einen solchen zu finden, indem auch jemand dann und wann „die alten Herren“ liest und -schwups- befindet man sich in so einer Art Entdeckerwettbewerb. Ob man will oder nicht.

Nun, die Vorfreude, einen weiteren Raabe zu entdecken, verflüchtigte sich rasch. Die hundert Seiten dieses Novellchens lesen sich wie ein Nachtrag zu den „Leuten aus dem Wald“ 10 Jahre zuvor.

Gute Ideen – mies gestaltet.

Es blieb jetzt nur noch eine Frage der Tapferkeit: Ich schaffe dieses Bändchen!

Es ist eine Novelle mit Rahmung.

Vorn wird ein biedermeierlich/nachmärzliches Idyll erzeugt. Hinten wird die Idylle demontiert.

PunschrundeDieser Rahmen ist das beste an diesem Werk. Man bekommt einen Einblick in das Leben eines Apothekers in vorindustrieller Zeit, der sich seine Heilkräuter noch selber im Wald sucht, bzw. den Lehrburschen schickt, um die Zutaten für seine Tränklein anrühren zu können. Der bescheidene Wohlstand ermöglicht den Ankauf von Ölgemälden, die nach und nach die Wände des Offiziums, des Büros, befüllen. Am Ende muss die Wohlfühleinrichtung des Apotheken-Offiziums versteigert werden und wird nun von den Freunden von einst gekauft. Zerstreut in alle Winde gewissermaßen. Die betuliche Nachmärzwelt kommt unter die Räder der Zeit.

Jedoch dazwischen haperts.

Philipp Kristeller ist zu Beginn des Büchleins 30 Jahre lang erfolgreicher „Giftmischer“ und verdankt seine wirtschaftliche Existenz einer Geldschenkung in jungen Jahren. Er half einem mysteriösen Freund einst aus einer Lebenskrise, weil er zufällig dazukam, als dieser sich das Leben nehmen wollte, und wurde deshalb überraschenderweise von diesem später mit 9000 Thalern in Wertpapieren beschenkt.apotheke

Dumm nur, dass dieser Freund nach 30 Jahren in Gewitternacht wieder auftaucht und das beschauliche Kleinstadtleben gehörig durcheinander bringt. Nun ist er kein träumerischer Hobby-Botaniker aus dem Wald mehr, sondern ein altgedienter Oberst der brasilianischen Armee. Er heißt auch nicht mehr August, sondern Dom Agosto Agostino.

„Mit Pass und Papieren ist alles in Ordnung.“ gibt er zum Besten.

Kristeller befindet sich nun in der Zwickmühle, dem Wohltäter von einst finanziell helfen zu wollen, dies aber nicht zu können, da die Apotheke zu wenig abwarf, um 9000 Thaler wenigstens anteilig zurückzuerstatten. Deshalb nimmt er eine Hypothek auf. Und Agosto verschwindet dann mit dem Geld.

Dieser Agosto ist einerseits, wie der konzentrierte Leser bald merkt – nicht aber all die Nebenfiguren, ein Hochstapler, bzw. eine gescheiterte Existenz, die viel Seemannsgarn spinnt. Andererseits ist dieses Alltagsproblem >Hochstapler verwirrt braven Bürgern die Köpfe<, wahnsinnig mies von Raabe gestaltet. Wieder einmal.

Laut umfangreichem und erhellendem Nachwort von Peter Goldammer soll die Novelle hier die Abrechnung Raabes mit dem Gründerrausch 1871-72 sein. Dazu gibt Goldammer dieses Raabezitat aus einem Brief preis:Börse

„Die Wunden der Helden waren noch nicht verharscht, die Tränen der Mütter, der Kinder, der Bräute und gattinnen noch nicht getrocknet, die Gräber der gefallenen noch nicht übergrünt; aber in Deutschland gings schon – so früh nach dem furchtbaren kriege und schweren Siege – recht wunderlich her.Wie während oder nach einer Feuersbrunst in der gasse ein Sirup-Fass platztz und der Pöbel und die Buben anfangen zu lecken so war im deutschen Volke der Geldsack aufgegangen und die Taler rollten auch in den Gossen und nur zu viele Hände griffen danach Es hatte fast den Anschein, als sollte dieses der größte Gewinn sein, den das geeinte Vaterland aus seinem großen Erfolge in der Weltgeschichte hervorholen könnte!“

Nun ist die Darstellung von Rausch und Wahn meiner Meinung nach nicht gelungen, da die Figur des Agosto mit ihren vielen Unwahrscheinlichkeiten zu sehr von dem Bisschen Verwirrung ablenkt, welches da kurz und wie nebenher erwähnt, in Nebensätzen konstatiert wird.

Es geht mehr um einen Hochstapler und seinen biederen Freund und so gar nicht um Luftinvestitionen oder Schwindelaktien. Niemand macht bankrott oder gar Selbstmord.

Aber auch die Hochstapel-Story ist keine gelungene.

Besonders unglaubwürdig ist, dass der junge Waldläufer August ein sehr verschlossener Typ ist, der in über einem Jahr Freundschaft mit Philipp Kristeller weder seinen Familiennamen noch seine Wohnanschrift preisgibt, geschweige denn irgendwohin einlädt.

30 Jahre später ist er ein rückhaltloser Prahlhans und scheinbarer Alleskönner. Ohne dass Raabe irgend eine Andeutung für nötig hält, welche Art Schlüsselerlebnis diesen Wandel hervorgerufen haben könnte.

Die Lebenskrise von einst, als ihn Philipp so verzweifelt im Wald fand, erklärt er nun damit, dass er Sohn eines Henkers sei. Sein Vater habe jedoch nie jemanden hinrichten müssen. Er jedoch wurde nun unvorbereitet dazu aufgefordert, den ererbten Beruf auszuführen – und gleich seine erste Hinrichtung habe sein Gemüt derart erschüttert, dass er in eben jenen Ausnahmezustand verfiel. Nachdem ihm Philipp Trost spendete, habe er beschlossen „einen Neustart woanders“ zu versuchen. Wenig später erhielt Philipp per Post all diese Wertpapiere, die ihn eine Apotheke kaufen ließen.

Ein Henkersohn hat soviel Erbmasse zu vergeben? Das war doch der verachtetste Beruf?!

Sein Vater soll gar eine große Bibliothek angeschafft haben, „Schiller gemocht und Goethe verstanden“. Und dann noch 9000 Thaler angelegt? Als Henker, der nichts zu tun bekam?

Da geht einer „in die Neue Welt“ und verschenkt zuvor sein Startkapital?

Wie hat er die Überfahrt finanziert?

Alle Nebenfiguren sind von ihm „geflasht“. Keiner zweifelt irgendwas von diesen Geschichten an. Lediglich der Pastor wagt einen einzigen skeptischen Satz gegenüber dem Förster. Das wars.

Agosto wird ohne jede Wertung in den Raum gestellt. Leserlein, merkst du was? Oder glaubst du ihm alles?

Du bist also eher kriminologisch mit diesem Agosto beschäftigt als mit den Träumereien der Bürger, die Agosto auslöst, weil er Brasilien als das Land, wo Milch und Honig fließen, darstellt, wo jeder reich werden könne. (Durchaus eine Chiffre für das junge Deutsche Reich 1871-72, in dem es jetzt so richtig losgehen sollte mit dem schönen schnellen Reichtum für jedermann.) Aber letztlich reist niemand dahin ab!

Niemand in dieser Geschichte gründet wirklich etwas, oder kauft Aktien, oder wandert aus, als Agosto wieder verschwindet. Also Raabes Gründerrausch-Abrechnung hängt irgendwie nur als Ansatz in der Luft, während wir andererseits eine vollendete Hochstapler-Saga haben, die sich immer wieder (unabhängig von Staatsgründungen) wiederholen kann.

ladenWirecard, Cum-Ex, Bit-Coin, oder gar Jürgen Harksen mit seinen Mond-Aktien, der einst Udo Lindenberg und Dieter Bohlen prellte.

Hinzu kommen einige andere Handlungsklitterungen, die Storm oder Spielhagen besser gehandhabt hätten, wie z.B. die doch sehr plötzliche Einladung von Pastor und Förster zum Jubiläums-Punsch in die Apotheke trotz Sturm und Wolkenbruch – und die kommen auch prompt. Zu später Stunde trifft noch der Landarzt ein, der von der Patientenrunde kommt und in einer Kaschemme jenen Agosto aufgegabelt hat, um diesen nun gleich beim Apotheker abzuladen. Jener Landarzt wird später als liebender Vater beschrieben, der Frau und Kinder nicht allein lassen will, wenn er nach Brasilien ginge. – Und der hatte zuvor in der Gewitternacht kein Zuhause und geht lieber völlig durchnässt Punsch saufen bei Apothekers?

Der junge Philipp Kristeller liebte eine gewisse Johanne, die pünktlich am Hochzeitstermin starb, ohne dass man was über die Umstände erführe.

Da ist so einiges -schnelle-mache-fix- von Raabe übers Knie gebrochen worden.

Mir wird mehr und mehr zum Rätsel, warum Raabes Werke in jedem System wieder aufgelegt wurden, während man all die besseren Erzähler von einst vergas.

Der Hungerpastor (3)

Raabe – der Antisemit?

Du, lieber Leser, bist ein Kind DEINER Zeit und ich bin ein Kind MEINER Zeit. Und wenn wir verschiedenen Alters sind, dann sind das sogar schon VERSCHIEDENE Zeiten.

Wenn ich so Sonntagsreden über die Wertegemeinschaft der EU lese/höre/sehe, dann war mir noch vor ein paar Jahren so, als müsse man sich da eintakten. Aber dann las ich von TTIP und EPA, dann ereignete sich das Wunder der „unbefleckten Erschaffung einer Kommissionsvorsitzenden“, trotz vorangegangener Wahl, die Null und nichtig war – und dann ist schon wieder Frühling und die Zeitumstellung rückt näher – – – wieviel Jahre streiten die jetzt schon über dieses NICHTS?

Es gibt zu allen Zeiten unbefriedigend geklärte Hausaufgaben in der Politik, weil vom Apfel der Erkenntnis eben nur genascht wurde, damals im Paradies, anstatt ihn – wenn schon, denn schon – ganz aufzufressen.

Für Raabes erste Lebenshälfte war die Judenemanzipation ein vergleichbares Dauerthema, mit dem der Deutsche Bund, „in dem so gar nichts zum Besten stand“, einfach nicht zu Potte kam.

Der „Hungerpastor“ trägt ein Janusköpfiges Gesicht, was diesen Aspekt betrifft.

Man kann ihn nicht gleichermaßen leicht in Schutz nehmen, wie Freytags „Soll und Haben“.

Freytag gibt seinen Strolchen Ehrental und Itzig positivere jüdische Nebenfiguren bei (Ehrentals Sohn und Schmeie Tinkeles), so dass also nicht nur „böse Juden“ vorkommen. Freytag heiratet in dritter Ehe eine Jüdin. Also: Persilschein.

Bei Raabe sieht das anders aus.

Zunächst 4 Zitate zur Kostprobe:

Zitat 1:

„In jenen Tagen herrschte vorzüglich in kleineren Städten und Ortschaften noch eine Mißachtung der Juden, die man, so stark ausgeprägt, glücklicherweise nicht mehr findet. (…) Die alten und die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu erdulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das alte schauerliche „hepphepp!“, welches so unsägliches Unheil anrichtete, verklungen in der Welt.“ (Kapitel 3)

Zitat 2:

„Samuel Freudenstein verstand zu lavieren. Durch alle Gefahren und Kriegswetter rette er sich und sein Päcklein. (1806 nach Neustadt)“ (…) Noch 1806 konnten an jedem Zollamt Zettel entstehen, wie der folgende:

Heute – am 15. Januar 17_;  verzollt und versteuert –  am Kreuzthor:

I. drei Rinder

II. vierzehn Schweine

III. zehn Kälber

IV. ein Jüd, nennt sich Moses Mendelsohn aus Berlin

Die Schlacht bei Jena, welche so manche Niederträchtigkeit, so manchen Unsinn über den Haufen warf, machte aus diesem Skandal ein Ende, aber Anno‘15 hätte mancher liebende Landesvater die gute alte Sitte gern wieder eingeführt.“ (Kapitel 4)

Zitat 3:

„Die Raupen im Park verschwanden, nachdem sie ihr Teil (sic!) an der Tafel des Lebens verzehrt hatten. Aber der Dr. Stein(=Moses F.) verschwand nicht aus dem Hause des Geheimen Rathes Götz.“ (Kapitel 21)

Zitat 4:

„Das Wetter war so schlecht, da ging kein Jude auf Reisen.“

Zugegeben: Bei den letzten beiden Zitaten wellen sich die Fußnägel. Warum schreibt der sowas, wenn er doch zuvor so verständnisvoll beginnt?

Dem geht es eben, wie mir und der EU: Da ist etwas, das gut und vernünftig klingt. Aber dann ist da – die Durchführung und im Alltag so dies und das – was unschön ist, und alte Bedenken nicht sterben lässt. Weil die neue Richtung nicht reibungslos funktioniert:

Raabes Kindheit in den 1830ern fällt in eine Phase des Roll backs in Sachen Judenpolitik, da wir es hier noch mit jener unbefriedigenden Politik der Restauration nach 1815 und vor 1848 zu tun haben.

Napoleon hatte mit seinem Code Civil (und der Vergatterung der Rheinbundstaaten darauf) für einen Schub gesorgt, der in Preußen zwischen 1807 und 1813 für eigene Reformen gesorgt hatte, die nach dem Wiener Kongress so weit wie möglich wieder zurückgenommen werden sollten. Da das nicht ging, begann ein endloses Gezerre und Gefeilsche um Rumpfverfassungen unterschiedlichster Güte in allen 40 Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes, dem ein einheitliches Oberhaupt fehlte.

