RAABE lesen! (5)

Das Beste kommt wie immer zum Schluss:

„Im Siegeskranze“(1866)

Ein Titel, der in die Irre führt und eine Novelle, in der plötzlich auch formal-stilistisch alles stimmt. Plötzlich kann er fabulieren und Charaktere entwickeln! Gefühle werden beschrieben, Gleichnisse – so treffend, wie nur was – verwendet, Wut, Wahnsinn und Erlösung in kräftige Bilder gepackt – wer hat das geschrieben? Raabe? Realy?!

Hätte mir die Geschichte – blind date mäßig – jemand vorgelegt: „Rate, von wem die is‘!“ Ich hätte auf Storm getippt! Historischer Stoff und ergreifend? Kann nur Storm sein!

Bevor ich auf den Inhalt zu sprechen komme, ist wegen Ostsozialisation und Westsozialisation der Leser hier folgende Klarstellung wichtig: Wir müssen über Nationalismus reden, der in Ost und West „anders“ unterrichtet wurde, jedenfalls seit den 80er Jahren ungefähr. Die Novelle spielt 1813 im „Königreich Westfalen“, dieser kurzlebigen Napoleonschöpfung. Es war die Zeit, in der das deutsche Nationalbewusstsein entstand, die Hoffnung auf ein einiges, starkes Reich, das nie wieder Spielball ausländischer Mächte wird. Das Thema ist zu Zeiten einer „Europäischen Einigung“ und einer „Deutsch-Französischen Freundschaft“ irgendwie immer „eingedampfter“ unterrichtet worden.

(Wer kennt heute noch Andreas Hofer? Turnvater Jahn? Den Freiherrn von Schill? „Is der nich noch abundan in Fernseh? Der war doch mal Richter oder so? Jetze machta mit Desiree Nick rum.“ Schmerz lass nach!)

Nationalismus, entgegen heutiger Sonntagsreden, war keine schlechte Idee, sondern ermöglichte die notwendige Bündelung der Kräfte gegen einen sonst übermächtigen Feind, der die Kleinstaaten aussog.

Mein Geschichtslehrer hat das anno’75 in der 8. Klasse bei der Behandlung des Napoleonthemas in folgende Worte gefasst:

„…damals lernten die Hessen, Sachsen, Thüringer, Preußen usw. dass sie eben nicht nur das sind, sondern alle zusammen Deutsche, die unter derselben Knute litten. Da entstand Nationalismus. Das war damals was Fortschrittliches!“

Aus der Klasse irgendein Blödmann:

„Or! Gommor da jetze zu de Nazis?“

Herr M. erhob sich von seinem Stuhl, ging zur Tafel und schrieb an:

Nationalismus 

Nationalsozialismus.

Dann wechselte er zu roter Kreide und machte hinter den oberen Begriff so ein Lehrerhäkchen für „richtig“ und hinter den anderen Begriff ein f für „falsch“

Und sprach:

„Nationalismus ist: Nationalbewusstsein, Nationalmannschaft, Nationales Kulturerbe, Nationalgalerie usw.

NationalSOZIALISMUS ist: Hitler, Faschisten, Weltkrieg, LeichenLeichenLeichen und die ganze Scheiße.

IMMER auseinanderhalten! Klar?!“

Sein Zeigefinger ging nach oben.

Er strich den unteren Begriff durch und ließ beide die Stunde über an der Tafel stehen.

Und zu dem Epochenmoulinetter gewannt:

„Hitler kam hundert Jahre später! Oder siehste, dass Nabolchon örchenswo ä Stahlhelm offhat und Bandsor fährd?!“

Einiges Kichern.

„Indschanor mit Gallaschnigoff, das wär’s jewäsn.“ kräht Bernd.

Aber Herr M. winkt nur ab und Ruhe is‘.

Raabe lebte in einer Zeit, in der man automatisch in den Einheitsgedanken hineinwuchs. Intelligente Menschen Raabe 5yempfanden die tiefe Schmach des Deutschen Bundes, dieses Staatenbundgebildes, das weder Fleisch noch Fisch war. Fürsten hatten immer noch das Sagen, als gäbe es den Absolutismus noch. Sie verbrämten ihr altes Schmarotzertum zwar mit der einen oder anderen „Landesverfassung“ mit ein paar eingeschränkten Grundrechten, aber es war überall zu spüren, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung schier unaushaltbar wurde.

