Die alten Männer und der Frühling

„Quisisana“ von Friedrich Spielhagen – ein Leseerlebnis.

Draußen lenzt es gewaltig. Die Tauben brüten schon. Frühlingsgefühle. Turtelgelüste…

Alt und gesetzt greift man zum Buch. Nach meiner Bruchlandung mit Courths-Mahler neulich geh ich auf Nummer Sicher: Spielhagen! Der Übervater! Er soll mir den Lenz retten!

Also: Greif dir den Band, den du am gründlichsten vergessen hast – er wird dir wie neu sein!

Yepp! „Quisisana“ (1880). Erstlektüre um 2000 herum. Das ist lange genug her. Es ist der Band, der „nur so mitgelesen“ wurde, weil einige andere damals besser, ausgefeilter, größer angelegt wirkten, in meinem Spielhagensommer, in dem ich das ZVAB abräumte.

Damals war ich 40; und diesmal folglich nicht. Das macht in Sachen Eindruck einen gewaltigen Unterschied!

Inzwischen bin ich nicht mehr nur der Mitträumer, sondern mehr und mehr zum „Profiler“ geworden.

Warum schüttet da ein 50jähriger dem Leser dermaßen detailliert sein Herz aus? Der ist doch verheiratet; Familienvater; wohlhabend und respektiert! Und schielt mit seiner Hauptfigur hier nach der „verbotenen Frucht“? Ein Vorzeit-Nabokow? Das Objekt der Begierde ist hier zwar keine Lolita, jedoch der Altersunterschied – immens.

Für die anderen Romane mag gelten: Niemals Fiktion und Autor gleichsetzen – jedoch hier sind der Übereinstimmungen gar zuviele!

„Dies ist ein Hilfeschrei! Es gibt mich immer noch! Es ist noch nicht vorbei! Dies ist ein Hilfeschrei!“ (Tocotronic)

Spielhagen hat schließlich auch nicht vorhersehen können, wieviele Jahre er noch hat. Zu seiner Zeit wäre ein Ableben -um die 55- normal gewesen.

Es ist einer der sogenannten „Kleinen Romane“; andere sagen auch „Novelle“, aber das ist wurschd. Den Unterschied machen eh nur wir und niemand sonst auf der Welt.

Ein Gutshaus in Thüringen, ein Sommer, ein rekonvaleszenter Gast von 50 Jahren und 215 Seiten Liebes-Verwicklungen.

Spielhagen verlegt seine Romane normalerweise nach Pommern oder Berlin, in seine beiden Heimaten. Jedoch auch Thüringen kann er. Besser als Heyse, weil bei dem immer das Münchner Umland um die Ecke guckt und keinerlei Thüringen-Anmutung entsteht, wenn er Konflikte dort hin verlegt. Spielhagen selbst jedoch hat reichlich eigenen biografischen Thüringenhintergrund und er ist in der Lage, tief zu empfinden. So gelingt ihm auch, in wenigen Sätzen oder der Namenswahl von Örtlichkeiten und Personen das typische Zeitkolorit zu skizzieren, so dass es sitzt: Dort, wo immer 3 Städte und 12 Dörfer ein „Fürstentum“ sind, da ist „der Hof“ allgegenwärtig. Thüringen 1880. Das zerhackte Land der Zaunkönige.

„Quisisana“ wiederum ist ein Hotel auf Capri, dort „wo die Wunden heilen“, und wo die Hauptfigur Dr. Bertram eigentlich hinwill, um da den Winter zu verbringen. Thüringen war nur als Zwischenstopp gedacht, weil da ein sehr wohlhabender Studienfreund wohnt. Dessen Angetraute, eine geborene Hildegard von Unkenrode (herrlicher Name!), ist von thüringischem verarmtem Adel und leidet unter der Mesalliance. Sie führt „ein großes Haus“, um „Hof zu halten“ und den Makel ihrer Verbürgerlichung zu kompensieren. Ohne es zu ahnen oder wissen zu wollen, ruiniert sie damit ihren eigentlich schwer reichen Mann.

Die beiden haben eine Tochter. Erna. Das einzige Kind. Man hat sich lange nicht gesehen. Jahre gingen ins Land. Nun ist das Kind 18 und „erblüht“ und so fangen die Verwicklungen an. Onkel Bertrams Onkel-Gefühle haben sich verflüchtigt. Es „lenzt“ in ihm. Er kämpft mit sich und dem Altersunterschied.