Raabe kennt dank seiner Umzüge in 3 deutschen Staaten 1864 viererlei „Judenrecht“, da dieses ebenfalls den Regenten der 40 Mitgliedsstaaten oblag. Das macht 40 gültige Juden-Edikte. Am liberalsten in Hessen, am mittelalterlichsten in Bayern und zweigeteilt in den beiden Hälften Preußens. Modern in den rechtselbischen Provinzen, die Napoleon dem preußischen König 1807 gelassen hatte. Rückschrittlich gebremst in den linkselbischen Provinzen, die Preußen 1815 dazubekam.

So entsteht natürlich keine einheitliche Wahrnehmung dieser Minderheit in der Bevölkerung.

Raabe flackert mit.

Er liest den „Nathan“ und die Zeitung mit den neuesten liberalen Anpassungen für Juden im Alltag.

Und er versetzt Taschenuhr, Buchausgaben, Mobiliar, um finanziell über die Runden zu kommen.

In jüdischen Leihhäusern.

Ärger mit Pfandleihern hatte er mit Sicherheit noch und nöcher. Ich stelle mir seinen Alltag ungefähr wie den von Marx vor: Manchmal HUI! (weil gerade Geld reinkam); oft aber pfui (weil eben dieses fehlte.) und Raabe hatte keinen Engels zur Seite, der ihm über die gröbsten Durststrecken hinweghalf.

Da gibt es also Alltagserfahrung, die die Wut des armen Mannes befeuern, der keinen Terminaufschub bekommt, um seine Habe auszulösen. Die schöne neue Theorie also hakt.

Hinzu kommen Meldungen, wie die über das schauerliche Ende eines gewissen Ferdinand Lassalle 1864. Der war nicht nur der Gründer des ADAV, der Keimzelle der SPD, sondern auch ein übel beleumundeter Salonlöwe mit zahlreichen Amouren und „Toyboy“ einer alten Gräfin.

Und Wikipedia führt noch einen ganz anderen jüdischen Salonlöwenskandal an: Joel Jacoby.

Sozusagen der Stammvater der IMs. (Raabe ist aber auch wirklich modern!)

Jacoby schaffte es durch Seitenwechsel und Zuträgerdienste sich bei der preußischen Geheimpolizei beliebt zu machen, indem er Petzberichte über Exilanten verfasst, die nach 1848 fliehen mussten. Er wird prämiert und schließlich zum Geheimrat gemacht.

Diese Art von Karriere wird in Kleopheas Lebensbeichte am Ende des Romans (in nur einem Satz) tatsächlich als Schandtat Dr. Steins aufgegriffen.

Und Sprüche und Redensarten aus 700 Jahren angeblicher Gewissheit von der Schlechtigkeit der Juden waren noch reichlich im Umlauf.

Raabe von seiner nahezu autistischen Aussenseiterposition aus fühlt sich eh keinem politischen Lager verpflichtet.

Und er schreibt „sehr modern“, wie es immer heißt. Also unverblümt und planlos.

Herauskommt das, was ich unlängst „Berg-und-Tal-Schreibe“ nannte.

Hochmotiviert beginnen und solange schreiben, wie es gerade geht, auch wenn die Inspiration bereits versiegt. Am nächsten Tag wieder hochmotiviert dort fortsetzen, wo es gestern gerade öde wurde – und sich sogar selber überraschen lassen, wie die Geschichte ausgeht.

Ich unterstelle ihm, dass er manche Details regelrecht vergessen hat, noch einzubauen.

Raabe kommt nach seiner „Soll und Haben“ ähnlichen Eröffnung ganz vom Wege ab. Bei ihm läuft nicht dieses paritätische Entwicklungs-Ping-Pong, wie bei Freytag zwischen Anton und Veitel. Moses ist in der zweiten Hälfte des Buches kaum vorhanden. Raabe ist es wichtiger, Kleophea zu „bestrafen“ als Moses! SIE muss sterben! Die „Strafe“, die IHN ereilt, ist eine typisch raabe’sche, hingeschludert milde.

Aber das stört auch nicht, weil sich der Schwerpunkt der Handlung eh weit verschoben hat.

Es geht um Hans Unwirrsch und „Das Glück von Grunzenow“, um mal einen Titel von Paul Heyse zu bemühen, der da heißt „Das Glück von Rothenburg“. Hier, wie dort geht es darum, dass man mit dem Spatz in der Hand glücklich werden kann, wenn die Taube auf dem Dach – fort ist. Franziska statt Kleophea!

Hans und Franziska finden sich; und die „Hungerpfarre“ in Hinterpommern mag ärmlich sein, aber der Weg dahin hat sich gelohnt, anstatt entsagungsvoll wiederum nur als armer Schuster in einer dunklen Werkstatt sein Leben zu verdämmern.

Die Küste und die Brandung lassen an Goethe denken: „Mit freiem Volk auf freiem Grunde stehn!“

Auf dem Gut derer von Bullau hat Hans nichts zu fürchten. Er kann sich frei fühlen.

Von Bischoffs-Karrieren träumt er nicht.

So wie Raabe sich einredet, Villa wie Heyse oder Etagenwohnung wie Spielhagen nicht zu benötigen.

Fazit: Ist der „Hungerpastor“-Roman nun antisemitisch? Ja, ein bisschen; aus der Zeit heraus. Es stört (mich) aber nicht, weil er trotzdem ein ungeschönt glaubhaftes Bild von der ersten Hälfte des 19.Jhds malt. Und weil man Moses Freudenstein nicht unbedingt als bösen Veitel Itzig II. lesen muss, sondern auch als eine Freundschaft, die sich im Laufe der Zeit überlebt hat, lesen kann. Und wer kennt sowas nicht?

Der Hungerpastor (2)

(Vorwarnung: is‘ lang geworden. Alte Männer eben. Opas die (noch)keine sind, labern halt das Internet tot.)

mde

Du liest ein Buch, das dich packt. Du liest schneller als sonst; schaffst gar mal wieder hundert Seiten am Tag. Das ist lange nicht mehr vorgekommen! Kurz vor Schluss ahnst du zwar bereits, was jetzt noch kommt, aber egal. Als es eintritt, wie vermutet, ist es trotzdem nicht langweilig, die letzten 40 Seiten zu schaffen, da auch sie mit tiefgründigen Lebensweisheiten gespickt sind. Und so einige Triggerbegriffe jagen dich ein weiteres Mal „in deine eigenen Anfänge“, weil die Situation des Hilfspredigers Unwirrsch da in Hinterpommern an die des Absolventen in der Niederlausitz erinnert. – Dann ist es vorbei. Letzte Seite. Durch!

Du klappst das Buch zu. Die Begleitmusik läuft noch. Du starrst auf einen Fleck und lauschst den Stimmen der Jahrzehnte, die du hinter dir hast und die nun alle durcheinander quaken.

Versuch es zu ordnen, los!

1. Das Allgemeine

Der Roman durchläuft 3 Etappen:

  1. a) Unwirrschs Jugend bis Studienende; (1820- ca. 44)
  2. b) Unwirrschs  Hauslehreranstellungen; (1844-1847)
  3. c) Unwirrsch in Grunzenow. (1847-48)

Anspruchsvolle Romane gaben sich damals den Anschein der Überregionalität dadurch, dass allzu genaue Ortsangaben vermieden wurden, damit so das beschriebene ÜBERALL hätte sein können. Bloß kein Lokalschriftsteller werden!

Das verursacht dann aber das Problem, dass keine Figur so richtig Mundart sprechen kann, da diese ja ein Hinweis gewesen wäre. Somit erfindet Raabe für alle seine Käuze, die den Roman bevölkern, so ein Phantasie-Idiom, in dem gern „mir und mich“ verwechselt wird, „als wie“ straflos vorkommt und Fremdwörter mit volkstümlich falschen Schreibweisen und -Endungen den Bildungsstand erkennbar werden lassen – damals – in unbelesener Zeit; ab 1820 aufwärts.

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1a) Unwirrschs und Freudensteins Jugend (1820 – 1843/44 ungefähr)

Der eine und der andere, wie Anton Wohlfahrt und Veitel Itzig! Gustav Freytags „Soll und Haben“ war 10 Jahre vorher da. Und es war ein Literatur-Hit aus dem Stand! 1855 war das der erste Roman, der als „realistisch“ galt und der mit seinen 900 Seiten auch eine gerade noch fassliche Form hatte. Karl Gutzkow hatte zwar ähnliches vor, jedoch seine „Ritter vom Geiste“ gerieten uferlos. In „Soll und Haben“ hatte Freytag diese Konstellation erfunden: Der Bürger und der Jude; auf unterschiedlichen Werdegängen. Sprechende Namen, die eine volle Charakteristik sind. Kantenlos holdselig der eine, hinterlistig bös der andere. Das Bürgertum 1855 tröstete sich über die Pleite von 1848 hinweg, gewann in Wohlfahrt einen neuen Helden des puren ökonomischen Fleißes. Das Buch stand 1864 bereits in jedem Bücherschrank, so man sich einen leisten konnte. Der Freytag-Hype als neuer „Dichterfürst“ auf dem verwaisten Goethe-Thron, war wohl Hauptinspiration für Raabe, es ihm gleich zu tun, bzw. es sogar besser machen zu wollen. Denn bei Lichte besehen ist „Soll und Haben“ eine ziemlich dröge Angelegenheit. Zusätzlich gab es seit 1862 bereits „Die Problematischen Naturen“ des Newcomers Spielhagen – und auch der wurde dafür bereits gefeiert.

Bucherfolge jener Zeit muss man sich wie Smash-Hits in den 1960ern und 70ern vorstellen. In radioloser Zeit, waren sie DIE Kulturereignisse, die besprochen wurden.

Und nun erlebten die belesenen Kreise da 1864 ihren Beatles oder Stones Moment: Freytag oder Raabe. (Und abseits grinste das dritte Lager: Weder noch, sondern Spielhagen, also The Who jener Zeit.)

Freytag und Raabe sind in heutiger Zeit in Verruf geraten: Antisemitismus; finden aber auch (noch) Verteidiger. Ich spare diese Problematik für „Hungerpastor 3“ auf.

„Soll und Haben“ enthält eine feinsinnigere Intrige, die der Böse einfädelt und der Gute aufdröseln muss. Aber Freytag lässt sich eben auch 900 Seiten Zeit. (Tipp an den Vielleser: Diesmal hab ich nachgesehen!)

„Der Hungerpastor“ bringt es in meiner 1912er Ausgabe auf 397 Seiten. Raabe kommt also schneller zu Potte. Der Konflikt kommt hier simpler daher, aber dafür wird Elend realistischer beschrieben als bei Freytag!

nap7Anton Wohlfahrt trifft auf Veitel in einem Gutsherrenpark; quasi in einem Paradies, das später den Zankapfel abgeben wird. Beide sind auf Wanderschaft in ihre jeweiligen Lehrverhältnisse. Es steckt also etwas Biblisches in diesem Romanbeginn: Veitel provoziert mit der Frage: „Das alles könnte dir gehören! Soll ich es dir beschaffen?“ Veitel als Schlange bzw. als Mephisto. Bibel und Goethe.

Hans Unwirrsch und Moses lernen wir gleich bei ihrer auf den Tag gleichzeitigen Geburt in der Kröppelgasse einer Stadt, die Neustadt heißt, kennen. Sie kommen aber erst im Alter von ca 10 Jahren zusammen und bleiben Freunde mit gemeinsamem Lebensweg bis sie 24 sind.

Die sprechenden Namen sind hier seitenverkehrt verwendet. Jeder hat das, was dem andern fehlt. Zusammen wären sie EINER; wenn man so will.

Auch Oheim Grünebaum ist eher schon morsch – oder, als alter Junggeselle, ewig unreif. Die Base Schlotterbeck schlottert nie! Sie ist die Mutter Courage der Kröppelgasse.

Raabe bebildert hier: Lern die Menschen kennen, jenseits des ersten Eindrucks!

Wenn Freytag die Bibel bemüht, so bedient sich Raabe einer anderen bekannten Anmutung: Unwirrsch wird einem alten Vater „nach langem Sehnen nun endlich doch noch“ geboren.

Ein Schelm, wer an Dornröschen denkt! Hundert Jahre schlafen muss der kleine Hans zwar nicht, aber er hat schon auch einen langen Weg als Schnarchsack vor sich, ehe er „erwacht“.

In beiden Romanen sind die positiven Helden jedoch seltsam asexuelle Streber. Am Gymnasium keine Streiche. Im Studium keine Feten. Da wird nur ganz kurz mal für eine Fee geschwärmt und ansonsten wird GEARBEITET und geschlafen. No Sex till 30! Prüde. Verkniffen.  Hier wirkt Raabe wieder sehr autistisch. Er scheint das nicht zu kennen. Im Roman von den „Leuten aus dem Walde“ war das genauso.

„Die Zeit!“ könnte man denken. Aber Heyse schrieb zeitgleich seine frühen Novellen vom „Bild der Mutter“, vom „Grafenschloss“! Was da alles ging!

Auch Spielhagens Hauptfiguren unterliegen Hormonstürmen im passenden Alter!

Freytag und Raabe sind elende Spießer.

1b) Unwirrschs Lehrjahre als Hauslehrer ( ca.1844-47)

Um 1864 sind Märchen „IN“.  Inzwischen nicht nur die Grimm’schen, der Erziehung wegen, sondern sogar die aus „1001er Nacht“, wegen der Exotik.

Die Gebrüder Grimm haben ihre Hausmärchensammlung zwar bereits 30 Jahre vorher auf dem Markt, aber erst um 1860 beginnen die belesenen hundert Jahre; das Lektüre-Zeitalter: Als Analphabetismus schwand, Massenauflagen ungeahnte Buchumsätze ermöglichten; das literarische Niveau wuchs, Bestsellerautoren von ihnen großbürgerlich leben konnten, ohne nebenbei noch Zeitungen herauszugeben oder irgendwo lehren zu müssen. Raabe gehörte nie dazu. Seine Verhältnisse blieben – bescheiden. Vornehm ausgedrückt.

Er verwendet hier deutlich erkennbar den Drei-Schritt, den viele Märchen kennen:

Drei Anstellungen muss Unwirrsch „erdulden“, bevor er „erhöht“ wird.

