Herbstgedanken

Sonntagmorgen 7 Uhr, den Player angeschmissen und das nächste Buch aufgeschlagen. Draußen wird es hell, aber drinnen braucht es noch die Lampe. Der Computer bleibt aus.

Benson und Earl Klugh „Collaborations“ wecken die Denkmaschine.

Die Kinder sind nun längst aus dem Haus. Die Frau schläft noch. Niemand will was von dir. Niemand stört. Von 7 bis 9; das ist DEINE Zeit.

„Das ist der einfache Frieden…“(DDR-Pionierlied) Wieso mir das jetzt einkommt, weiß ich auch nicht.

herbstbuch3Vorgestern hab ich Juli Zehs „Über Menschen“ angelesen. Nun ja… leicht lesbar. Aber eine Westberliner Schlunze auf Selbstfindungstrip in der Prignitz, mit so Erkenntnissen der Marke Latte-Macchiato-Prenzelberg-Mälei:

Da „draußen“ gibt es auch Häuser! Und Leute! Und zu den Häusern gehören Grundstücke! Und die können mitunter sehr groß sein! 4000 Quadratmeter sind echt viel! (Wenn man ihnen allein mit einem Spaten zu Leibe rückt!) Hab ich einfach so gekauft. (Was der mediale Klischee-Wessi eben so macht. Die ZEIT macht mir dauernd weiß, dass es pausenlos Karrieren gibt, wo Mit20er 3000.- netto monatlich machen.) …

Das war nun nicht das, womit ich gemeinhin Mitleid empfinde. Identifizierung gleich ganz unmöglich. Nach 11 Seiten wurde ich eh weggelockt.

HerbstbibelGestern griff ich zu Heyses „Meraner Novellen“. Lag schon eine Weile hier. Umfasst nur 3 Novellen a 150 Seiten. Die erste kannte ich. „Unheilbar“. Mit ca 32 oder 35 gelesen. Also nicht erst gestern. Mehr als das Rückgrat des Plots war mir nicht mehr erinnerlich. Aber gefallen hatte das lange, relativ ereignislose Textlein von einer vermutlich schwindsüchtigen jungen Frau, die daheim Mutter pflegte und deren Stelle beim viel jüngeren Bruder einnahm, den Vater versorgte und sich nie etwas für sich selbst gegönnt hat, eben doch. Es wird wohl am Trigger „Pflege“ gelegen haben. Das Thema hatten wir als junge Eheleute leidvoll selber durch. Meine Frau mehr als ich. Also konnte ich sie auf jene in der Geschichte beziehen.

Eigentlich wollte ich diese bekannte erste Novelle nun weglassen, zu neugierig war ich auf die zweite mit dem ach so mystischen Titel „Der Kinder Sünde der Väter Fluch“; jedoch sollte es anders kommen: Ich schlug das Buch auf, las die ersten anderthalb Seiten von „Unheilbar“ – und der alte Meister fing mich zum zweiten Mal mit derselben Geschichte. Ich wusste sofort: Das gefällt dir wieder – und es wird völlig anders sein, als vor 30 Jahren.

Das einst noch frische Pflege-Notstands-Trauma ist inzwischen versandet. Der frisch gebackene Rentner-Leser wird nun hineingestellt in eine Geschichte, die -in Tagebuchhäppchen verfasst- darstellt, wie eine noch junge Totkranke sich IHREN Lebensabend gestaltet. Der Hausarzt schickte sie nach Meran. Das sonnige Südtirol sollte ihr die letzten Tage in Licht und Lust (zum Wandern) verschönern und vielleicht das Unabänderliche ein wenig hinauszögern helfen, so wurde ihr gesagt. Aber das Ganze wird nun nicht etwa zum Poisel-Text. (Heulen kannste wo anders.) Die junge Kranke hadert nicht mit ihrem Schicksal, sondern ist willens, genau das zu vollziehen, was man heute neudeutsch „quality time“ nennt. Sie wird zum Diogenes von Meran; erlebt die Kurgesellschaft von außen und lehnt ihr Getue ab. Sie will sich „nun nicht mehr“ sittsam in Konventionen langweilen lassen!

Sie „geht ihre einsamen Wege; alle Sinne geschärft und hell wach…“(Metropol) Keine Ahnung, weshalb mir das nu‘ einkommt.

Und sie vertraut ihrem Tagebuch Sätze an, die von Hesse oder Sartre stammen könnten.

„Ich sagte mir im Gehen und Schauen: Dies ist mein, dies genieße ich und niemand kann es mir wieder nehmen.“

Und aufbegehrend:

„Nein ich ertrage es nicht länger! Und sollte ich der ganzen Welt einen offenen Fehdebrief schreiben; ein Sterbender braucht nicht zu lügen, braucht sich nicht misshandeln zu lassen und dankbar dazu zu lächeln. Ich bin so zerknickt, zerrieben, in allen Nerven empört, dass ich am liebsten von meinem Fenster aus durch ein Sprachrohr der ganzen Gesellschaft meine feierliche Absage zuriefe, wenn sie jetzt nicht grade alle bei Tische wären, meine Peiniger!“

Yep! Wo kann ich das rahmen lassen?!

Die Würfel also sind gefallen: Für die nächsten Tage/Wochen wird es wieder Heyse sein als Lesefutter. Je nachdem, in wieweit mich die üblichen Medienportale mit ihrer anhaltenden Realsatire davon abhalten werden, gute Literatur zu genießen. Detox-Day! Detox-Day! Schreibt sich so leicht. Is‘ schwerer als man denkt.

