Da war dieses Buch. Braun in Braun. Denn das Papier der Seiten nahm im Laufe der Jahre die Farbe des lehmbraunen Schutzumschlages an. 1983 erschienen und gekauft. Paul-List-Verlag Leipzig. Es war die Zeit der Stagnation. Da war das Papier, das die Ehemalige für Druckerzeugnisse verwendete eben auch schon „hinüber“.
Es ist ein Indianerbuch. Aber es erschien viel zu spät, um kleine Dakota zwischen Elbe und Oder zu begeistern, oder viel zu früh, damit es altgewordene Möchtegern-Dakota ebenda erreicht, wenn diese Zeit haben und ihre kindlichen Indianererinnerungen wiedererwecken.
So wurde es ungelesen in die zweite Reihe gestellt. Schließlich auf den Dachboden verbannt. Neulich wollte ich es fast aussortieren. Aber ich überflog die ersten Seiten – und – nun MUSS es bleiben!
Es ist kein Indianerbuch im herkömmlichen Sinne. Aber es ist das „Wurzelwerk“ von „Blauvogel“, „Den Söhnen der großen Bärin“ und „Winnetou“, wie aufzuzeigen sein wird.
John Tanner „30 Jahre unter Indianern“, aufgeschrieben nach seinen mündlichen Berichten von Dr. Edwin James. Erstveröffentlicht 1830 in New York. Deutsche Auflagen unregelmäßig seit 1835.
1. Die Andersartigkeit des Inhalts
Der direkt betroffene, weiße Ojibwa John Tanner schildert die Indianerwelt 1789-1820, wie sie sich so nirgends sonst finden lässt, authentisch „von innen“.
Er berichtete im Krieger-Stil. Gefühle haben da keinen Platz. Er lebte ein Nomadenleben im Tipi und ständig auf der Jagd nach Fleisch. Mal herrscht Überfluss, mal Hungersnot – aber immerwieder findet sich dann doch noch im letzten Moment ein erlegbares Tier oder ein vorbeiziehender befreundeter Stamm, der noch Pemikan abgeben kann.
Selbstlose Solidarität zwischen befreundeten „Zeltgruppen“ unterschiedlicher Stämme kommt also vor. Grundlose Feindschaft mit den Sioux(Dakota) jedoch auch. Wiederholt rotten sich die Ojibwa zusammen, um ein Dakota-Dorf zu überfallen. Jedesmal scheitert das Unternehmen jedoch vor Erreichen des Ziels. Denn man vermutet es zwar irgendwo da draußen in der Prärie, kennt aber die genaue Lage nicht. Der Marsch zieht sich in die Länge. Versorgungsproblem, steigende Unlust, Massen-Desertation. Der Häuptling wird jedesmal nur für diesen einen Kriegszug akzeptiert und mit steigendem Hunger sinkt diese Akzeptanz dann immer auf den Nullpunkt. Alles verkrümelt sich wieder zurück zu den Zelten der Familie und geht in Kleingruppen jagen. Tanner zieht mit seiner Indianerfamilie meist allein oder mit nur 2 oder 3 Zelten anderer Familien herum.
Fleisch, Fleisch, Fleisch machen! Endlos werden Jagderfolge aufgezählt. Dabei wird deutlich mit welcher Verschwendung gejagt wurde: Wenn Gelegenheit ist, wird getötet. Mehr als man braucht oder verarbeiten kann. Weise Häuptlingssprüche zur Schonung der Natur sucht der Leser vergebens. Generell wird die Kreatur lediglich nach ihrem Nährwert betrachtet. Ist ein Waldstück leergeschossen, wird weitergezogen.