Drei Brüder Götz spielen eine Rolle in seinem Leben. Wie die 3 Müllerssöhne im „Gestiefelten Kater oder in „Tischlein deck dich!“ Und immer ist der Loser der eigentliche Gewinner; und der, der alles hat, höchstens zu bemitleiden, wenn nicht gar zu hassen.

Rudolf Götz, der älteste von den dreien, ist ein heimatloser Waterloo-Veteran, der Loser, der dreimal Glück bringt; er tritt als erster auf und der Name ist Programm und Goetheanklang: Die Welt kann ihn am Arsch lecken.

Theodor Götz, der mittlere Bruder, zu kränklich für die Befreiungskriege, macht Bürokratenkarriere, wird Steuer-Rath, heiratet Wohlstand, aber ist unfähig in seiner traumhaft schönen Villa ein harmonisches Familiendasein zu erzeugen. Er ist zum Götzen-Dienst verdammt. Denn er ist an eine „böse Königin“ geraten, unter deren Fuchtel er steht. Frau Götz, geborene von Lichtenhahn, hasst ihren Mann und sich für diese Mesalliance, gibt sich bigott-arrogant und „selbstverständlich makellos“, macht jedem Hauslehrer das Leben zur Hölle, da diese nicht in der Lage sind, unter ihrer Aufsicht das verzogene Miststück von Söhnlein zu beschulen. Raabe beschreibt eine Helikoptermutter – als es noch gar keine Helikopter gab!

Felix Götz, der jüngste von den dreien, geistert nur als Toter durch den Roman. Wichtig ist sein „Überbleibsel“, die Tochter Franziska. Wie man sofort richtig ahnt: Die zukünftige Frau Unwirrsch. Felix Götz ist mit 17 von der Schule weggerannt, um sich den Frei-Corps anzuschließen. 1813-15 kämpft er romantisch schwärmerisch beseelt von Freiheit und Vaterlandsidee und wird enttäuscht. Er findet nicht zurück in zivile Verhältnisse. Ein weiterer Götz von Berlichingen: „Bürger-Karriere? Leck mich!“ Die Todesumstände lässt Raabe im „Ungefähren“, streut aber Andeutungen, sodass der Leser wählen kann, woran er glauben will: Duell? Suff? Syphilis? Die typischen Probleme der „Rock-Stars“ jener Zeit.

Gleich zwei Brüder also Befreiungskrieger, hinzu kommen noch Oberst von Bullau, Feldprediger Josias Tillenius und der Stammtisch der „Neuntöter“, allesamt Waterloo-Veteranen, und an der Katzbach dabei, und bei Leipzig und Paris…

DAS ist die eigentliche Sensation, für die man den „Hungerpastor“ feiern sollte; denn:

Raabe bohrt hier in einer Wunde des öffentlichen Bewusstseins. 1864. Das liegt knapp vor 1871. Der Roman entsteht in dem Jahr, indem der Deutsche Bund durch den Deutsch-Dänischen Krieg seinen Todesstoß erhält. Der Norddeutsche Bund wird entstehen und zwei weitere Kriege werden folgen. 1871 ist die Einheit endlich da und all die Helden von 1813-15 sind dann auch endlich medial „IN“. Von 1815 bis 1871 wurden sie totgeschwiegen.

nap5

Wellington und Blücher bei Waterloo – NICHT ABBA!

Zwar durfte der eine oder andere literarische Text über das Thema Napoleon gedruckt werden, aber offizielle Anerkennung; Jubiläum 50 Jahre Völkerschlacht 1863? Undenkbar!

Und so wurde es 1864 eben Zeit für dieses Buch!

1815 ist dem Hochadel voll bewusst, wie sehr er zuvor versagt hat. Er zitterte, er zauderte nach der Russlandpleite, er wollte das Volk zwingen, ruhig zu bleiben und weiterhin zum Rheinbund zu halten, aber die Erhebung lief bereits: Blücher, Scharnhorst, Tauenzien, schlugen bereits los. Gerade noch rechtzeitig hinkte König Friedrich Wilhelm III mit seinem Aufruf dem Zeitgeist hinterher. Der Mecklenburger in Schwerin tat es ihm nach. Jetzt war Napoleon schwach! Jetzt geht was!

Raabe 5c

Der Rückzug aus Russland 1812/13 – also nicht Hitler!

Napoleon hatte die Fürsten von Bayern und Württemberg zu Königen ernannt, die zitterten um ihren Titel und vor dem Volk. Sie schickten Napoleon erneut Truppen. In der Völkerschlacht bei Leipzig liefen sie über. Sachsen ebenso.

Der damals neue Nationalismus, der KEIN Nationalsozialismus war, hatte die alten Privilegien des Absolutismus gefährdet.

Der Wiener Kongress rückte die alten Strukturen wieder grade.

Niemals sollte an die Stunde der Schmach der Regierenden erinnert werden! Die vornapoleonischen Zustände sollten (soweit wie’s geht) wiederhergestellt werden. Restauration!

Keine Jubelfeiern aus Anlass irgendeines Schlacht-Jubiläums!

Keine Blücher-Denkmäler!

Keine Straßennamen nach Schill, Hofer, Lützow!

Biedermeier! Schnauze halten! Für fast 60 Jahre!

Studenten radikalisieren sich und werden gejagt. Die übrigen Untertanen ziehen die Michelmütze tiefer über die Ohren und üben sich im „unpolitisch Sein“.

Und Raabe scheißt auf das Tabu!

Er lässt die Kämpfer auftreten, als alte Herren, untergekommen in allen möglichen Berufen.

Liebenswerte Leute; bissel kauzig; und versoffen. Sie treffen sich in der Kneipe zum Grünen Baum als „Neuntöter“ zum Stammtisch. Den Namen gaben sie sich, weil als Gesetz gilt: Ein jeder darf in seinem allabendlichen Kriegerlatein nur 9 Leichen haben. Ansonsten muss er Strafrunden schmeißen.

(Außerdem passt der Name Neuntöter auch, weil es da einen Singvogel gleichen Namens gibt, der seine Insekten und Würmer auf Brombeerheckendornen spießt. Aber kaum einer hat sowas je in freier Wildbahn mal gesehen! Wie auch all die Freiheitskämpfer – Raabe stellt hier „Vögel“ vor, die keiner kennt.)

Wie antwortet der Wirt vom Grünen Baum dem Leutnant Götz bei Betreten des Restaurants auf dessen Frage:

„Neuntöter da?“

„Jeder Vogel auf seinem Ast!“

Die drei Götz-Brüder haben noch andere Spuren hinterlassen:

1868 veröffentlicht Spielhagen seinen vierten großen Zeitroman. „Hammer und Amboss“.

Auch dies ein Entwicklungsroman, in dem ein gewisser Georg Hartwig durch viele Stationen muss, um solides Glück zu finden. (Spielhagens Georg kommt ohne Juden als Konterpart aus.)

Aber auch ihm begegnen im Laufe der Zeit drei Brüder, die Einfluss auf ihn nehmen. Allerdings sind sie adlig und ihre Einflüsse sind deutlich andere. Der älteste ist der beeindruckende Individualist, das falsche Idol, weshalb Hartwig ins Gefängnis kommt. Der jüngste Bruder ist dort Gefängnisdirektor und ein Tugendbold; der mittlere ist -wie bei Raabe- der langweilige Bürokrat, der obendrein hier auch noch Zinker ist und seinen älteren Bruder verrät, obwohl dieser ihm seinen sündhaft teuren Lebensunterhalt finanziert.

Raabe hat sich oft neidhammelig sauer über Spielhagen geäußert, sicherlich, weil dieser hatte, was Raabe zeitlebens fehlte: Ruhm und Wohlstand! Aber eventuell, weil er sich obendrein „beklaut“ fühlte.

1c) Grunzenow und Happyend (1847/48; weltabgeschieden, ohne Revolution)

In diesem letzten Drittel wird es so märchenhaft, dass Raabe selbst diesen Begriff ehrlicherweise mehrfach einschiebt. Für damalige Verhältnisse ist Grunzenow in Hinterpommern von Berlin aus noch so „märchenhaft“ weit weg, wie Kalifornien in seinem vorangegangenen Roman über „Die Leute aus dem Walde“. Eindrucksvoll wird die Umständlichkeit des Reisens 1845 geschildert.

Raabe schmeißt auch märchenhafterweise mit lauter friesisch-dänischen Fischernamen um sich: Johannsen, Klaasen, Petersen. Niemand heißt hier Pebelow oder Pryczibylski! Und Oberst von Bullau, ein alter rüstiger Mini-Blücher, spricht „da oben“ als alteingesessener Gutsherr einen Dialekt, der eher Machdeborgisch anmutet. Kein Fischi-Deutsch. Vermutlich sind ihm die gerade genannten Fehler wirklich durch Unwissenheit passiert und nicht durch bewusste „Überregional-Machung“.

Oberst von Bullau und winters auch Leutnant Götz hausen also in ihrer Junggesellen-Burg mit rein männlicher Dienerschaft. In dieser Karikatur eines Gutshauses wohnen somit alle guten Geister, die es braucht, um Unwirrsch und Franziska endlich zu verkuppeln. Und die Neuntöter geben helfende Tipps.

Hier treibt Raabe seine Heldenverehrung für die totgeschwiegenen Schutzgeister Deutschlands auf die Spitze: DIE und nur DIE richten, was verbogen ist! Ohne diese alten Herren – keine Chance auf Glück für Unwirrsch und Franziska!

Last but not least hab ich mir das Folgende für den Schluss aufgehoben:

Wieder 10 Jahre später wird sich ein anderer Autor den Raabe zunutze machen, wie einst Raabe den Freytag:

Ein erster Verdacht war mir bereits gekommen, als Raabe Hansens Oheim Grünebaum in gar seltsamem Outfit auf den Abiturienten Hans warten ließ, aber dann:

nap1Diese Waterloo-Veteranen… Das ist das Figurenensemble der Herren von Greifenklau! Oheim Grünebaum ist eine Mischung aus Sam Hawkins und Tante Droll. Auch Namen wie diesen hat sich Karl May bei Raabe abgeguckt. Als Trapper Geierschnabel nach Deutschland reist und sich zivilisiert gewanden muss – ist er eine weitere Grünebaum-Variante.

Und: May guckt sich auch die Art der Elendsschilderung hier ab. Oft aus Kinderperspektive erzählt, damit man Dinge sagen kann, die sonst Probleme bekommen hätten, in gut bürgerlichen Familienblättern gedruckt zu werden. In ein bissel Kitsch verpackte drastische soziale Anklage!

– Raabes „Leute aus dem Wald“ – da ist das idyllische Försterhaus, aber nur eine Bettstatt für 7 Kinder; mit Waldlaub statt Bettzeug. Und 5 von 7 sterben darin ohne ärztliche Hilfe. Weil der treue Förster fleißig ist, aber nichts verdient.

– Raabes Hans Unwirrsch als Sohn eines fleißigen, sparsamen Schusters hat ein kleines bisschen Startkapital fürs Gymnasium, muss aber betteln gehen für ein Stipendium, damit es reicht. Als er arm und dürftig gekleidet beim Herrn Assessor Dank sagen will für bewilligte Förderung, sieht er dessen Villa und dessen Töchter, wie sie in ihren langen Kleidern zu schweben scheinen, wie sie kichern. Er ist verblüfft. Geschockt. Verdaddert. Diesen Lebensstandard kennt man in seiner Kröppelgasse nicht! Als er seinem Freund Moses von diesem märchenhaft schönen Eindruck erzählt, erdet der ihn umgehend:

„Man hat dir eine Tür geöffnet und eine neue Welt gezeigt. Aber niemand rief: Herein!“

Und Raabe selbst ergänzt später:

„Es gibt allzeit fleißige Menschen, denen es vergönnt ist, aufzusteigen. Da, wo sie herkommen, werden sie verehrt. Aber da, wo sie ankommen, sieht man lediglich die Herkunft.“

Mays „Sklaven der Arbeit“, das „Buschgespenst“ und einige der Erzgebirg-Geschichten hauen in die gleiche Kerbe.

May wird ab 1875 bekannt und er hatte zuvor im Knast viel Zeit zum Lesen!

Raabes Zitat von der „lediglichen Herkunft des Emporkömmlings“ wird sich an ihm besonders bitter bewahrheiten.

Aber Raabes „Hungerpastor“ half ihm seine Käuze zu erfinden, denen ein hundertjähriger Erfolg beschieden war.

Alles hängt mit allem zusammen.

(Auch wenn es vergeblich ist:) Entdeckt die Alten neu!

Der Hungerpastor (1)

„Menschheit, du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu.“ (Ch. Bukowski)

Mir leuchtete diese Maxime bereits während meiner Armeezeit ein, ohne sie formuliert zu haben. Aber die Welt von Prora war um 1980 nunmal voller Assis. Gelesen hab ich sie erst nach der Wende. Aber heute ist sie aktueller denn je. Und obendrein liest sie sich wie ein Credo zu Raabes Schaffen. Der wiederum für mich eine Art von Prä-Schmidt ist. (Gemeint ist Arno Schmidt; der Prophet von Bargfeld). Merke: Alles hängt mit allem zusammen.

Jedes Ding hat seine Entsprechung in alter und zukünftiger Zeit.

Und gute alte Bücher beweisen dir das zeitweilig derart, dass es dir den Atem verschlägt: „Wow! Damals schon?!“

Raabes lesbarster Roman – „Der Hungerpastor“ von 1864 verführt in einem fort zur Rückschau. Guck an! Kenn‘ ich! Ging mir auch so – hundert Jahre später! Watsch! Der traut sich was! Hat ihm keine Freunde gemacht. Kenn’ich! Bin in ähnlichen Fettnäpfen zu Hause gewesen – usw. usf.

„Ich habe alle Begeisterung, so der Mensch fühlen kann, in meinem Herzen gefühlt; ich habe auch allen Menschenjammer gesehen und in mir gespürt. Nun fahren mir die Erinnerungen immerdar zwischen die Buchstaben und Zeilen …(und)… schütteln die Gedanken durcheinander.“

Resümiert der alte Waterloo-Feldprediger als greiser Dorfpfarrer in Grunzenow/Hinterpommern am Ende seines Lebens und am Ende des Romans.