Vor 20 Jahren hätte er fast Lydie von Aschhof, die Pensionatsfreundin Hildegards, heiraten wollen, wenn er da schon wer gewesen wär. Mangels beruflicher Erfolge unterblieb das. Die Braut wollte nicht „ewig“ warten, um nicht am Ende als alte Jungfer zu versauern; verlobte sich prompt mit einem alten Grafen, der jedoch noch vor der Hochzeit starb, sodass das Schicksal der „alten Jungfer“ nun erst recht drohte.

Bertram selbst hat angeblich jene Schwärmerei von damals nie überwunden; ja wäre sogar fast daran zugrunde gegangen, dass jene Fee sich gar so schnell mit jenem alten Hippedildrich trösten konnte. So blieb er lebenslang unliiert. Nun steht er zwischen verblühtem Schwarm von einst und erblühtem Patenkind und muss sich irgendwie beherrschen.

Das Buch ist hochinteressant, wenn man bissel biografischen Hintergrund zum Autor hat; bzw. wenn so dies und das aus der eigenen Biografie dazu passt.

Spielhagen verzahnt hier 5 Schicksale aufs feinste. Von allen erfährt man Vergangenheit und Zukunftspläne. Alle haben miteinander zu tun, wollen niemandem schaden, schaden aber doch (beinahe)…Schicksale; sehr gut miteinander verzahnt.

Diese Verzahnung erinnert an Wishbone Ash. Ihre Double Leads galten als einzigartig. Call and response – einander steigernd. Detailversessener als selbst die Allman Brothers! Zwei Hauptfiguren paritätisch mit Vorgeschichte auszustatten und 3 Nebenfiguren ebenfalls fast gleichwertig, das ist literarisches Phönix‘en, Pilgrimage‘n, F.U.B.B.en, wenn du dich auskennst … 1880 hatten sie ja noch keine Plattenspieler. Die Ärmsten!

Heyse-Lese-Erinnerungen stellen sich ein.

Überhaupt scheint mir „Quisisana“ Spielhagens heyseschste Novelle zu sein. Die Capri-Anspielung; die Figurenkonstellation der 5 nahezu gleichberechtigten Handlungsträger. Die kluge 18jährige Fee… Die überbordende Sinnlichkeit an sich… (Natürlich verliebt man sich mit. Noch dazu – im Frühjahr!) Eine von den 5en ist eine russische Fürstin. Noch junge Witwe. Emanzipiert. Reise- und abenteuerlustig. Sie erinnert an Heyses „Glück von Rothenburg“. Leider ist „Quisisana“ das ältere Werk! Andersrum hätte es soooo gut gepasst:

Jene Fürstin aus Heyses Novelle wäscht ihrem kleinbürgerlichen Verehrer aus Rothenburg den Kopf und lässt ihn bei Weib und Kind zurück – dann fährt sie ein paar Stationen weiter nach Thüringen, um hier im Spielhagenschloss eine Ehe zu stiften…

Tja. Aber die heysesche Fürstin erblickte das Licht der Welt erst ein Jahr NACH „Quisisana“. Sapperlot!

Leider schleichen sich auch heysesche Schlampereien ein, für die Spielhagen normalerweise nicht steht:

Erna: – Es verwundert, dass Spielhagen diesen proletarischen Namen wählte. Die Mutter eine ehemalige „Beinahe Hof-Dame“ und die Tochter eine Erna? Spielhagen liebt „sprechende Namen“. Schon klar. Erna kommt von Ernst. Und ernst ist sie durchaus. Trotzdem klingt der Name eher nach „drittem Hinterhof und 12 Kindern im Rinnstein“ als nach „Schloss und Herkunft“.

Schlimmer noch Dr. Bertram: Auch er hat einen Namensmakel. Denn er heißt einfach „Herr Dr. Bertram“ bzw. für Erna „Onkel Bertram“. Da fehlt was! Er hat entweder keinen Vor- oder keinen Nachnamen. Oder aber einen sehr schrulligen Vater, der den Vornamen gleich dem Familiennamen wählte: Dr. Bertram Bertram.

Außerdem ist Dr. Bertram herzkrank und braucht einen Hausarzt, auf den er hört. Mediziner also ist er nicht! Welchen Beruf er hat, erfährt man nicht, nur dass eine Buchveröffentlichung ihm einst Ruhm und Wohlstand eintrug. Ergänzt durch ein überraschendes Erbe. Ein bissel erinnert das sogar an die mysteriöse Sammlung im „Drama von Glossow“. Dort blieb auch zuviel im Ungefähren, was „Butter bei die Fische“ gewesen wäre, wenn es dastünde.

