Der Zeitpunkt des Aufhörens

Da war einmal ein Lehrer in mittleren Jahren, knapp über 40, der kam mit seinem Fan-Club, einer 12. Klasse, aus der Aula zurück in den Klassenraum. So eben hatte das Abi-Programm der 13. Klassen stattgefunden, wie alle Jahre.

Üblich war, dass die 13er den 10.-11.-12. Klassen alljährlich ca. 80-90 Minuten lang kabarettistisch den Schulalltag präsentieren. Also schlüpfen ausgesuchte Parodie-Talente des Abschlussjahrgangs in die Rollen von Frau A. und Herrn B. und ziehen diese anhand wiedererkennbarer Besonderheiten -zum Jubel aller- abschließend durch den Kakao.

Nun kamen also nach und nach alle Schüler wieder in den Raum gedröppelt, mehr oder weniger aufgekratzt, die eine oder andere Pointe wiederholend, kichernd, und auf das Klingelzeichen für die Hofpause wartend.

Herr B. lehnte wie gewohnt mit einer Arschbacke am Lehrertisch und wartete ebenfalls.

Alles strahlte um ihn her und Ringo krähte: „Und? Wie fanden Sie’s?“

Sie wussten sich eins mit Herrn B. Wie gesagt: Fan-Club. Sie hatten alle seine Pointen bisher verstanden und er ihre.

Auf die Frage trat gespannte Ruhe ein – in die Herr B knurrte: „Arschlos.“

Verblüffung pur.

Herr B.: „Die 13er haben keinen Schneid. Seit Jahren fürchten hier alle Herrn P. und Herrn T. Und? Wo waren Witze über die? Statt dessen machen die Frau M. runter. Die harmloseste im Kollegium! Die hat hier noch nie jemandem was getan. Widerlich.“

Schweigen im Walde.

Die dämliche Melanie will wie immer auch ne Meinung haben: „Ja, aber…“

Ihr Banknachbar bremst sie: „Halts Maul. Er hat recht.“

Die kluge Dörte am Fenster mit Blick in die Klasse: „Boing. Treffer, versenkt.“

Es klingelt. Der Raum leert sich.

Beim Abi-Ball nähert sich der Herr B.- Parodist vom Abi-Programm dem Original und fragt:

„Ihnen hat unser Programm nicht gefallen?“

„Yep.“

„…hat sich rumgesprochen.“

„Gut so. Schämt euch. Frau M. hats schwer genug.“

Ein Jahr später waren im Abiprogramm auch Herr P. und Herr T. Mode. Frau M. wurde diesmal übergangen. Beim Verlassen der Aula trifft der grinsende Herr B. an der Treppe auf die ebenso strahlende Dörte.

Sie: „Und? Zufrieden?“

Er: „Top!“

Daran musste ich denken, als ich gestern im Riffmaster-Blog den Text von „Dr. Brand“ , einem späten Reinhard Mey Song, las.

Guckst du hier, (ganz runter scrollen, am Ende des Beitrags).

Es traf mich unvorbereitet. Mein Idol wankt. Reinhard Mey hat von „…heiße Caspar“ bis „Narrenschiff“ ein Schaffen hingelegt, das Heinz Rudolf Kunze , Grölemeyer, Lindenberg i tutti quanti auf die Plätze – bzw. gaaaaanz weit nach hinten verweist. Deren Schaffen ist ihm gegenüber besseres Wort-Scrabbel!

Und dann kommt der mit sowas!

Der hat immer Maß gehalten, der konnte Lachen und Weinen erzeugen!

Und dann das!

Der Meister, der einst „Bevor ich mit den Wölfen heule“ schrieb, outet sich nun auf den letzten Metern als Mitläufer in der Meute, bei dümmlichsten Provokationen gegenüber dem vermutlich gutmütigsten Lehrer seiner Schule. Das alte Spiel: Früh übt sich der Welpen-Mob, dort wo es ungefährlich scheint.

Die späteren 68er in den 50s, wie die Pimpfe eine Generation früher, die ihre Inspiration aus der „Feuerzangenbowle“ hatten, die wiederum die Kaiserzeit auf dem Kieker hatte.

„Wenn alles schläft und einer spricht, dann nennt man das (Dr. Brands) Unterricht.“ Der Spruch stammt vermutlich aus der Antike. Er hat so einen Baaaaaaaart! Er ist auch in Meys Schulzeit nicht mehr originell.

Dann bekommt der Song aber die Wendung in’s KZ.

Und prompt erscheint mir die Frage: Tut ihm seine pubertierende Schülerblödheit nur leid, weil er erfährt, dass er da unbekannterweise einen KZ-Überlebenden vor sich hatte?

Sind die Blödheiten klüger, wenn der gutmütige Kauz ein Wehrmachtssoldat gewesen wäre? Kickt dann wieder die Ausrede: War’n ja alle Nazis! Also können wir die alten Kamellen einfach weiter lustig finden!

(Und was wäre dann mit Böll? Mit Borchert? Mit Lorentzen?)

Die plakativste und somit übelste Zeile im Song ist:

„Die Würde aber unberührt…“.

Wie soll‘en das gegangen sein? Als Schwuler im KZ?!

Wo hat er denn DIE DDR-Singeclub-Phrase her?