Ja, so ist es. Prompt stehst du wieder im hohen, langen Flur der Altbauwohnung und die Geister der Kinderzeit sind alle wieder da. „Down the edge of korridors into the gates of time“… Wie Dan Fogelberg singt und Raabe schreibt – das gehört zusammen! Silently the past come stealin‘.

Dir wird bewusst, was es heißt, Boomer zu sein, dessen Kindheit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts fiel – und wieviel 19. Jahrhundert da noch zu erleben war!

Raabe lässt das erste Romandrittel zwischen 1820 und 1830 spielen – und auch das kenne ich: Diesen Hang zu knapp verpassten Zeiten. Raabe ist 1830 geboren und malt (sich) die zwanziger aus. Ich bin 1960 geboren und bin stets gefährdet all dem 50er Jahre Kitsch zu verfallen. Ein herbeierzähltes Idyll aus Petticoates und Doowop, trotz Walter U. und GULAG.

Er beschreibt den Werdegang von zwei Spielgefährten: Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein.

Die sprechenden Namen sind anders gemeint, als es auf den ersten Blick scheint. Dazu mehr in „Hungerpastor (3)“.

Unwirrsch ist ein Schuster-Sohn, der einen anderen Weg geht, als alle seine Vorfahren. Aber zunächst erlebt er eine Kindheit in kleinstädtischer Handwerkerarmut vorindustrieller Zeit.

Die Schusterwerkstätten seines Vaters und seines Onkels werden derart lebendig beschrieben, dass es mich prompt an „unseren Schuster“ in Naumburg erinnerte, auf dessen ebenfalls lichtlose Werkstatt mit den seltsamen Gerüchen in all der Enge der Regale das alles auch passt. Der alte knurrige Mann mit der Lederschürze, wortkarg und mit den Gedanken eh immer woanders, der mit Kreide eine Nummer auf die Sohlen der kaputten Botten schrieb und diese dann mit Stift von hinter dem Ohr auf ein Kärtchen übertrug und irgendwas knurrte, was wie „Freitagmittag“ klang.

Und es war auch eine Schuster-Tochter, der ich in der 3. oder 4. Klasse jenes Skatkartenspiel abkaupelte, dass bis heute in meinem Schreibtisch überlebt hat – und nach dem die ganze Schublade riecht: Diese Werkstattmischung aus Schweinsleder, Lederfett und Schuh-Creme.

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Frau und Tochter weigerten sich stante pede mit diesen Karten Mau-Mau, Krieg, Schafskopf oder Kanaster zu spielen, wegen: „Iiiiiiiiiiiih! Die doch nicht!“

Ich alter Bewahrer aber schätze sie, weil: Unter-Ober-König hier Beine haben und die Dame im Ensemble fehlt! Mit 9 Jahren war mir, als hätt‘ ich einen Schatz geborgen, wie Hans Unwirrsch, als er die Hinterlassenschaften seine verstorbenen Vaters sichten darf.

Vater Unwirrsch hatte eine Glaskugel über der Kerze hängen, bei deren Licht er so auch in der Dämmerung noch arbeiten kann und schließlich auch spät abends noch grübelt; denn jene frühe Disco-Kugel reflektiert das Kerzenlicht und wirft Schatten an die Wände, während der arme Mann sein Schicksal bedauert, nicht genug Geld übrig zu haben für Bücher, die seinen Hunger nach Wissen stillen könnten.

Gebrochenes Licht, wandelnde Schatten, Farbenspiele. Wer kennt sie noch, diese Trostpreise der Los-Bude, diesen Taschengeld-Dieb im Papierwarenladen: Kaleidoscop. Halb Fernrohr, halb Zauberstab. Du guckst unten rein und siehst lauter bunten Flitter…. „Magic!“

Und wieviel buntverglaste Fenster die alte Stadt hatte! Auch die elendste Hinterhof-Laube hatte Buntglas-Oberlichter aus Kaisers Zeiten! Butzenscheiben in allen Altstadt-Restaurants und in den Kneipen der Burg-Ruinen! Nach der Wende wurde zwar der sozialistische Verfall gestoppt, viele Fassaden feierten Wiederauferstehung – jedoch all das Buntglas war futsch. Flair, das zumindest ICH vermisse!

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Die Stadt hatte auch in den 60ern neben den Schustern noch die vielen Tante-Emma-Läden. Mir musste später keiner erklären, warum die so hießen, denn ein jeder wurde von so’ner ältlichen griesgrämigen Krieger-Witwe geführt: Missmutig rappelte sie sich im Hintergrund vom Häkeln auf, wenn die Ladenbimmel störende Kundschaft anzeigte. Das Warenangebot kurios zusammengestückelt: Sammeltassen, kleine Porzellan-Figuren, Touristenkitsch in Form von Abziehbildern mit Burgruine oder gebogenen Wanderstockbeschlägen. Manchmal stand ein einsamer Indianer oder ein Matchbox-Auto zwischen all dem Nippes. Der Grund des Besuches!

Sie fristeten ihr Rentnerinnen-Dasein mit diesem Zubrot zur spärlichen Witwenrente, fern von allen HO- oder Konsumgenossenschaftszwängen. Einer nach dem anderen verschwand durch Ableben der Eigentümerin.

Die verschnörkelten Schaufenstereinfassungen blieben und verrieten mit der Zeit und wenn der Holzwurm fleißig war, dass sie eben nicht aus Marmor oder Granit gemeißelt waren. Schnödes Holz. Und immer mehr Abblätterungseffekte mit fortschreitender „entwickelter sozialistischer Gesellschaft“. Ein gelungener Luxus-Fake aus alter Zeit.

Diese Witwen fielen mir immer dann ein, wenn Raabe beschreibt, wie in der Kröppelgasse stets das Haus voll ist, wenn einer stirbt. Alle Nachbarinnen sind zugegen, die halberblindete Hebamme ist die Totenwäscherin, die andern organisieren den Leichenkuchen, gaffen, beschnacken den Vorgang und den Sarg, vergleichen die diversen Variationen des Ablebens der letzten Zeit, bejammern die Hinterbliebenen.

Und so geht das in einem fort.

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Führ/Speck „Naumburg a.d.S. Die Stadt auf historischen Fotografien“

Die Kröppelgasse im Buch könnte die Engelgasse oder die Paul-Heese-Straße von Naumburg sein. Das Identifizieren wird von Seite zu Seite leichter.

Hansens Oheim Grünebaum in all seiner Schrulligkeit könnte (zusätzlich zu tatsächlichen Schustern) auch Udos Opa sein. Solche Käuze kommen heute nicht mehr vor. Die sonderten einen Spruch nach dem andern ab; laberten Dittsche-mäßig den ganzen Tag lang den buntesten Unsinn mit realem Kern, dass es dich von Zeit zu Zeit vor Lachen zerfetzte.

Beispiel: Udos Opa weiland 1966 oder 67 in der Bäckerschlange, als einziger alter Mann unter lauter „Weibern“ und mir als Ohrenzeugen:

(Eine Kundin hielt den Laden auf, weil sie -typisch weiblich- erst nicht wusste, was sie nehmen will und schließlich noch Familiengeschichte abspulte. Plötzlich grölts in unmissverständlichem Bariton:)

„Is‘ dor Bäggor schonn dohd, oder geht’s da vorne nochäma weitor! Ich stehe hier doch nich‘ bis de Tätowierten andor Macht sinn!“

Lachende Zustimmung des „Warte-Kollektivs“ und fluchtartige Entfernung jener Tratsche aus dem Laden.

Das Neustadt des Hans Unwirrsch hat ein Gymnasium und ist drei Tage Fußmarsch von der nächsten Universität weg: Also Naumburg und Jena, da von bewaldeten Bergen die Rede ist, die beide umgeben.

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„Man studiert in Halle oder Jena“ – legt Raabe selbst irgendwo im Buch die Spur.

Es entrollt sich ein unterhaltsamer Entwicklungsroman, mit Witz erzählt, gesellschaftliche Missstände abwatschend – und(und das ist wichtig zu erwähnen, bei Raabes gefürchteter Berg-und Tal-Schreibe) – der von A bis Z die Spannung hält!

Es ist ein Werk, das viel aufgreift, was vorher war und das anderen zum Wegweiser wurde, die später kamen; wie noch zu erzählen sein wird. (Siehe Teil 2 demnächst.)

Und es ist ein Werk, das im Verruf steht, ein „Meisterwerk des Antisemitismus“ zu sein. Ein Vorwurf, der sich nicht in einem Satz bestätigen oder abstreiten lässt, wenn man sachlich bleiben will. Deshalb dazu ein Extra-Post im dritten Teil.

Die Leute aus dem Wald – Raabe mal wieder

Uff! Ich hab es durch. Genuss ist anders. 400 Seiten. Aber ich hielt aus. Es war eine Qual. Aber es war auch interessant. Ja phasenweise schön! Anheimelnd. Witzig! Öde Seitenschinderei. Spannende innere Monologe! Holprige Wendungen. Lustlos hingeschlampte Episoden. Herrliche Zitate! Wortspiele! Hochdramatische Ansätze, die sich in Nichts auflösen. Anschauliche Alltagsschilderungen im Mietshaus des Kleinbürgertums der 40er Jahre des 19.Jahrhunderts. Ein zu simpler, löchriger Handlungsfaden. Ein Erzähl-Chaos.

Der Plot taugt nix. Der Aphorismensteinbruch schon!

Meine Rezi hier wird auch einer. Ein Assoziationssteinbruch.

Bisher sagte ich stets: „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier ist das schlechteste Buch, das ich je gut fand.

Aber nu macht Old Raabe ihm den Platz streitig.

Der Portugal-„Nachtzug“ zeichnet sich aus durch einen absolut mies konzipierten Handlungsablauf. Zur Erinnerung: Ein alter gestandener Gymnasiallehrer in der Schweiz rettet einer jungen Selbstmörderin ebenda das Leben, holt sie vom Brückengeländer zurück, weshalb sie sich bedankt und ihm ihre Telefonnummer auf die Stirn schreibt… Daraufhin schmeißt er seinen Job hin; geht nicht mehr zum Dienst, sondern macht sich auf den Trip nach Lissabon. Tja. Nur hat jene Frau und jene Telefonnummer nun keinerlei Bedeutung mehr. Nochmal -tja. Und auch der Nachtzug selber ist nur für ein oder zwei Kapitel gut, denn die übrige Zeit recherchiert er in Lissabon herum, auf den Spuren eines Heftchens, das er beim Antiquar zuhause erstanden hatte. Dickes Zusatz-Tja! Eine seiner Schülerinnen hat Zugang zu seinem Konto und kann ihm Geld schicken – ach hör doch auf!

Da sind also so Sprünge; Schwerpunktverlagerungen; immer wieder glaubt man zu wissen, worum es geht – peng – neuer Aspekt. Immerwieder „och nö!“ Stellen, die einen aufgeben lassen wollen – aber immer wieder auch „Hui!“-Momente, wegen denen man dann doch dranbleibt.

All diese portugiesische Diktaturgrübelei des alten Lehrers hat dann doch jede Menge mit mir als Leser „mit DDR im Blut“ zu tun gehabt, auch wenn ich nun nicht DIESE Probleme hatte, wie dort geschildert. Aber das Buch tippte vieles an, was „noch nicht vergangen“ war.

Ein seltsamer „Genuss“.

Und Raabe?

Es ging mir hier genauso, die Lissabon-Erinnerung stellte sich immer wieder ein.

Der Plot ansich ist doof: Robert Wolf, mittelloser Förstersohn, hat Probleme, findet Helfer, die ihn vor Knast bewahren, weshalb er erst studieren kann und dann nach Kalifornien reist, um reich zu werden, damit er schließlich seine Traumfrau kriegt und sein Heimatdorf kaufen kann.

DAS also ist es nicht, was einen fesselt.

Raabe selbst, der das Seitenkonvolut 1863 für die Westermann-Monatshefte erschuf und es erst 1890 in Buchform erscheinen ließ, gab diesem Frühwerk mit auf den Weg, es sei

„ein Litteratur-Küken, dem die Eierschalen noch am Kopfe kleben“.

Stimmt.

Viel zu oft bricht er den Erzählstrang einfach ab, indem er Sätze passieren lässt, die anspruchsvolle Autoren vermeiden sollten:

„Lassen wir die beiden nun allein und begeben uns in die Kronenstrasse, wo zur selben Zeit…“

„Ein Jahr und ein halbes sind vergangen, seit die Leute dieses Buches uns zum ersten Male vor Augen traten…“

„Während dies geschieht entführt der Autor den geneigten Leser nun nach Hamburg, wo Robert inzwischen…“

„Was nun besprochen wird, tangiert uns nicht, wechseln wir also die Straßenseite ins Haus Nr.17, wo inzwischen…“

Holprige, schlampige Überleitungen so oder so ähnlich zuhauf.

Aber er schildert Alltagsleben in einer nicht genauer namhaft werdenden Hauptstadt im „ach so tollen Deutschen Bunde, in dem so gar nichts zum Besten steht“. Er schildert die Hausgemeinschaft der Mozartgasse Nr.17 mit allen ihren Macken, in all ihrer Dürftigkeit und zusätzlich ist in Hof und Haus „an Mäusen und Ratten kein Mangel“. Klartext eben.

Er ohrfeigt die Titelhuberei und Untertanenschleimigkeit, wenn er eine Abendgesellschaft bei Bankier Wienand beschreibt, in der eine „Exzellenz“ a.D. auftaucht, der man geflissentlich rückgratlos hinterher scharwenzelt.

„Und doch gibt es im Deutschen wohl keinen Titel, der unangenehmer berührte, als das abgeschmackte Wort „Exzellenz“! Es klebt ihm etwas Lächerliches und zugleich Unheimliches an. Ich weiß nicht, ist das Theater oder etwas anderes, „Kabale und Liebe“ oder unsere vorteffliche Diplomatie schuld daran? Selbst Wolfgang Goethes hohe Göttergestalt läuft komisch schillernd an, wenn man auf das Piedestal: Exzellenz! schreibt.“

Feinsinnig sarkastisch geohrfeigt in Arno Schmidt’schem Sinne!