Andererseits war dieses Buch für Spielhagen sicher ein schwieriges. Er ist 50, als er es schreibt. Genau wie Onkel Bertram. Mit 50 sticht im Allgemeinen nochmal der Hafer; vor der Gruft. Finales Aufbäumen. Ich kann bestätigen, dass es mir ganz ähnlich ging.

Heute hört man dann Deep Purples „Perpenticular“ und sieht bei „Rosi‘s Cantina“ Marty Robbins „Feleena“ auf dem Tisch tanzen und dann geht es wieder. Bissel Phantasie muss man schon haben. Das erspart, sich zum Goethe in Marienbad zu machen. Ian Gillan sei Dank!

Eine Chance, die Spielhagen nicht zu Gebote stand. Sein Biograph und seine eigenen Erinnerungen geben Schlüsselmomente preis: Er hatte mal so einen schönen Sommer als Gast in einem thüringischen Landschloss, als er „noch nichts war“. Er lernte dort eine Hedda kennen; Pensionatsgefährtin der Gastgeberin; es „matchte“; alle bekamen das mit. Die Gastgeberin aber nahm ihn bei Seite und bat ihn freundlich: „…das tunlichst zu unterlassen. Wer wollen Sie Hedda sein? Sie hat besseres verdient, als ein Leben in Armut und Unsicherheit.“ Spielhagen sah das seufzend ein. Sein großer Erstlingserfolg als Romanautor geschah Jahre später. Er heiratete – aber keine Hedda. Eine junge Witwe mit zwei Kindern. Und adoptierte. Dann kam Kind Nr. 3 und wurde Hedda getauft. Da wob ein unerfülltes Kapitel fort… Wie glücklich war die Ehe Spielhagen?

„Es muss in Ihrer Seele ein verborgenes Etwas sein, das an Ihrem Leben nagt, ein tiefer, dunkler Unterstrom von Gram und Leid. Habe ich recht?…“ (fragt der Hausarzt Bertram/Spielhagen am Ende)

Die Hedda-Ähnlichkeiten sind in seinen Romanen Legion. Nur wer eine tiefe unerfüllte Leidenschaft mit sich herumträgt, kann solche Frauenfiguren erschaffen, wie all diese Ediths, Eleonores, Paulas… und wo die erste Kontaktaufnahme passiert, ist auch nahezu immer ein herrschaftlicher Park nicht weit. Dass einmal ein Romanheld eine Frau mit Kindern ehelicht, oder es wenigstens erwägt – passiert hingegen nicht.

Er setzt also mit der Eröffnung des Romans hier seinem Hedda-Sommer ein Denkmal. Aber in welcher Form?! Die große Lydie-Liebe, das lange Leiden danach, werden ausführlich reflektiert. Dann aber sitzt Bertram „seiner“ Lydie 20 Jahre später gegenüber an der großen Tafel der Gastgeber und erkennt in der „affektierten, grell geschminkten, dürren Ruine“ die Fee von einst nicht wieder. Unvermählt geblieben wurde sie die „komische Alte“ bei Hofe in der Residenz. Ein paar Buchseiten später erfahren wir, dass sie 38 ist!

Wenn seine echte Hedda dieses Buch einst in die Finger bekam – – – oh Gott, die Arme!

Der Fuchs und die Trauben? Spielhagen so kleinlich? Oder hart berichtend über reale Wandlungen? Wo bleibt die Selbstkritik?

Will sich Spielhagen hier von einem Trauma befreien? Passiert ihm das nur aus Laxheit? Hat es zuvor ein spätes Wiedersehen gegeben, das alte Narben aufriss? Oder will er einfach seine Ehe retten, weil ihm seine Frau auf eine heimliche Korrespondenz mit der Namensgeberin der Tochter kam und eine Szene machte?

quisisana 1880

Spielhagen lässt auf „Quisisana“ den umfangreicheren Roman „Angela“ folgen: In erster Linie der Roman einer Ehekrise.

Lydie jedenfalls hat allen Magnetismus ihrer jungen Jahre eingebüßt. Nur fehlt, wenn sie nun als so kurioses Hascherl bloßgestellt wird, der selbstkritische Satz Bertrams:

Welch ein Depp muss ICH vor 20 Jahren gewesen sein, all diese Defizite nicht kommen zu sehen! Wie hätt‘ ich mich mit der gelangweilt oder pausenlos fremdgeschämt!