Einen weiten Raum nehmen die Suff-Ausschreitungen der Krieger untereinander ein. Jedes Jahr im Frühjahr ziehen sie mit ihrer Pelzbeute vom Herbst und Winter zur Handelsstation, wo sie eigentlich Mehl, Munition, Pferde eintauschen wollen, aber dem Schnaps nicht widerstehen können. Minimale Mengen reichen zur Volltrunkenheit, in der sie sich die Felle billig abschwatzen lassen und dann in alkoholisiertem Größenwahn übereinander herfallen. Arm wie die Kirchenmäuse betteln sie hinterher ausgenüchtert bei den Händlern um „Kredit“, um doch noch zu Mehl und Munition zu kommen. Ein nicht enden wollendes Trauerspiel. Keiner von ihnen lernt daraus für den nächsten Frühling. Vom „Edlen Wilden“, der Kopfgeburt europäischer Schriftsteller, bleibt nicht viel übrig.
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2. Die Weiterverwendung des Stoffes
Tanner wird im Alter von 9 Jahren 1789 von den Ojibwa entführt. Ein Krieger hat seinen Sohn verloren, die Frau überwindet den Schmerz nicht, also kommt er auf die Idee, ihr Ersatz zu schaffen. Da er jedoch nicht an die Sprachbarriere denkt, ist die Freude der Indianerfamilie über den weißen Fang schnell dahin. Der kleine John durchleidet Hundezeiten, bis eine angesehene Häuptlingin einer anderen Zeltgruppe vorbeikommt, das Elend bemerkt und den kleinen, inzwischen Zehnjährigen seiner Zwangsstiefsippe abkauft. Hier wird er besser behandelt, bekommt regelmäßiger von der Nahrung ab und macht Fortschritte. Schließlich bekommt er ein Gewehr, geht auf die Jagd, bricht in einer Schneewehe ein und bemerkt, dass er auf dem Kopf eines schlafenden Bären steht. Er erschießt ihn und rettet somit seine Familie vor dem gerade drohenden Verhungern.
Peng! Das kommt dir bekannt vor? Dann bist du Ossi und hast in Kindertagen „Blauvogel“ gelesen. In der DDR ein ewiger Bestseller von 1950 bis mindestens 1975. Danach flachte die Indianerbegeisterung in der nachwachsenden Generation spürbar ab.
Anna Jürgen hatte sich an einer Art Preisausschreiben zur Schaffung einer neuen sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur beteiligt und gewonnen.
Sie muss unzweifelhaft Tanners Buch gekannt haben. (Ihr Mann wird bei Wikipedia als „Indianerforscher“ vorgestellt.) Sie peppt den Inhalt der ersten 30-40 Seiten daraus gefühlig auf, wechselt den Indianerstamm aus, macht aus John einen George und aus den Ojibwa werden Irokesen. Zusätzlich dramatisiert sie die Begegnungen mit den Weißen, die bei ihr keine verlässlichen Pelzhändler, sondern Skalpjäger sind – und lässt das Buch damit enden, dass der ca. 16jährige George zu seiner weißen Familie zwar zurückkehrt, jedoch dort nicht mehr klarkommt, sich zu sehr als Exot fühlt und deshalb lieber wieder zu den Irokesen zurückkehrt.
Der wirkliche Blauvogel alias John Tanner dagegen beschreibt, wie ihm das Jägerleben zunehmend gefällt, wie er kontinuierlich Kontakt mit weißen Pelzhändlern hat, jedoch keinerlei Lust verspürt, wieder wie ein Weißer zu leben. Er hat nun Weib und Kinder und sein erster Stiefvater hatte sich bei einem späten Wiedersehen damit gebrüstet, die ganze Tannersippe inzwischen getötet zu haben. Eine Lüge, wie sich herausstellen wird. Erst als die Geschwister seiner Frau an einer Seuche sterben und die Schwiegermutter dies auf einen bösen Zauber des ungeliebten hellhäutigen Schwiegersohnes zurückführt, hat der nun ca. 40jährige die Nase voll von ständigen Komplotten, da ihm die Schwiegereltern nach dem Leben trachten. Auch seine Frau schwankt in ihrer Einstellung ihm gegenüber. Er verstößt sie und kehrt zu den Weißen zurück. Allerdings will er seine Kinder mitnehmen, was zu Verwicklungen führt. Die Kinder sind sich uneins. Ein älterer Sohn bleibt bei den Ojibwa. Die Tochter im Teen-Alter will mit Vater zu den Weißen.