Zeitlos auf dem Punkt. Warst du mal dabei, wenn ein Staatssekretär ein Kleinstadtrathaus „beehrt“? Musst du mal erleben! Alles kriecht, wie zu Kaisers Zeiten! Vor einem Zopfträger im Maßanzug, wie sich zeigt, ohne irgendeine Praxiserfahrung.  Nur Bludgy scheint mitzukriegen, dass diese Nase da nichts zu bieten hat, außer Schülersprecher an seinem West-Gymnasium gewesen zu sein; und der nun nach abgebrochenem PoWi-Studium Aufbauhilfe „in den neuen Ländern“ leistet. Ächz.

„Auch ein wohlgekleideter Dichter war zugehen… wurde aber von der Mehrheit der Herren mit mitleidiger Verachtung gemieden; nicht zuletzt, weil ihm kürzlich ein Preis nicht zuerkannt worden war, was zu beweisen schien, dass es sich bei ihm nicht um einen Shakespeare handelte“.

Eine Salon-Löwen-Watsche in Richtung Heyse, Freytag oder Spielhagen? Eventuell erst bei Bearbeitung für die Buchausgabe um 1890 ergänzt? Gleichzeitig auch die Entblößung der „intellektuellen“ Kreise, die nur goutieren, was zur „Exzellenz“ erhoben wurde.

Was haben wir noch:

Die sprechenden Namen sind zum Schreien: Herr von Poppen! (Denn der Adel hat „das Recht der ersten Nacht“, aber ansonsten keinerlei Aufgabe mehr.) Poppenhagen! (Gewissermaßen örtlich „eingehegtes/begrenztes Poppen“). Baronin Frau von Poppen; geborene von Zieger. Die Gouvernante Mademoiselle Schnubbe, der die Schicksale ihrer Schutzbefohlenen eben dieses sind. Polizei-Kommissar Tröster, der erstaunlich viel Mitgefühl für seine Elends-Deliquenten mitbringt. Gefängniswärter Greiffenberger, Schauspieler Julius Schminkert…

Nur Strittmatter (im 20. Jahrhundert) ahmt das ähnlich unverblümt nach: Operntenor Schreischlund; Parteisekretär Weißgott…

Manchmal ist das echte Leben dann noch härter drauf: Kammersänger Peter Schreier; Ostbeauftragter der Bundesregierung Wanderwitz; Pastor Eppelmann – ja, watt willste machen?

Fast alle Figuren des Romans haben Auftritte, in denen sie längere philosophische Betrachtungen zu ihrer Herkunft, zu ihrer Zeit abgeben. Das stoppt seitenlang die Handlung, erzeugt aber einige der besten Charaktere in Raabes Schaffen: Polizeischreiber Fiebiger, Sterngucker Ulex und die alte verstoßene Juliane von Poppen; drei Kindheitsgefährten, die sich ein Leben lang die Treue halten. Besonders letztere sticht heraus:

Eine alte, hinkende Adlige, die sich ihren guten Werken hingibt, auf den schlechten Ruf in ihrer Kaste pfeift, weil sie dafür die Achtung sovieler anderer erwirbt. Die von Poppen sterben einsam, bösartig verkracht mit der Welt. Niemand geht hinter ihrem Sarg.

„…du dagegen musst dir keine Sorgen machen, dass es dir genauso ergehen könnte. An deinem Grabe werden alle die stehen, die in ihrem Leben deine helfende Hand verspüren durften.“ (Fiebiger zu Juliane)

Kennst du sowas? So „alte Jungfern“, die der gute Geist (im Wortsinn) von Familien wurden, die sonst auseinanderzubrechen drohten? Die sich einbrachten mit Lebenserfahrung, Trost zur rechten Zeit, wenn’s Not tat auch mit einem reinigenden „Donnerwetter“, das man ihren leisen Stimmchen niemals zugetraut hätte? Vor deren 1,50m gebeugter Körpergröße Zweimetermänner stramm standen?!

Ich hätte da aus eigener Anschauung gleich vier zu bieten!

Darüber hinaus: Das Bild des schnellen Wandels im 19. Jahrhundert rundet sich.

Das Halseisen am Pfahl auf dem Gutshof; Ausdruck der Landgerichtsbarkeit des bösen alten Gotthilf von Poppen, findet seine drastische Erwähnung, ebenso das Kopfschütteln des menschenklugen Idealisten Fiebinger über den aufkommenden Schopenhauer.

Der geräuschlos fallende Schnee, der sein Leichentuch über all das arme-Schlucker- Elend decken will, wird beschrieben; aber auch, dass der aktive Fabrikschornstein ihn im Handumdrehen in eine dreckige Masse verwandelt, auf dem Giebel- und Dächermeer – über das der Sterngucker Ulex den Überblick hat.

Sah ich aus dem Fenster meiner Flöten- und Akkordeon-Lehrerin in der Altstadt, dann hatte ich diesen Spitzwegausblick auch. Auch die großen Fenster meiner POS gaben dieses Altstadtgiebelwirrwarrpanorama frei. Blumenkästen und Wäscheleinen vor Gaubenfenstern, rotes Bettzeug wie Stones-Zungen aus Wohnhöhlen bleckend; umringt von einen Wald windschiefer Fernsehantennen.

Amerika kann er nicht.

Die Kalifornienkapitel sind so langweilig wie bei Gerstäcker. Sein Roman „Gold“ erschien in den frühen 70ern in der Ehemaligen in der Jugendbuchreihe „Spannend erzählt“. Glatt gelogen. Mit Müh und Not kam ich mit 11 oder 12 Jahren bis Seite 70. Im Raabe-Nachwort ist vermerkt, dass er sehr wahrscheinlich DIESEN Gerstäcker aus dem Jahre 1854 zu Rate zog. Ebenso Dickens‘ „David Copperfield“ und Goethes „Wilhelm Meister“.

Raabes Amerika schwankt zwischen Realismus und Märchenland. Er hat sich von Gerstäcker die armselige Beschreibung der Zelt-und Bretterbudenstadt San Francisco „geborgt“, beschreibt das Völkergemisch und das Faustrecht, das zum Waffentragen zwingt; erfindet jedoch einen genialen Weltenbummler Hauptmann Faber, quasi bereits einen Prä-Shatterhand, als Begleitung für den unerfahrenen Robert Wolf hinzu und eine todkranke Verwandte, allein dahinsiechend in einem Blockhaus im Nirgendwo irgendeines Canons, wo Robert dann nur mit der Schaufel zu graben braucht, um prompt Nuggets zu finden.

Mir scheint zusätzlich, dass das Buch ein Anti-„Soll und Haben“ sein will. Robert Wolf kann als ein Anton Wohlfahrt gelesen werden, der mehr Ecken und Kanten hat, als sein reibungsloser Vorreiter.

Es ploppen beim Lesen also viele kleine „Blitzlichter“ auf.

Aber:

Die Lebendigen wandeln in Unruhe – der Tod schaut in das Buch.

Das ist eine seiner lapidaren Kapitelüberschriften. Er meint vermutlich wirklich nur DAS Buch hier, weil er in diesem Kapitel einen alten Sargtischler sterben lässt. Mir aber gab die Zeile so eine ganz eigentümliche Umdrehung:

Meine Kollegen, viele in meiner überalterten Branche nicht viel jünger als ich, „wandeln (weiter) in (der) Unruhe“ des Alltags. Ich „schaue ins Buch“ … Wie lange mag ich noch haben?

Falls du bis hierher durchgehalten hast:

Lesenswert ist dieser Raabesche Gedankensteinbruch auf alle Fälle!

RAABE lesen! (5)

Das Beste kommt wie immer zum Schluss:

„Im Siegeskranze“(1866)

Ein Titel, der in die Irre führt und eine Novelle, in der plötzlich auch formal-stilistisch alles stimmt. Plötzlich kann er fabulieren und Charaktere entwickeln! Gefühle werden beschrieben, Gleichnisse – so treffend, wie nur was – verwendet, Wut, Wahnsinn und Erlösung in kräftige Bilder gepackt – wer hat das geschrieben? Raabe? Realy?!

Hätte mir die Geschichte – blind date mäßig – jemand vorgelegt: „Rate, von wem die is‘!“ Ich hätte auf Storm getippt! Historischer Stoff und ergreifend? Kann nur Storm sein!

Bevor ich auf den Inhalt zu sprechen komme, ist wegen Ostsozialisation und Westsozialisation der Leser hier folgende Klarstellung wichtig: Wir müssen über Nationalismus reden, der in Ost und West „anders“ unterrichtet wurde, jedenfalls seit den 80er Jahren ungefähr. Die Novelle spielt 1813 im „Königreich Westfalen“, dieser kurzlebigen Napoleonschöpfung. Es war die Zeit, in der das deutsche Nationalbewusstsein entstand, die Hoffnung auf ein einiges, starkes Reich, das nie wieder Spielball ausländischer Mächte wird. Das Thema ist zu Zeiten einer „Europäischen Einigung“ und einer „Deutsch-Französischen Freundschaft“ irgendwie immer „eingedampfter“ unterrichtet worden.

(Wer kennt heute noch Andreas Hofer? Turnvater Jahn? Den Freiherrn von Schill? „Is der nich noch abundan in Fernseh? Der war doch mal Richter oder so? Jetze machta mit Desiree Nick rum.“ Schmerz lass nach!)

Nationalismus, entgegen heutiger Sonntagsreden, war keine schlechte Idee, sondern ermöglichte die notwendige Bündelung der Kräfte gegen einen sonst übermächtigen Feind, der die Kleinstaaten aussog.

Mein Geschichtslehrer hat das anno’75 in der 8. Klasse bei der Behandlung des Napoleonthemas in folgende Worte gefasst:

„…damals lernten die Hessen, Sachsen, Thüringer, Preußen usw. dass sie eben nicht nur das sind, sondern alle zusammen Deutsche, die unter derselben Knute litten. Da entstand Nationalismus. Das war damals was Fortschrittliches!“

Aus der Klasse irgendein Blödmann:

„Or! Gommor da jetze zu de Nazis?“

Herr M. erhob sich von seinem Stuhl, ging zur Tafel und schrieb an:

Nationalismus 

Nationalsozialismus.

Dann wechselte er zu roter Kreide und machte hinter den oberen Begriff so ein Lehrerhäkchen für „richtig“ und hinter den anderen Begriff ein f für „falsch“

Und sprach:

„Nationalismus ist: Nationalbewusstsein, Nationalmannschaft, Nationales Kulturerbe, Nationalgalerie usw.

NationalSOZIALISMUS ist: Hitler, Faschisten, Weltkrieg, LeichenLeichenLeichen und die ganze Scheiße.

IMMER auseinanderhalten! Klar?!“

Sein Zeigefinger ging nach oben.

Er strich den unteren Begriff durch und ließ beide die Stunde über an der Tafel stehen.

Und zu dem Epochenmoulinetter gewannt:

„Hitler kam hundert Jahre später! Oder siehste, dass Nabolchon örchenswo ä Stahlhelm offhat und Bandsor fährd?!“

Einiges Kichern.

„Indschanor mit Gallaschnigoff, das wär’s jewäsn.“ kräht Bernd.

Aber Herr M. winkt nur ab und Ruhe is‘.

Raabe lebte in einer Zeit, in der man automatisch in den Einheitsgedanken hineinwuchs. Intelligente Menschen Raabe 5yempfanden die tiefe Schmach des Deutschen Bundes, dieses Staatenbundgebildes, das weder Fleisch noch Fisch war. Fürsten hatten immer noch das Sagen, als gäbe es den Absolutismus noch. Sie verbrämten ihr altes Schmarotzertum zwar mit der einen oder anderen „Landesverfassung“ mit ein paar eingeschränkten Grundrechten, aber es war überall zu spüren, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung schier unaushaltbar wurde.

Nur mit Mühe konnte Preußen durchsetzen, dass sich alle Bundesländer auf die gleiche Schienenbreite einigen konnten. Hannover wollte erst gar keine und dann eine selbstbestimmte Breite. Bayern hielt kurioserweise am längsten durch mit Schienenverweigerung, obwohl doch zwischen Nürnberg und Fürth die ersten 3 km überhaupt lagen!

Raabe 5xDie Zwergstaaten mit ihrer mittelalterlichen Einzelfertigung von Nägeln, Textilien, Werkzeugen aller Art verelendeten Zusehens. England überschwemmte den Markt mit Billigprodukten in besserer Qualität. Preußen hielt zunächst per Produktpiraterie einigermaßen mit, und gelangte bald auf die Überholspur; den meisten anderen Fürsten war das Weltgeschehen und die Lage ihrer Völker wumpe!

Also schrieb anlässlich „50 Jahre Waterloo“ Raabe eine Novelle über enttäuschte Hoffnungen, aus den Tagen, als eine Vision aufkeimte, die sich 1815 und 1848 nicht erfüllte. Jetzt in den 60ern feierte niemand das Waterloo-Jubiläum, niemand wagte an dem Tabu zu rütteln, dass es keine Blücher-, Körner-, Jahn-Denkmale gab. Das Volk sollte weiterschnarchen, nicht an seine großen Momente denken, aber in Preußen tat sich was:

Der Deutsch-Dänische Krieg 1864 hatte die Schmach von Olmütz abgewaschen. Das Jahr 1866 war gekennzeichnet von preußisch-österreichischen Querelen, ein weiterer Krieg lag in der Luft und bricht zwischen Niederschrift und Veröffentlichung dieser Novelle auch aus:

Man kann sie lesen als zu spät kommende Mahnung:

Wie lange noch soll dieses Gezeter Deutsche gegen Deutsche angehen?! Wollt ihr wirklich einen Krieg, indem Deutsche auf Deutsche schießen? Mäßigt euch! Schmeißt euch endlich friedlich zusammen und ernennt einen Chef!