Nur mit Mühe konnte Preußen durchsetzen, dass sich alle Bundesländer auf die gleiche Schienenbreite einigen konnten. Hannover wollte erst gar keine und dann eine selbstbestimmte Breite. Bayern hielt kurioserweise am längsten durch mit Schienenverweigerung, obwohl doch zwischen Nürnberg und Fürth die ersten 3 km überhaupt lagen!

Raabe 5xDie Zwergstaaten mit ihrer mittelalterlichen Einzelfertigung von Nägeln, Textilien, Werkzeugen aller Art verelendeten Zusehens. England überschwemmte den Markt mit Billigprodukten in besserer Qualität. Preußen hielt zunächst per Produktpiraterie einigermaßen mit, und gelangte bald auf die Überholspur; den meisten anderen Fürsten war das Weltgeschehen und die Lage ihrer Völker wumpe!

Also schrieb anlässlich „50 Jahre Waterloo“ Raabe eine Novelle über enttäuschte Hoffnungen, aus den Tagen, als eine Vision aufkeimte, die sich 1815 und 1848 nicht erfüllte. Jetzt in den 60ern feierte niemand das Waterloo-Jubiläum, niemand wagte an dem Tabu zu rütteln, dass es keine Blücher-, Körner-, Jahn-Denkmale gab. Das Volk sollte weiterschnarchen, nicht an seine großen Momente denken, aber in Preußen tat sich was:

Der Deutsch-Dänische Krieg 1864 hatte die Schmach von Olmütz abgewaschen. Das Jahr 1866 war gekennzeichnet von preußisch-österreichischen Querelen, ein weiterer Krieg lag in der Luft und bricht zwischen Niederschrift und Veröffentlichung dieser Novelle auch aus:

Man kann sie lesen als zu spät kommende Mahnung:

Wie lange noch soll dieses Gezeter Deutsche gegen Deutsche angehen?! Wollt ihr wirklich einen Krieg, indem Deutsche auf Deutsche schießen? Mäßigt euch! Schmeißt euch endlich friedlich zusammen und ernennt einen Chef!

(Die Novelle gab es in der DDR als Neuauflage nie!)

Man kann sie lesen als Aufruf:

Klärt das endlich! Kämpft für das Vermächtnis Körners, Schills und Jahns und meiner Ludowike hier in diesem Stück!

Und drittens mag es auch die grummelnd-resignierte Variante der Auslegung geben:

Her mit der Einigung! Kleindeutsch – ohne Österreich! Soll’n die Habsburger selig werden mit ihrem Balkanpotpourri! Die Zerstückelung des Reiches hat es jahrhundertelang geschwächt. Scheißegal, wer es nun eint! Verpreußung? Macht auch nichts. Idioten gibt’s bei denen wie in Braunschweig oder Bayern. Die wird man nicht los. Siehe die Kollaborateure hier in meiner Novelle! Sowas wird es immer geben. Umfaller, Anschwärzer, Charakterlumpen. Schillers Hofschreiber Wurm heckt wie eine Ratte an allen Höfen! Das geht eh nicht weg!

Die Novelle trägt den Titel „Im Siegeskranze“ zurecht – aber er ist zynisch gemeint.

Hier wird kein Reiterheld bekränzt, kein König empfangen.

Mit Siegesgrünzeug an den Hüten feiern die, die gar nicht gekämpft haben, schließlich an einer Leiche, der als einziger in dieser Runde ein solcher gebührt hätte. Feine, böse Pointe!

Der Plot beinhaltet 3 Katastrophen, die so heftig sind, dass der Tod der Hauptfigur tatsächlich nur als Erlösung verstanden werden kann. Die Ich-Erzählerin schließt zwar ab mit einem versöhnlerischen „Alles wird gut!“ oder „Das Leben geht weiter!“, aber das scheint mir in Bezug auf DIESEN Inhalt eher eine Art optimistisches Schwänzchen, damit der vorangestellte Rest überhaupt erscheinen kann!