Dieser Aspekt des freiwilligen Folgens in die Welt der Weißen ist eine deutliche Parallele zu Toka-ihtos Jugend (Söhne der großen Bärin, Band 1 „Harka“; Liselotte Welskopf-Henrich), mit vertauschten Geschlechtern. Harka, der spätere Toka-ihto, folgt freiwillig seinem Vater in die Verbannung, die letztlich zu den Weißen führt. Schwester Uinonah bleibt bei der Großmutter.
Fehlt noch der Hinweis auf Karl May. Tanner erwähnt viele Ojibwa-Namen von Kriegern, die eine Weile mit ihm ziehen, oder denen er sich anschließt. Darunter ein Wa-ned-taw. Zufall?
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3. Das Nachwort
Der interessanteste Teil des Buches ist das Nachwort jenes Dr. Edwin James, der da ungeplant zum Tanner-Biografen wurde.
Es ist ein gelungener Rundumschlag gegen alles, was da so an Indianerpolitik seitens des weißen Mannes versucht wurde: Lauter einander widersprechende Ansätze von Integration und Ausrottung. Besonders gründlich widmet er sich jenen Internaten, die 1830 herum gerade entstehen, in die ausgewählte Indianer- und Halbblutkinder gesteckt wurden, um „ein bisschen was von“ Religion, Geschichte, Algebra und Landvermessung beigebracht zu kriegen. James fragt: Was nützt es ihnen, wenn sie später zurückkehren in die Wildnis, unter ihre Altersgenossen, die inzwischen jagen und kämpfen gelernt haben? Wer schneidet dann besser ab?
Seit 2021 ist das Thema in Kanada wieder aktuell, weil man auf die Kindermassengräber gestoßen war, die in den Gärten der ehemaligen Internate von den „Erfolgen“ jener Einrichtungen künden.
Darüber hinaus erstellt Dr. James eine Art Psychogramm von seinem Sensationsbekannten:
Wie wurde der doppelte Kulturkreiswechsel verkraftet?
Er hat da in Detroit einen Weißen vor sich, in nun wieder europäischem Outfit, mit nun wieder kurzgeschnittenen Haaren. Einen toughen End40er mit unstetem Indianerblick, der ständig rotiert, um rechtzeitig Gefahr zu erkennen. Im Gespräch und bei Nachfragen reagiert er bisweilen aufbrausend impulsiv. Zurechtweisungen nimmt er als Kampfansage. Ständig meint er, sich rächen zu müssen – denn „ein Mann, der Unbill duldet, verliert sein Ansehen, wird Gespött.“
Als Bekanntschaften umgibt er sich unter Weißen also eher mit zweifelhaften Personen, weshalb ihm nahegelegt wird, doch lieber wieder an die Grenze zu gehen, „weil er da besser hinpasst“.
Automatisch drängen sich die Migrationsprobleme von heute auf: Integration von Massen von „Naturkindern“ fortgeschrittenen Alters, ohne Bildung und mit hochfliegenden Träumen! Was, wenn sie merken, dass sie auf diversen Praktikumsplätzen ausgenutzt und schlecht bezahlt-, aber niemals in diesem Leben – Arzt oder IT-Manager werden? Oder wenn „Bayern-München“ niemals anruft? Sie sind keine Ojibwa. Aber das Problem ist das gleiche: Die mitgebrachte Prägung wird unterschätzt – bzw. totgeschwiegen. Die Politik möchte weiterträumen lassen. Endlich soll einmal ein Vielvölkerstaat gelingen, obwohl alle Vorgänger-Beispiele mehr als kläglich scheiterten.