(Die Novelle gab es in der DDR als Neuauflage nie!)

Man kann sie lesen als Aufruf:

Klärt das endlich! Kämpft für das Vermächtnis Körners, Schills und Jahns und meiner Ludowike hier in diesem Stück!

Und drittens mag es auch die grummelnd-resignierte Variante der Auslegung geben:

Her mit der Einigung! Kleindeutsch – ohne Österreich! Soll’n die Habsburger selig werden mit ihrem Balkanpotpourri! Die Zerstückelung des Reiches hat es jahrhundertelang geschwächt. Scheißegal, wer es nun eint! Verpreußung? Macht auch nichts. Idioten gibt’s bei denen wie in Braunschweig oder Bayern. Die wird man nicht los. Siehe die Kollaborateure hier in meiner Novelle! Sowas wird es immer geben. Umfaller, Anschwärzer, Charakterlumpen. Schillers Hofschreiber Wurm heckt wie eine Ratte an allen Höfen! Das geht eh nicht weg!

Die Novelle trägt den Titel „Im Siegeskranze“ zurecht – aber er ist zynisch gemeint.

Hier wird kein Reiterheld bekränzt, kein König empfangen.

Mit Siegesgrünzeug an den Hüten feiern die, die gar nicht gekämpft haben, schließlich an einer Leiche, der als einziger in dieser Runde ein solcher gebührt hätte. Feine, böse Pointe!

Der Plot beinhaltet 3 Katastrophen, die so heftig sind, dass der Tod der Hauptfigur tatsächlich nur als Erlösung verstanden werden kann. Die Ich-Erzählerin schließt zwar ab mit einem versöhnlerischen „Alles wird gut!“ oder „Das Leben geht weiter!“, aber das scheint mir in Bezug auf DIESEN Inhalt eher eine Art optimistisches Schwänzchen, damit der vorangestellte Rest überhaupt erscheinen kann!

  1. Unglücklich gestiftete Ehen; das ist 1866 keine Rarität, also muss man sich was einfallen lassen, wie man dieses Dauerbrennerthema, das Heyse und Spielhagen schon zur Genüge strapazieren noch steigern kann. Und Raabe kommt hier auf einen Einfall, der in ganz unaufdringlicher Form sich ganz widerlich anschleicht, dem Leser ein kurzes, arges Frauenschicksal vor Augen führt, das elender nicht sein kann; aber die Tochter, die in dieser Grässlichkeit entstand und das Schicksal ihrer Mutter hier erzählt, kann nicht anders abschließen als mit diesem lapidaren Achselzucken: Ja, so kam halt ich auf die Welt. Damals 1801. Und der Leser überlegt prompt, ob er ähnliche Fälle kennt. Ja, er kennt sie. Sie sind wohl seltener geworden, aber nicht ausgestorben.
  2. Sie berichtet weiter, wie ihre viel ältere Stiefschwester nun ihre Ersatzmutter und Braut eines Kavallerie-Leutnants wurde. 1813. Königreich Westfalen. Regiert von Napoleons Bruder. Also in französischen Diensten. Obwohl Preußen und Mecklenburg gemeinsam mit den Russen bereits Jagd auf die geschwächten Bedrücker machen, da Napoleons Russlandabenteuer von1812 so bilderbuchhaft schief gegangen war.

Die Story bekommt hier Sophie-Scholl-Momente:

Der Leutnant und ein Kollege, sowie dessen Bruder und Ludowike beraten heimlich, wie sie es anstellen könnten, in dem bevorstehenden Kampf auf der richtigen Seite zu stehen. Das Desertieren wird diskutiert. Und schließlich auch – Tat. Allerdings geht sie schief. Die Fahnenflüchtigen werden gefangen eingebracht in ihre Heimatstadt, in der alle bereits die befreienden Preußen erwarten, die Faust in der Tasche ballen, gegen die „Franzosenknechte“, die dienstbeflissen funktionieren – aber keiner traut sich, das aufrührerische Wort zu erheben, den Sturm auf die Büttel zu starten. Und so entstehen noch 5 Minuten vor Schluss der Franzosenzeit Opfer gefangen von den eigenen Leuten.Raabe 5a

Die beiden werden ins weit entfernte Kassel überstellt und dort hingerichtet, am Tag, als die Preußen ihre Heimatstadt befrei’n.

3. Katastrophe folgt: Ludowike erfährt die Nachricht und bricht anders zusammen als erwartet. Kein Heulkrampf, kein Jammern – sondern strahlendes Lächeln, Kleinmädchengetue – Wahnsinn. Ihr Geist verwirrt sich irreparabel.

Raabe schildert die Varianten mit Geisteskranken umzugehen ungeschönt. Anstalt oder zu Hause behalten? Pest oder Typhus! Schauderhaftes Unwissen und fehlende Medikamentenkenntnis ermöglichen sadistischen Brachialkuren fröhliche Urständ.

In der DDR lasen viele den Bestseller „Flucht in die Wolken“, Leidensgeschichte und Selbstmord einer schizophrenen jungen Frau, deren Mutter Journalistin war. Waren die Methoden der 70er Jahre Psychatrie schon äußerst fragwürdig – hier bei Raabe kriegst du die Vorstufe. Inzwischen weiß man allerhand über die Hölderlinbehandlung: Ludowike hier hat das schlimmere Schicksal!

Ludowike hält ein knappes Jahr unter üblen „Betreuungsvarianten“ zuhause durch. Dann folgt eine von Raabe geschickt kombinierte Todesszene voller Symbolik…

Eine bitterböse Geschichte mit soziologisch zutreffendem Tiefgang findet ein Ende in Würde.

Nehmt und lest!

Raabe 5fEine Sache ging mir erst Tage später auf: Warum dreht Ludowike in dieser Art durch? Warum spielt sie nicht die erwartbare heulende Witwe ohne Trauschein?

Zuvor war vom Zaudern der Leutnants gesprochen worden. Sie ringen sich zur Tat durch – weil Ludowike die Mechthild Grosse gab? Weil sie wie diese einen Helden heiraten wollte! Einen Kerl! Nun reißt sie ihre Schuld in den Abgrund! Sie hat seine Zweifel zerstreut! Sie hat ihren Bräutigam auf dem Gewissen! – Sie verdrängt, flieht in ihre Kinderzeit, „als die Welt noch in Ordnung war“.

„Püppi, Püppi schlaf. Dein Vater ist ein Graf. Deine Mutter ein Marienkind, ….“

Fazit: Ein absolut perfektes Ding!

Ich muss meine Novellen-Hitlist neu sortieren!

RAABE lesen! (4)

„Else von der Tanne“(1865)

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Else von der Tanne ist Novelle Nr.2 aus jenem Reichskronebüchlein, das mir 1975 ins Netz ging.

Gelesen habe ich sie damals nicht. Mag am Titel gelegen haben.

„Theo von Tanne“ war ein unter Schülern gefürchteter Name.

Aber in der 8. Klasse hatten wir ja noch kein Effi-Trauma. Da muss es andere Gründe gegeben haben. Eventuell las ich seinerzeit die erste Seite an: Ein Dorfprediger schreibt…. „Oach! Lass’n schreiben.“

Somit datiert mein Erstkontakt mit diesem Inhalt auf 2021 und da fiel mir beim Lesen schon so einiges auf und ein.

Der Plot ist diesmal ein gar nicht komplizierter: Baue eine Idylle auf und zerstöre sie gründlich!

(Leg dir Haggard auf, wenn du sie liest.)

Im „Elend“ (die Talsenke heißt wirklich so) am Harz bekommen wir ein mehrfach geplündertes Restdorf vorgestellt; durch den Pastor der über einer Neujahrspredigt grübelt, die es dies‘ Jahr in sich haben soll, denn er will seiner „Herde“ die Leviten lesen!

Er ist das letzte Oberhaupt, das da geblieben ist, bei ihnen, als die Welt über Deutschland unterging. Von Rügen über Brandenburg-Thüringen-Franken- Pfalz zog sich ein breiter Korridor des Todes, in dem 30 Jahre lang mehrfach hin und her gezogen-geplündert und gemordet wurde.else 4

Pfarrer und Dorf wurden bereits dreimal Opfer derartiger Überfälle, als eines Tages ein bewaffneter bärtiger Hüne mit 4 Hunden, Eselkarren und kleinem Mädchen auftauchte und sich oberhalb des Ortes an der großen Tanne im Wald ein Lager bereitete.

Er redete mit niemandem und begehrte nichts. Also staunte man nur und ließ ihn machen.

Eines Tages kam er allein herunter in den Ort, setzte sich Pfeife rauchend vor’s Pfarrhaus und wartete bis der Hausherr erschien. In perfektem Latein bat der Fremde um Unterstützung. Somit gab er Bildung zu erkennen und vergrößerte den Abstand zu den gaffenden Bauern. Eine Freude für den Pastor, in Zukunft einen Ansprechpartner seines Niveaus zu haben. Der Fremde bat, ihm zu helfen, ein festes Hüttchen zu errichten, oben am Wald für den Winter. Der Pfarrer möge doch die Bauern veranlassen, tätig zu werden.

Die Hütte entstand. Aber die Bauern sahen nun auch eine Menge rätselhaftes Zeug vom Eselskarren in die Hütte wandern, dessen Zweck sie sich nicht erklären konnten.

Die Gerätschaften, die Bücher, die abweisende Abgeschiedenheit, und dazu der seltsame Magnetismus, der auf den Pfarrer wirkte, da er fast täglich bei dem Fremden verkehrte…

„Unser Pfarrer ist verhext!“

Die Fremde wurde zur Gefahr erklärt.

Er war eigentlich nur ein gebildeter Domschullehrer, der 1631 das Magdeburgmassaker überlebt hatte, als Tilly nach einjähriger Belagerung sein Heer eine Woche plündern ließ. Der wortkarge traumatisierte Davongekommene wollte nie wieder in Ortschaften leben, die das Räubervolk ja regelmäßig anzogen – und richtig! – bei der vierten Brandschatzung des Dorfes blieb das Haus an der Tanne im Wald unentdeckt.

else 1Die Jahre gingen hin in einer Art Burgfrieden zwischen Dorf und Tannenhütte. Das kleine Mädchen wurde eine hübsche Jungfrau, die wie ihr Vater eher mit den Bäumen und Tieren sprach, denn mit der Dorfbevölkerung.

„Seht die Hexe!“ murmelte das Dorf immer lauter.

Aber noch fürchteten sie die Muskete des Vaters.

Raabe gab Else, der Tochter,  im letzten Drittel ein Reh an die Seite, was an „Brüderchen und Schwesterchen“ erinnert. Wald. Geruhsame Einsamkeit. Baldige Errettung in Aussicht stellend… Aber der Autor bleibt in der Dramenschiene.else 3

Eines schönen Tages geschah die Katastrophe: Die Sonderlinge von der Tanne besuchten einen Gottesdienst – was böse Folgen hatte. Verletzt liegt Else von nun an in der Hütte.

Das Jahr vergeht, es wird Winter. Die Wochen bis zum Jahresende fliegen dahin – man munkelt von Frieden, unterschrieben da irgendwo in Osnabrück. Der Pfarrer will in seiner Neujahrspredigt auf diese Hoffnung eingehen, aber auch Abrechnen mit seiner abergläubigen Gemeinde. Er ist hinundher gerissen zwischen Hass auf diese stupiden, brutalen Lumpen, die seinen Freunden soviel angetan hatten, und Verständnis dafür, dass bei diesen Umständen, wie sie in Deutschland nun einmal die Überlebenden prägten, nichts anderes erwartet werden kann.

Da erscheint im tiefsten Schneegestöber die alte Dorf-Irre und prophezeit den baldigen Tod der Else – er möge eilen, wegen der Sakramente!

Er eilt. Und nocheinmal ereignen sich seltsame Dinge in jener Sturmnacht am Ende des 30jährigen Krieges im Harz…die Neujahrspredigt fällt aus… die Gemeinde wird am Neujahrstag ihren Prediger suchen gehen…

Nehmt und lest.

Die Geschichte hat 3 Gesichter.

  1. Sie ist düster und spannend erzählt. Das führt den jugendlichen Leser eventuell auf die Abenteuerschiene: Wird Elses Vater rechtzeitig schießen? Greift der Pfarrer auch noch zur Waffe? Kommt ein dritter Retter? Wer bestraft die Täter?

Eventuell steigt er selbst in den Plot ein, als imaginärer Retter der Fee aus dem Walde…

  1. Dem historisch interessierten Leser mag es heute unter Umständen so scheinen, als gäbe es geschichtlich nichts als das Thema NS und Holocaust. Die Regale „Geschichte“ in den noch rudimentär vorhandenen Buchläden sind oft arg monothematisch bestückt. Gerät er dann an Raabes „Else“ merkt er eventuell: So singulär wie jene katastrophale Fehlentwicklung des 20. Jahrhunderts scheint, ist sie gar nicht! Raabes Pfarrer bringt Ursache und Folge von stupider, grausamer Enthemmung zusammen. Die Fehlprägungen des Kriegserlebnisses, des Elends Erduldens im Verein mit jenem Bildungsmanko der Zeit ergeben eben diese Folgen.

Und wer I.Weltkrieg, Kohlrübenwinter und Spanische Grippe zusammenbringt mit Versailler Vertrag und Inflation‘23 in der „ach so tollen“ Weimarer Republik, der findet zurück auf einen Erkenntnispfad, der früher mal gewusst wurde: „Schlangenei“ (Ingmar Bergmann)  und „Spinnennetz“(Bernhard Wicki): Hitler fand ein vorgeprägtes Volk vor, vom Erlöserwahn befallen, Volksgemeinschaft vermissend, freiwillig in der Herde sich aufgebend, mitmordend, weil man ja siegte, solange man siegte.

Es ist dieselbe Struktur der „Volksseele“, die Raabe 1865 treffend veranschaulicht, und die eben nicht mit dem Westfälischen Frieden verschwand, sondern ab 1933 real dieselben geistigen Abläufe zeigt.