Die Würde ist schon futsch, wenn sie dir den Schädel rasieren; wenn sie dich zwingen, die Hose runterzulassen, bevor du ausgepeitscht wirst; wenn du aus Frauenmangel von kräftigeren Häftlingen „rangenommen“ wirst; wenn du dich das erste Mal überwindest, einem Mithäftling Brot zu klauen – weil du überleben willst, während er nun verhungert; wenn du vor den Wachmannschaften buckelst, auf allen vieren „deine Mütze holst“!

Und dann kommst du raus und „davon“ – und an einem westberliner Gymnasium unter; willst dir eine neue Würde erschaffen, lebst aber gefährlich, als schwuler Lehrer enttarnt zu werden, (dazu fehlt mindestens eine ganze Strophe!) – in den Adenauerjahren – und diese Rotzgören tränken es dir ein… zum zweiten Mal im Leben.

Und zwischen den Zeilen der ersten Strophe schwingt da immer noch mit: Aber schön war sie doch, die Schulzeit voller „Feixen“ und „Faxen“ als „Creme de la Creme…“ Ach diese peinlich vertruxte Altherrensehnsucht nach „Rabaukentum“, wenn doch nur ein paar beleidigende Gääähnwitze zu vermelden sind.

„Ich bin mit meinem Latein am Ende“,

heißt es kurz vor Schluss.  Ja, die Zeile stimmt.

Aber dieser lateinisch angehängten Bitte um Vergebung fehlt der Rührungsfaktor, den Mey in so vielen anderen Songs immer hinbekam: Caspar, Würde des Schweins, Alter Bär ist tot, Schade – dass du gehen musst…

Die Floskeln zu dürr und unangenehm selbstgefällig: Seht – ich büße!

Irgendwann versiegt bei jedem die Schaffenskraft; man wird sein eigener Schatten.

Ich kann all diese Alt-Stars nicht verstehen, die das doch auch merken müssten und immer weiter machen, und ihr Lebenswerk beschädigen.

Ein Jahr vor seinem Tod schoben sie hier bei uns in der Nähe den alten, hinfälligen Johnny Winter auf die Bühne, legten ihm die eingestöpselte Gitarre auf den Schoß und los gings. Im Sitzen und mit altersschwachen Stimmbändern…

Phil Collins macht das grade nach…

Meat Loaf’s letzte Platte …. stimmlich am Ende. Und Songs schreiben konnte er ja noch nie – ohne Jim Steinman.

Und Reinhard Mey kommt die Wortgewalt abhanden.

„20 Uhr“ … „Menschenjunges“ ….. „keine ruhige Minute“ …. „Alles geht!“…. „Leuchtfeuer“… „Flaschenpost“ … Alben für die Ewigkeit.

„Mr. Lee“ gehört nicht dazu, denn auf der befindet sich „Dr. Brand“.

4 Gedanken zu “Der Zeitpunkt des Aufhörens

  1. Zum Werk von Reinhard Mey kann ich nicht mitreden. Dazu kenne ich zu wenige Texte von ihm. Meine Liedermacher deutscher Sprache waren andere – damals.

    Das „gefällt mir“ habe ich hinsichtlich des Zeitpunkts des Aufhörens geklickt. Ich durchforste derzeit mein Musikarchiv. Dabei stelle ich gerade bei den neueren Werken der älteren Musiker fest, dass die meisten von ihnen ihre Zenithe bereits vor Jahrzehnten schon überschritten haben müssen.
    Schmerzlich daran, dass die Erkenntnis auch die musikalischen Hausgötter betrifft. Neil Young oder Peter Hammill wiederholen sich seit über dreissig Jahren. Freilich gelingt ihnen hier und da noch ein Text oder eine Melodie, aber für Alben mit über 60% interessanten Stücken ist die Zeit vorbei.
    Dafür bricht hier die Zeit der Reduktion, der Mixe und der Entsorgung an.

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    • Bei Hamill kann ich wiederum nicht mitreden. Neil Young würde ich noch etwas in Schutz nehmen wollen. Die späte „Chrome dreams II“ und die „sleeps with angels“ sind halt seeehr gute Spätwerke. Deshalb Einspruch zu den 30 Jahren, aber ansonsten stimmt’s. Auch das letzte Robbie Robertson Album hat „mich nicht gekriegt“.

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  2. Ich kann Deine harsche Kritik in dieser Wucht nicht nachvollziehen … im Gegenteil … es spricht gerade für den gereiften Reinhard Mey, dass er über diese „pubertierende Schülerblödheit“ reflektiert … dass in einem Liedtext dieses Thema nicht in der ganzen Tiefe abgehandelt werden kann, versteht sich von selbst.

    Die spitzfindige Frage „Tut ihm seine pubertierende Schülerblödheit nur leid, weil er erfährt, dass er da unbekannterweise einen KZ-Überlebenden vor sich hatte?“ … ist natürlich erlaubt, aber aus meiner Sicht nicht zielführend, weil man damit in das Reich der wilden Spekulationen kommt.

    Also nochmals: ein sehr ernsthaftes Thema in einer angemessenen Bearbeitung.

    Und ich bilde mir in, dass diese Würde, die man einem nicht mal im KZ nehmen konnte, auch mal so von einem ehemaligen KZ-Häftling ausgesprochen wurde (leider fehlt mir jetzt die Quelle).

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