Wie Tanner sich entschied, bleibt offen. Wie unsere derzeitige Lage endet – auch.
Mich erinnert das an die Story von Konrad Sternberg, dessen Mutter bei der Geburt verstarb und der dann bei Verwandten aufwuchs. Mit elf kam er zurück zu seinem Vater, der ihn als billige Arbeitskraft brauchte. Er vertrug sich nicht mit ihm und flüchtete zu den Indianern. Später kam er zurück. Doch dann streitet er sich mit seinem älteren Bruder um eine Frau. – Jetzt ist Krieg, und nur Konrad kann mit seinen Verbindungen zu den Oneida retten…
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Hui. Kenn ich nicht. Toller Hinweis!
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Kennste wohl. Spielt im Siebenjährigen Krieg und ich empfehle unbedingt die im Internet verfügbare Erstausgabe von 1870. Und für alle anderen; Spielhagen (der mit den oft irreführenden Titeln!) „Deutsche Pioniere“
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Oops. Klopps vor die Stirn. Hab ich 2004 rum gelesen. Hat wenig Eindruck hinterlassen, bis auf den Naturraubbau, den da die Köhler anrichten, die den Wald voll „auf Verschleiß fahren“.
Du ahnst es: Es war in meiner damaligen Spielhagenschwemme dank ZVAB eins der letzten Werke, die ich las – und da fiel es sozusagen durch den Rost.
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Außerdem fällt mir gerade ein: Spielhagen hatte ja auch einen Hang hin zu engl.-amerikan. Literatur. Der könnte zuvor ebenfalls den Tanner gekannt haben, wegen „Weißer geht unter die Indianer“ und so.
Coopers „Ansiedler“ stecken auf jeden Fall in den „Deutschen Pionieren“.
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„Die ahnungsvolle, schwermütige Beleuchtung einer untergehenden Sonne, die er auf seinen letzten Mohikaner fallen läßt, hat für einen Moment eine recht hübsche Wirkung hervorgebracht, aber das grelle Licht der Kritik zerstörte nur zu bald diesen zauberhaften Schimmer. Man fand, daß besagte Indianer sehr schmutzige, rohe und grausame Burschen waren, und wollte nicht mehr an ihre unvergleichliche Tugend und Ritterlichkeit glauben. Mit einem Wort: ihre poetische Rolle war ausgespielt, und wenn ein Dichter sein Publikum noch mit diesen roten Gesellen unterhalten wollte, so mußte er den historischen Boden verlassen und sich auf das unverletzliche Gebiet der eigentlichen Sage zurückziehen, wie dies kürzlich Longfellow in seinem Hiawatha mit einigen Erfolg getan hat.“ Spielhagen, Amerikanische Lyriker, in Vermischte Schriften, 1864
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Im übrigen gibt Spielhagen selbst – in der Erstausgabe – seine Quelle an. „Geschichte der Deutschen im Staate New York bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts“ von Friedrich Kapp; einem badischen Revolutionär von 1848, der emigrierte und später wieder zurückkehrte. Über die Wikipedia findest Du das herunterladbare Buch, in dem tatsächlich die Oneida vorkommen.
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Kann trotzdem sein, dass er damit lediglich seine Hauptquelle erwähnte, während anderes Gelesenes „im Verborgenen“ mitgewebt haben mag, ohne dass es ihm bewusst wurde.
Übrigens interessant, dass sich (trotz Tanner und Spielhagens obiger Einlassung) allein in Deutschland die positive Sicht auf die Indianer so lange erhalten hat. Überall sonst wurde die 08/15 Westernsichtweise übernommen.
Der erste Schuber DVDs der Gojkofilme nach der Wende enthielt auch einen Dok-Film einer Reise von Gojko in die Dakotareservate. Die staunten dort nicht schlecht, dass da irgendwo in der Welt SOLCHE Filme gedreht worden waren.
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