Erst bestaunt man den Fremden – dann baut man ihm eine Hütte – Kontakt fehlt, kennen lernt man sich nicht – dann belauert man sich – dann vernichtet man ihn (eine Zeit lang) – und hinterher will die Kirche eine Bußpredigt halten, die nicht zustande kommt…

  1. Der nicht historisch interessierte Leser wiederum ist trotzdem in der Lage, hier zu erkennen, welch Problem es darstellt, für eine gebildete Minderheit in einer ungebildeten Mehrheit zu bestehen. Ein bissel Smalltalk mag ja gehen, aber…

Die Dummheit ist immer in der Mehrheit und zahlst du ihr ihre Frotzelei mit gleicher Münze zurück, dann solltest du auch Arnold Schwarzeneggers Arme haben, um deinen Argumenten Nachdruck verleihen zu können.

„Sie haldn mich wohl für blöde?!“ baut sich der dicke Maurer vor mir auf, der mir gerade erklärt hat, wie er MEINE Arbeit machen würde.

„Äh – ja klar?!“ (denke ich wenigstens tapfer, mangels Muskelmasse und Muskete).

Ich treffe hin und wieder meinen Hausarzt im 15 km entfernten Ort bei edeka. Wir nicken kurz und jeder schiebt woanders hin. Ich bin aus demselben Grund da, wie er.

Wir hätten edeka und Lidl vor Ort. Aber da droht eben plauzig-blöde Ansprache – vom Plebs.

Raabe lesen – hilft!

Sein Pfarrer hat meine Sympathie.

RAABE lesen! (3)

„Des Reiches Krone“ (1870)

Gedankenspiele:

Es hat sein Geschmäckle, die Wiederbegegnung mit einem Text zu feiern, den man mit 15 mit Betroffenheit las und der einem 46 Jahre später wieder begegnet.

Was ging mir 1975 durch den Kopf, als ich das Büchlein für 4,50 M kaufte und nur die erste Novelle von dreien las, die es enthält? Was hat mich davon abgehalten, die andern beiden zu lesen, wo mir doch die erste sehr gefiel?

War es irgendeine Pflichtliteratur? Damals Ende 8. Klasse? Gar der Storm’sche „Schimmelreiter“?

War es eine Karl-May-Massenborgung, die bald wieder zurückgegeben werden sollte?

Ich weiß es nicht mehr.

Fest steht, dass ich durch diese Novelle erfuhr, dass Konstantinopel und somit Byzanz erst 1453 unterging.

Dass Jahre zuvor in den Hussitenkriegen, diese nicht zum Zwecke des ehrlichen Predigens von Gottes Wort durch die Gegend zogen, sondern um Rache zu nehmen für die Hinrichtung von Jan Hus 1415 in Konstanz. (Nur kamen sie nie dorthin. Sie zogen lieber kreuz und quer durchs beuteverheißende Sachsen bis rauf nach Danzig. (Die dachten also damals schon wie George W. Bush.)

Naumburg an der Saale feiert alljährlich im Juni umfangreich ein Kirschfest. Prokop der Hussite soll die Stadt einst belagert haben. (Fake-News eines phantasievollen Schneiders aus dem 18.Jahrhundert) Ein Lehrer ging mit einem Mädchen-Chor im Büßergewand ins Lager der Hussiten. Der Kindergesang soll diese so gerührt haben, dass sie auf die Bäume kletterten, die Kinder mit Kirschen bewirteten und die Stadt nicht „berannten“. Hussiten standen also in eher mildem Licht.

Bei Raabe wird gegen sie gekämpft. Perspektivwechsel lernen – das hatte was!

Doch der Reihe nach:

Raabes Novelle hat eine Rahmung. Der Ich-Erzähler, ein alter Nürnberger Patrizier, schreibt 1453 in seinem ehemaligen Kinderzimmer seine Memoiren und holt somit alle die aus dem Totenreich zurück, die ihm einst wichtig waren und leider jung verstorben sind. Die Glocken läuten allüberall, während er schreibt, denn die Nachricht vom Fall Konstantinopels traf gerade ein. Er aber erinnert sich an ganz andere Kämpfe und Erlebnisse aus seiner Jungmännerzeit, damals in den 20ern – eben jene Hussitenkriege.

Raabe schildert die Situation des alten Weisen da, so saturiert, aber erschöpft vom Leben; so vereinsamt im Elternhaus, dessen „Wohnräume den Spinnen und den Mägden überlassen“ bleiben, da ihm seine alte Dachstube mit dem Ausblick in den Garten reicht; dass du dich als Leser jeden Alters automatisch identifizierst, wenn du in deiner Kindheit reichlich Altstadtflair aufgesogen hast, so wie ich.

Die verblüffend grünen Hinterhöfe, die du innerhalb des ehemaligen Stadtmauerringes gar nicht vermutest, wenn du dort Klassenkameraden besuchst! Diese Laubengänge entlang der Nebengelasse, die mal Remisen oder Werkstätten waren. Die vielen, vielen buntverglasten Oberlichter der Fenster, die leider, leider der 90er Jahre Renovierung vielfach zum Opfer fielen!

Diese Geborgenheit, die dich umfängt, wenn du hinter Butzenscheiben auf uralten Dielen mit deinen Kumpels noch mit Bleisoldaten „von früher!“ (Sensation!) oder mit Lineolsoldaten (noch seltener!) spielst! Aus den Bücherschränken der Väter grüßt alter Buchbestand in Goldschnitt und Leder! Du wünscht dir automatisch nichts so sehr, wie in diesem Ambiente altwerden zu können.

Es kam anders.

„Nehmt und lest!“ ist als Mehrfachmahnung in die Novelle eingewoben.

Das Wiederlesen der „Reichskrone“ geschah tatsächlich im selben Zimmer wie damals ’75!

Und die Lektüre ging ihre ganz eigenen Wege.

Vater nun gestorben, sein Deutschlandfunkradiogeplapper ist verstummt. Hund und Bruder fehlten. Mutter werkelt im Erdgeschoss.

Nun war ICH tatsächlich der Alte oben in seiner Kindermansarde!

Es klingelt. Aber es ist nicht Udo, der mich zur Radtour abholt oder Christian mit einem Plattenbeutel unterm Arm.

Es ist Bofrost. Mutter geht schon zur Tür. Ich kann also weiter grübeln.

Bücherschrank und Lampe sind noch die Alten. Die Liege wurde inzwischen mal erneuert, steht aber an selber Stelle.

Auf dem Bücherschrank fehlt die Bierbüchsenpyramide. DAS Relikt der frühen 70er, das damals so ziemlich jeder hier herum hatte. Jörgi’s Vater hatte sogar eine im Wohnzimmer auf dem Bücherbord.

Allerdings nur bestehend aus 3x DAB und 3x Dortmunder Union, weil es die nunmal im Intershop gab.

Meine war bunter; zusammengekaupelt für doppelte Mosaiks, Bleisoldaten, Kaugummibilder…

Als der Jupiter einzog (das große Spulentonband), wanderte die Pyramide frei von Wehmut in den Müll. DIE Mode war vorbei. Der Musikaltar brauchte Platz! Inzwischen ist auch er dahin.

Raabe beschreibt, wie der Alte da in der Dachkammer nichts mehr besitzt, was er den „reinigenden Flammen“ opfern könnte, da ein Mönch dies gerade marktschreierisch von allen Gläubigen verlangt, damit Gottes Zorn gemildert werde und die Türken nicht auch noch bis Nürnberg kommen.

Du weißt dank MOSAIK und einiger Kreuzritterromane:

Das griechische Kaisertum in Nöten! Byzanz hatte nicht erst 1453 Schwierigkeiten. Sein Abwärtstrend setzte mit den Kreuzzügen am Ende des 11. Jahrhunderts ein. Die Sarazenen drückten aus dem Osten, die katholischen Ritterheere kamen aus dem Westen. Ursprünglich kamen sie „zu Hilfe“, aber sie entpuppten sich zusehens als Belastung. Sie waren vor allem scharf auf Hafenstädte, als Stützpunkte für die Versorgung ihrer Kreuzfahrerstaaten. Ein Kreuzfahrerheer eroberte und plünderte zwischenzeitlich die Hauptstadt Konstantinopel, bevor der Orient darüber hinwegmarschierte….

Und gegen die aktuellen Assoziationen kannst du dich nicht wehren:

Manchmal erdrückt einen die Aktualität solch alter Texte geradezu.

Die Hagia Sophia bekam Minarette. Und das war mal die „Engelsburg“ der griechisch-orthodoxen Kirche!

Dass Raabe gerade diesen Zeitraum für seine Novelle wählte, ist typisch für ihn. Er hätte populärere Kriege nehmen können: Den 30jährigen oder den 7jährigen, die schulbuchkompatiblen. Nein. Er nimmt einen „unterbelichteten“ Zeitraum – der bereits durch Andeutungen Schlaglichter erzeugt und dich NACHDENKEN lässt:

Das ehrlos-wehrlose 15. Jahrhundert im Vergleich zum ebensolchen nach-napoleonischen Deutschen Bund der Raabe-Zeit. König Sigismund, der wortbrüchige Zauderer, der Krisenmanager mit mäßigem Erfolg, der immerhin die Hohenzollern von Nürnberg nach Brandenburg brachte – und ein Hohenzoller, der zaudernd unentschlossen nun 1870 von Bismarck in Richtung Einheitsvollendung geschubst wurde. Die Entsprechungen des 21.Jahrhunderts zu finden, überlasse ich dem Leser….

Der Alte in seiner Kinderstube erzählt seine Jugenderlebnisse, die damit begannen, dass er bereits als Säugling einen ebensolchen Adoptivbruder aus verarmt ausgestorbener Adelsfamilie an die Seite gelegt bekam, mit dem er gemeinsam aufwuchs. Junker Michel Groland von Laufenholz. Das Adelsgeschlecht hatte im Dahinscheiden letzte Besitzungen an den Vater vermacht, weshalb er sich genötigt sah, das letzte Küken des verwaisten Nestes zu hegen und zu pflegen.

Vater hatte schwer damit zu schaffen, erfahren zu müssen, was es heißt, „solch Adlerbrut“ aufziehen zu wollen. Der angenommene Sohn entpuppt sich also als Träger ganz anderer Erbanlagen als der eigene. Den stört das aber keineswegs, hat er doch einen Abenteuer erzeugenden Spielgefährten an ihm.

Aber da sind auch noch die kleine Gespielin Mechthild Grosse, die soviel jünger war und tatsächlich große Charakterstärke bewies als junge Frau. Und der Hauslehrer Theodoros Antoniades, der Flüchtling von Chios, welches schon 30 Jahre vor Konstantinopel verloren ging. Der war nun bis Nürnberg gekommen, geblieben und verdiente sich ein wenig Lebensunterhalt mit Griechisch- und Philosophie-Stunden für die Patriziersöhne. Der Bezug zu ihm ward enger als zum eigenen Vater, wie sich zeigen sollte.

Bei jenen Griechischstunden im Gartenpavillion machte sich die unterschiedliche Veranlagung des Brüderpaares besonders deutlich bemerkbar. Nimmersatt bildungssüchtig der eine, stets gelangweilt, aber gutwillig dabeisitzend der andere! Das ging immer solange, bis Klein-Mechthild in den Büschen aufkreuzte. Dann packte Michel die Kleine, wischte mit dem Ellbogen die Pergamente vom Tisch und ließ sie tanzen.

Das niedliche Nachbarskind wollte niemand vergraulen und so waren die Griechisch-Lektionen an manchen Tagen recht kurz. Die Albereien zwischen Mechthild und dem Junker ohne Land  entwickelten sich mit der Zeit zu einem engen Vertrauensverhältnis, so dass für alle Außenstehenden absehbar war, dass das früher oder später wohl in einer Ehe enden würde.

Zuvor aber hatte sich die Zeit entschlossen, ihre Kinder hart zu prüfen.

Die Reichsinsignien (Krone, Zepter, Reichsapfel und Heilige Lanze) waren in Gefahr, von den Hussiten erobert zu werden! Sie lagerten seit Karl IV. auf dem Karlstein in Böhmen. König Sigismund, dessen Wortbruch von Konstanz diese Gefahr bekanntlich erst erzeugt hatte, sah sich gezwungen, mit Heeresmacht diese zusätzliche Schande, die an seinem Namen kleben würde bis in alle Ewigkeit, abzuwenden.

Die Kirchen also predigten den Kreuzzug wider die Hussiten. Die Frauen darin hören das und Mechthild vergattert ihre beiden Verehrer, sich mit dem Schwerte „als Kerle“ zu beweisen. Also ziehen beide mit Sigismund’s Heer und helfen die Reichskleinodien zu retten.

Bei deren Anblick nach siegreicher Schlacht murmelt Junker Michel „Nun da diese wieder fest in unserer Hand sind, will ich mir meine Krone holen!“ Der Patrizier versteht und nickt. Dann trennen sich ihre Wege. Der Bürgersohn wird mit dem Gros des Heeres entlassen. Eine kleine Elitetruppe, zu der auch Michel zählt, der glaubt, noch eine Schippe Ruhm mehr zu brauchen, um heiratsfähig zu sein, bleibt beisammen und soll die geretteten Heiligtümer auf eine Burg nahe Budapest bringen. Dort scheinen sie Sigismund am sichersten.

Ihr Wiedersehen 2 Jahre später sollte ganz anders aussehen, als erhofft. Kein rauschender Heereseinmarsch in Nürnberg mit klingendem Spiel und Königspomp, kein rauschendes Hochzeitsfest von Mechthild und Michel. Ja, es fehlte in jenen zwei Jahren jegliche Nachricht von Sigismunds Truppe.

Der Memoirenschreiber erinnert sich eines Boten, der ihn eines Tages zum Siechenhaus vor der Stadt bestellt. Die Mater Leprosum wünsche ihn zu sehen, es sei dringend.

Er staunt und folgt. Vor dem Hospital steht eine Bank. Darauf sitzen die Leiterin, die ihn hat laden lassen und ein Mann in einer Art geflickter Mönchskutte, die Kapuze tief im Gesicht. Der Erzähler erkennt ihn nicht.