  1. Unglücklich gestiftete Ehen; das ist 1866 keine Rarität, also muss man sich was einfallen lassen, wie man dieses Dauerbrennerthema, das Heyse und Spielhagen schon zur Genüge strapazieren noch steigern kann. Und Raabe kommt hier auf einen Einfall, der in ganz unaufdringlicher Form sich ganz widerlich anschleicht, dem Leser ein kurzes, arges Frauenschicksal vor Augen führt, das elender nicht sein kann; aber die Tochter, die in dieser Grässlichkeit entstand und das Schicksal ihrer Mutter hier erzählt, kann nicht anders abschließen als mit diesem lapidaren Achselzucken: Ja, so kam halt ich auf die Welt. Damals 1801. Und der Leser überlegt prompt, ob er ähnliche Fälle kennt. Ja, er kennt sie. Sie sind wohl seltener geworden, aber nicht ausgestorben.
  2. Sie berichtet weiter, wie ihre viel ältere Stiefschwester nun ihre Ersatzmutter und Braut eines Kavallerie-Leutnants wurde. 1813. Königreich Westfalen. Regiert von Napoleons Bruder. Also in französischen Diensten. Obwohl Preußen und Mecklenburg gemeinsam mit den Russen bereits Jagd auf die geschwächten Bedrücker machen, da Napoleons Russlandabenteuer von1812 so bilderbuchhaft schief gegangen war.

Die Story bekommt hier Sophie-Scholl-Momente:

Der Leutnant und ein Kollege, sowie dessen Bruder und Ludowike beraten heimlich, wie sie es anstellen könnten, in dem bevorstehenden Kampf auf der richtigen Seite zu stehen. Das Desertieren wird diskutiert. Und schließlich auch – Tat. Allerdings geht sie schief. Die Fahnenflüchtigen werden gefangen eingebracht in ihre Heimatstadt, in der alle bereits die befreienden Preußen erwarten, die Faust in der Tasche ballen, gegen die „Franzosenknechte“, die dienstbeflissen funktionieren – aber keiner traut sich, das aufrührerische Wort zu erheben, den Sturm auf die Büttel zu starten. Und so entstehen noch 5 Minuten vor Schluss der Franzosenzeit Opfer gefangen von den eigenen Leuten.Raabe 5a

Die beiden werden ins weit entfernte Kassel überstellt und dort hingerichtet, am Tag, als die Preußen ihre Heimatstadt befrei’n.

3. Katastrophe folgt: Ludowike erfährt die Nachricht und bricht anders zusammen als erwartet. Kein Heulkrampf, kein Jammern – sondern strahlendes Lächeln, Kleinmädchengetue – Wahnsinn. Ihr Geist verwirrt sich irreparabel.

Raabe schildert die Varianten mit Geisteskranken umzugehen ungeschönt. Anstalt oder zu Hause behalten? Pest oder Typhus! Schauderhaftes Unwissen und fehlende Medikamentenkenntnis ermöglichen sadistischen Brachialkuren fröhliche Urständ.

In der DDR lasen viele den Bestseller „Flucht in die Wolken“, Leidensgeschichte und Selbstmord einer schizophrenen jungen Frau, deren Mutter Journalistin war. Waren die Methoden der 70er Jahre Psychatrie schon äußerst fragwürdig – hier bei Raabe kriegst du die Vorstufe. Inzwischen weiß man allerhand über die Hölderlinbehandlung: Ludowike hier hat das schlimmere Schicksal!

Ludowike hält ein knappes Jahr unter üblen „Betreuungsvarianten“ zuhause durch. Dann folgt eine von Raabe geschickt kombinierte Todesszene voller Symbolik…

Eine bitterböse Geschichte mit soziologisch zutreffendem Tiefgang findet ein Ende in Würde.

Nehmt und lest!

Raabe 5fEine Sache ging mir erst Tage später auf: Warum dreht Ludowike in dieser Art durch? Warum spielt sie nicht die erwartbare heulende Witwe ohne Trauschein?

Zuvor war vom Zaudern der Leutnants gesprochen worden. Sie ringen sich zur Tat durch – weil Ludowike die Mechthild Grosse gab? Weil sie wie diese einen Helden heiraten wollte! Einen Kerl! Nun reißt sie ihre Schuld in den Abgrund! Sie hat seine Zweifel zerstreut! Sie hat ihren Bräutigam auf dem Gewissen! – Sie verdrängt, flieht in ihre Kinderzeit, „als die Welt noch in Ordnung war“.

„Püppi, Püppi schlaf. Dein Vater ist ein Graf. Deine Mutter ein Marienkind, ….“

Fazit: Ein absolut perfektes Ding!

Ich muss meine Novellen-Hitlist neu sortieren!

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