Auf der Erna-Seite hingegen läuft es anders: Die wird zur interessanten Schönheit verklärt. Was auch wieder an Unwahrscheinlichkeit grenzt. Es gibt schöne Frauen und interessante Frauen. Beides in einer? Hm. Bertram wird wieder Teen.

„Verliebte Jungs sind irgendwie wie Kinder. Je verliebter – je blinder.“ (Purple Schulz)

Jedoch kämpft er mit sich und weiß, die Notbremse zu ziehen. Spielhagen war lange Jahre Goetheverehrer und kennt die peinliche Vorgeschichte der „Marienbader Elegien“ genauestens! Und so lässt sein Alter Ego Bertram der Jugend ihren Lauf. Die schöne Erna wird heiraten, jedoch nicht ihn. Ihre Freundin Agathe – „die wie sie ebenfalls zur Jungfrau herangewachsen war, obwohl man von ihr nicht sagen konnte, dass sie durch diese Metamorphose gewonnen hätte“ – freut sich für sie.

Heyse hebt bisweilen auch kluge Frauen auf den Thron, die nicht das „Potential“ zur Titelbildschönheit haben. Spielhagen erschafft für sie lediglich die Rolle „des Mädchens, das die Taschen hält“ (Demmler). Er lässt sie kameradschaftlich bemitleiden.

Was noch zu sagen wär: Das lange Gespräch zwischen Bertram und dem Medizinalrat am Ende des Buches enthält viele versteckte Botschaften über die Befindlichkeit des alternden Bestseller-Autors Spielhagen. Es ist eine Art Bestandsaufnahme, Zwischenbilanz oder Lebensbeichte. – „Vermutlich passiert es bald.“, scheinen diese Seiten sagen zu wollen. Er will aufräumen. – Aber er hat noch 32 Jahre.

Alles in allem schreibt hier ein kluger Mann mit unerfülltem Herzen.

Aber vielleicht war ja auch nur Frühling.

„In Rosis Cantina tanzt heute Feleena

So barfuß und braun auf dem Tisch

Mond und Sterne sie lauschen

Wie die Pulse drin rauschen

Doch Feleena bleibt lange noch frisch.“

So the Music is the healer.

2 Gedanken zu “Die alten Männer und der Frühling

  1. Dein Text ist sehr hübsch und ich komme mir wie ein doofer Besserwisser vor. Aber
    „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“

    Spielhagen hat Hedda kennen gelernt, als er auf dem Wege von Pustow (wo er 1852-54 bei der Familie von Braun Hauslehrer war) nach Stralsund einen Abstecher machte, um einen Freund zu besuchen.

    Thüringen war die Heimat seiner Frau Therese. Spielhagen hat Thüringen mehr und reiner geliebt als Vorpommern, für das er eher (wie Du, Stichwort Prora,) eine Art Hassliebe empfand.

    Natürlich hat Spielhagen Selbsterlebtes für seine Romane benutzt. Aber er konnte als echter Schriftsteller damit souverän umgehen. Und er hat mitunter mit Menschen gespielt, um sie zu beobachten. (Siehe seine Briefe an Elisabeth von Ardenne.)

    Aber geliebt hat Spielhagen seine Frau Therese, die, als er sie kennen lernte, schon ein Stück bewegtes Leben hinter sich hatte. Sie war das Modell der meisten der von Dir genannten Spielhagenschen Heldinnen.

    Der Tod seiner Frau hat Spielhagen tief erschüttert. Danach konnte er nicht mehr schreiben.

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  2. Hui! Ein Eintiegslob von dir?! Das zählt doppelt!
    Okay, dass ich Hedda nach Thüringen gepackt habe, mein Fehler. Weil halt auch für mich die „Thüringer Pforte“ die reinere Liebe ist als Restpreußen. Idyllische Ereignisse rutschen mir nahezu immer irgendwo ins Saaletal.
    Ob ich das nu umbaue oder so stehen lassen werde – weiß noch nicht.
    Beim Thema Hedda oder Therese – tja, da bleibt unser Dissenz bestehen. Frau Mohr in „Angela“ oder Frau von Randow in den „Stummen des Himmels“….
    Das Nichtmehrschreiben nach „Frei geboren“ schiebe ich anderen Gründen zu: Alles scheint gesagt, der Umsatz, die Reputation schwinden, die stilistischen Anfeindungen, die politische Richtung als gefährlich falsch erkannt … abgekämpft, nach dem 70sten.

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