Aber vor dem Mönch steckt ein Schwert in der Erde. DAS erkennt er!

Ein Blickkontakt mit der Mutter der Siechen, fragend, erschrocken – sie nickt traurig.

Er bricht zusammen.

Während er kniet und fassungslos seinen Bruder in der Kutte anstarrt, kommt die Mutter der Barmherzigkeit auf ihn zu, um ihm das Vermächtnis des Gezeichneten zu erklären:

Er hat es als einziger bis nach Hause geschafft. Nach dem die Reichskrone in Sicherheit war, wurden auf dem Rückmarsch alle krank. Nun will er im Siechenhaus in der Nähe von Mechthild sterben; diese aber soll nichts davon erfahren! Er möchte nur, dass sein Bruder von seiner Existenz hier draußen weiß, um hinterher das Begräbnis zu richten.

Diese Heimkehr so klamm heimlich und ohne, dass die Stadt Notiz nimmt…auch das hat was ganz Aktuelles: Erst in die Scheiße schicken und hinterher nicht mal Danke sagen. Weggucken. Wegducken! Die Realitäten stören unser Wolkenkuckucksheim!

Der verschonte Bruder darf nun nicht einmal herausschreien:

„Er ist da! Draußen im Siechenhaus! Seht ihn euch an!“

Betäubt und verwirrt taumelt der Erzähler heim, lässt sich von nun an bei Mechthild verleugnen, druckst herum, wenn sie ihn freundlich-fröhlich wie immer anspricht, sucht Rat bei seinem nun schon altersschwachen Griechischlehrer.

Als jedoch wieder ein Jahr später die Insignien nun auch in Budapest nicht mehr sicher scheinen und nach Nürnberg zurückverlegt werden, kommt Mechthilds große Stunde.

Ich verrat’s nicht.

Nehmt und lest!

Nachtrag zur Form:

Raabe hätte einen Sidekick gebraucht.

Lennon/McCartney oder Jagger/Richard zusammen genial, auf Solopfaden isses dann auch immer nur die Hälfte oder sogar weniger.

Was hätte ein Spielhagen oder Heyse aus DIESEM Stoff gemacht! Du hättest heulend vor der letzten Buchseite gesessen! Der überrationale Autist Raabe bleibt sich treu – und kalt im Erzählen. Der Leser bekommt die Sentimentalität nicht, nach der dieser Stoff schreit.

Die Charakterzeichnung der Mechthild gelingt ihm besser als die der Regina Lottherin. Die Vatererfahrungen fließen hier im Ganzen ein, nicht nur für einen einzigen großen Auftritt, der in der Herrgotts Kanzlei sicherlich erst in der späten zweiten Auflage Einzug fand.

Andererseits bleibt er inkonsequent auf halber Strecke stehen, da er anfangs mehr als nur andeutet, das Mechthild des Reiches „eigentliche Krone“ ist, die tapfere charakterstarke Frau, deren Liebe alles überwindet. DIE sollst du ehren! Aber er führt diese Allegorie im weiteren Verlauf nichtrecht zu Ende. Der so perfekt geplante Schluss des Plots wird wieder nur im Telegrammstil kurz zu Ende gebracht, wie schon das verdient böse Ende des Oberstrolchs in der „Herrgotts Kanzlei“. Eventuell platzten beim Schreiben die Nachrichten von der Emser Depesche herein oder die Siegesmeldungen von Wörth und Spichern, weshalb er abschließend pathetisch wird:

Er lässt seinen Ich-Erzähler 1453 schreiben:

Des deutschen Reiches Krone lieget noch in Nürnberg; – wer wird sie wieder zu Ehren bringen in der Welt?

Vermutlich der Grund, weshalb diese Novelle in den sogenannten „ausgewählten“ Werken in Ost und West immer fehlt.

RAABE lesen! (2)

„Unseres Herrgotts Kanzlei“ (1862) meint die Stadt Magdeburg in der Reformation. Die Stadt, die sich mit scharfzüngigen Streitschriften gegen Kaisers Reichsacht und die Gegenreformationsversuche der verjagten Domherren wehrt. Beschrieben wird der Verlauf der einjährigen Belagerung 1550/51, in auch damals schon antiquiertem Chronikstil. Es handelten sich um den Schmalkaldischen Krieg, die Generalprobe für den 30jährigen.

Das Buch erlebte zunächst nur eine Auflage, die keine Wellen schlug und wurde vom Autor „vergessen“; bis 1889 die Stadt anfragte, ob sie es neuauflegen dürfe. Den Stadtvätern muss es plötzlich als DER Magdeburgroman erschienen sein. Erstaunt und erfreut stimmte Raabe zu, bat sich aber aus, die Erstfassung von 1862 zuvor überarbeiten zu dürfen. Das geschah.

In schneller Folge erlebte der Roman nun weitere Auflagen.

(Auch dies eine Parallele zu Arno Schmidt: Nach elend langem Armutsdasein beginnt im Alter plötzlich die Berühmtheit zu steigen und die Kasse zu klingeln!)

Er enthält einige Kritiksensationen, bei denen nun nicht ganz klar ist, ob die schon 1862 Teil des Buches waren, oder ob sie Ergänzungen aus Lebenserfahrung sind.

(Meine Ausgabe (Aufbauverlag 1964) schweigt sich darüber aus, welche Fassung ihr zugrunde liegt.)

Sensation Nr. 1 ist die Darstellung der auftretenden Landsknechte. Raabe zeichnet hier ungeschönt ein Bild der Verluderung. Gescheiterte Existenzen, Lügner, Säufer, Vollidioten …raabe reiter

Er beschreibt ihren ungeordneten Anmarsch auf Magdeburg. Ihre Zufallskostümierung und-bewaffnung. Ihre Bedenkenlosigkeit, heute dem und morgen jenem zu dienen mit blutigen Diensten. Alles weit weg von „schimmernder Wehr“ der Kaiserzeit. Doch seine Typenparade da wird manchem Leser das Aha-Erlebnis verschaffen: So einen kenn‘ ich heute auch!

Er beschreibt auch, wie und wo angeworben wird: Im ärmsten und gefährlichsten Stadtteil am Zeisigbauer. Magdeburgs Neukölln. Wo der ehrliche Mann nur mit gezogenem Schwert defilieren kann. „Es scheinet mir gefährlich, diesen Waffen in die Hände zu geben.“ Aber die drohende Belagerung machts nötig. Es wird sogar ein regelrechtes Schrutzregiment mit dem allerverworfensten Stadtbodensatz gebildet. (Prora, Prora, ick hör dir trapsen!)

Wir hatten reiiiiichlich Vorbestrafte in der Einheit!

Der versoffene Hauptmann Springer im Buch – ein Abziehbild meines Spießes im wirklichen Leben! Fast zu dumm zum Namenschreiben, und nach Dienstschluss immer „zu“; ließ er sich als Ranghöherer von Dreiender-Capos ausnutzen und von mir die Arbeit machen.

Sein literarisches Vorbild hier lauscht seinem durchtriebenen Leutenambd und plant mit ihm Verrat!

Raabes Roman ist also ein Gegenpol gegenüber all den Frunsberg-, Pappenheim-, Derfflinger-Romanen aus der Endphase des 19. Jahrhunderts, bei denen man sich Mühe gab, die Anführer als militärische Neuerer und ihre Soldaten als allzeit loyale, gut funktionierende GSG 9 der Vorzeit darzustellen.

Stattdessen Sätze wie:

„Meine Faust handelt mir jeder Lump, der den Fürstenhut trägt, und dem Nachbarn in die Haare fallen will, mit Freuden ab!“ (Rottmeister Philipp Horn)

Die hehren Ziele, weshalb angeblich gekämpft wird (Gottes Wort, Gerechtigkeit); werden rasant Makulatur: Obwohl das Geld durch Beute vorhanden ist, bezahlt der knausrige Stadtrat seine Landsknechte nicht, die darob ergimmen und putschen. Plötzlich muss innerhalb der Mauern gerungen werden! Und der Feind vor den Toren verschläft seine Chance. Der „Religionskrieg“ ist nichts weiter als eine erweiterte blutige Kneipenschlägerei!

Dass sich Kriegstreiber hinterher davor drücken, für getreue Kämpfer aufzukommen, die ihr Gerede von einst angelockt hat, das kennen wir ja auch ganz aktuell.

Und auch noch dies:

Während der Belagerung gibt es einen gelungenen Ausfall gen Ottersleben. Es wird viel Beute an Waffen und Pferden gemacht. Und es findet sich auch diese Passage:

„Trübselig schleppten sich die gefangenen Ritter einher, ließen mit verhaltenem Geseufz die Köpfe hängen und beneideten von Herzen die Itzenplitz, die Bismarck, die Gevettern von der Schulenburg, die Möllendorf, die Alvensleben, die Marenholtz, die Lossow, die Bülow, welche erschlagen in den Gassen oder Häusern von Ottersleben lagen.“

Hoppla! Gleich zwei Reichskanzlergeschlechter der Raabezeit vertreten! Schon 1862 oder erst 1889?

Das ist die umfassende Vision eines Adelsmassakers! Das Jetset des Bismarckreiches!

Man stelle sich Vergleichbares heute vor! Wer das mit aktualisierten Namen wagte, landete noch weit jenseits Maron und Tellkamp!

Aber es wird nicht nur gehauen und gestochen. Raabe packt auch beeindruckende Frauenschicksale dazu.

raabe feurioZum Beispiel Johanna von Gent, ihr Schicksalspacken ist ungeheuer. Die etwas andere Mutter Courage. Von der Familie zwangsverheiratet, erstach sie Ehemann Nr. 1, geriet in den Landsknechts-Tross, floh dort vor Ehemann Nr.2 und warf sich jenem versoffenen Hauptmann Springer an den Hals, denn Hauptleute bieten Schutz. Sie trägt die Illusion mit sich herum, den Galan ein weiteres Mal zu wechseln, ihre neue Hoffnung ist einer mit guten Beziehungen zum Feind vor den Toren. Wenn der einen Aufruhr anzettelte, während dem die Stadt erobert werden kann, würden Ehe, Aufstieg, Ansehen als Belohnung winken. Endlich raus aus der Misere! Sie kann es nicht erwarten, Magdeburg brennen zu sehen, damit all die Bürgerweiber, die ihr tagtäglich ihre Verachtung zeigen, nun ihrerseits herunterkommen.

Aber es kommt ja immer alles anders als man hofft.

Wo hatten wir gleich nochmal solche Damen, die ihren Landsknechten unter ziemlich schwarze Fahnen folgten – und nichts von alle dem, was sie sich erträumt hatten, trat ein?

Die nächste starke Frau ist Regina Lottherin. Zwei Drittel des Buches ist sie vorerst ein auf brav dressiertes Mälei, das nur weint und betet. Plötzlich jedoch rafft sie sich auf, um ihrem Schwiegervater in spe eine Standpauke zu halten, die wirkt und den Leser beeindruckt. Praktisch eine Suffragettenrede, ohne dass die Rednerin dadurch unsympatisch wirken würde. Im Gegenteil!

Ich wette, dass DIESE Stelle erst in der zweiten Auflage hinzukam! 1862 war er noch nicht vierfacher Mädchenvater. Wer aber ein lebenlang 5 Kampfhennen zu Hause hat, der erlebt solche Auftritte – und kann sie hinterher literarisch werden lassen!

Die dritte wichtige Dame des Geschehens tritt nur als Tote auf. Anna Scheuerin. Ein Grethchenschicksal. Ergreifende Fakten legt Raabe hier vor und dem Meisterschütz vom Jacobsturm in den Mund:

„Und die gottesfürchtigen Eltern, die zu allen Heiligen beteten für ihren Sohn in der Fremde, stießen doch seine Braut mit seinem Kinde mitleidlos ins tiefste Elend; ja; sahen schadenfroh zu, wie sie verkam.“

Ganz Goetheähnlich der Vorgang, der im Kerker, im Wahnsinn, im Tod endet. Aber während der Hahnrei von Weimar sich mit „Sie ist gerichtet….“ (Engel von oben) „Ist gerettet!“ aus der Affäre zieht, geht Raabe hier alttestamentarisch vor. Aug um Auge, Zahn um Zahn. Auf dem Höhepunkt des Goethekultes, als der Denktitans ohne Fehl und Tadel gerade erst erfunden war, zeigt uns Raabe, was „der Tragödie erstem Teil“ fehlt: Laaaaangsam soll der Strolch verrecken, der dies Mädchen auf dem Gewissen hat!

Die unheilschwangeren, rätselhaften Botschaften, die dem Täter zugehen, haben das Zeug zum richtig guten Thriller!

Leider, und damit sind wir wieder bei der Raabe-Form, merkt man dem Erzähl-Flow einige Male an, wo er hochmotiviert einsteigt, und abgekämpft nur noch fertig werden will. Das Täterende, das so vielversprechend eingefädelt wurde, ist in seiner Abschluss-Idee passend perfekt. Aber die Art, wie es fast im Nebensatz schnell abgetan wird, enttäuscht.

Dabei wäre er doch gerade hier eins gewesen mit den Töchtervätern aller Zeiten!

Es ist wohl so, wie eine Anekdote über ihn berichtet:

Eines Tages gingen er und seine Frau an einem schönen Landhaus vorüber. Sie stöhnte: „Wer so leben könnte!“

Er (sich an Kritiken zu seinem Erzählstil erinnernd): „Könnten wir, wenn ich nur wollte. Aber ich will nicht!“

Leider wahr.

Und noch mal der Meister selbst, aus dem Briefwechsel zur Erschaffung der 2.Auflage (1889):

„Die ganze Magdeburgerei ist doch auch alles nichts. Alle Figuren Marionetten.“

Der zweite Satz stimmt. Charakterentwicklung ist nicht seine Stärke. Die Figuren bleiben Schemen.

Der erste Satz jedoch ist Understatement: Es steckt doch soviel Aktualisierbares drin! Viel mehr, als aus dieser Rezi herausgelesen werden kann!

Prädikat: Lohnt sich!