Heyses „Unheilbar“ wirft die Frage auf, wer denn hier der wirklich „Unheilbare“ ist: Die junge, pflichtbewusste, aufopfernde Schwindsüchtige im letzten schönen Hafen ihres kurzen Erdendaseins, oder die Gesellschaft, in der metaphorisch gelesen erst recht gefährliche Tuberkeln werkeln:

„Ich habe mir heute früh beim Aufwachen die Frage gestellt, wie verwunderlich es doch ist, dass die verschiedenen Stände einander gegenseitig um eine Freiheit beneiden, die in keinem zu finden ist, wo überhaupt noch ein Standesgefühl bewahrt wird.(…) Wie ich doch jene einfachen Menschen (Einwohner von Meran) beneide, die hier geradezu paradiesisch dahinleben (…) und nichts wissen von den hundert eingemauerten, kleinstädtischen Rücksichten der sogenannten Gebildeten – wie der Seidenwurm nicht ahnt, wieviel glänzendes Elend sein Gespinst vielleicht dermaleinst verschleiern wird.“

Automatisch stimmst du zu. Die Krönung der Schöpfung beherrscht nur eines richtig gut: Sich das Dasein so richtig schwer zu machen. „Respekt“? Ein Slangbegriff aus dem Gangsta-Rap. „Vernunft“?  Müsst‘ ick googeln ßurßeit! Was gehörte sich damals nicht – und was heute? Wer darf mit wem reden und was ist dabei zu beachten? Welche Frage schickt sich nicht? Welches Volkabular auf jeden Fall vermeiden? Jedenfalls unter den akademisch halbgebildeten Überschriften-Wissern der Gegenwart. Die Ständegesellschaft ist tot? Dass ich nicht lache!

Und du staunst mal wieder, wie leicht das Assoziieren ist, bei einem Text von 1862. Wir sind nicht wirklich weitergekommen. Die Ständeordnung verfiel. Der Neid blieb, sowie die Lust an Tratsch und Hetze. Der Mob ist ewig. Das gehört zur menschlichen Natur, wie der Schwanz zur Ratte.

„Der Sieg der Vernunft“ wird pausenlos herbeigepredigt. Aber das Gegenteil getan.

dav

„Die Dummheit reitet die schnelleren Pferde.“ (Keine Ahnung mehr, wo ich das mal aufgeschnappt habe. Könnte der späte enttäuschte Karl May gewesen sein.)

Gabriele Krone-Schmalz hält in Reutlingen einen beachtenswerten 90 Minutenvortrag. Eine bittere Bilanz! Fakten basiert. „And she moves on a solid ground…“ (Van Morrison) sozusagen. Sein Inhalt gehört in jedes führende Massenmedium, ist dort aber nicht zu finden. Denn die haben keine freien Kapazitäten. Dort tummeln sich die Rüstungsapologetinnen alias „Russlandkennerinnen“ wie einst jene namenlos gebliebenen Orientexperten, die 2002/03 den alten Scholl-Latour in Sachen Afghanistan belehrten. Grins. Wo sind se hin? Ähem.

Einer seiner Bestseller hieß „Russland im Zangengriff“. —?! — Schau mal wieder rein. „‘nuff said!“

An den Rand setzen, Kaffee nachschenken. Zuschauen. Schnauze halten.

Heyse mochte die Umstände der Zeit nicht, in der er zu leben verdammt war. Seine Kritikpunkte haben Hand und Fuß: Eine Zeit der Wachtmeister und Advokaten, des Gleichschrittes und der Paragraphen, der Gesangs- und Turnvereine (Hauptsache, es erlöst vom Denken), Größen- und Erlöserwahn; immer unromantischer werdende Kunst, die dadurch alle Mystik einbüßt. Keine Harmonie im Zusammenleben in all den Zwangs- und Versorgungsehen seiner Tage; usw. usf.

„There ain’t no love in the heart of the City…“(Whitesnake), weiß auch nicht, wie ich darauf komme.

Werde mal die CD wechseln. Van Morrison. Beautiful Vision. Soviel Zynismus muss sein. Herbstklänge. Der alte Klempner kräht es einfach raus:

I’m a dweller on the threshold
And I’m waiting at the door
And I’m standing in the darkness
I don’t want to wait no more.

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6 Gedanken zu “Herbstgedanken

  1. Der Heyseteil ist wunderschön. Hochinteressant.
    Aber dass ich soweit gekommen bin, ist ein Wunder. Denn der Abschnitt über das mutige Buch von Frau Zeh ist von einen bornierten Vollidioten geschrieben.

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    • Dankeschön. 🙂 Humor haste halt nich‘. Ich hab ja nur den Eindruck über die ersten 11 Seiten wiedergegeben. Die haben mich erstmal nicht gekriegt. Aber ich werds schon noch lesen. Und eventuell dann auch loben.

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      • Ich würde nicht so schimpfen, wenn Du den Text schlecht finden würdest. Aber was Du schreibst, hat ja garnix mit den ominösen ersten 11 Seiten zu tun. Da gibt es den inneren Monolog einer Frau, die zum ersten Mal in ihrem Leben schwere Gartenarbeit macht… Und die übrigens nicht die Hauptperson in der Geschichte ist.

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      • Du hättest nach der ersten Erregung über meine Glosse ein Weilchen abtouren können um verstehen zu können, dass es jemandem durchaus so gehen kann, wie ich beschreibe, wenn er ein Buch anliest – und es ihn nicht packt.
        Das schließt nicht aus, dass das später anders ist, wenn er es ganz kennt.
        Mir ging es lediglich um den Vergleich 11 Seiten hier und anderthalb da und siehe: Heyse kam schneller zu Potte.

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  2. Den Vortrag von Krone-Schmalz kenne ich ebenfalls, ebenso ein paar Auftritte in den letzten Jahren.
    Ich sitze da etwas zwischen den Stühlen. Zweifelsohne hat Frau KS ein gewisses Wissen intus, aber sie war in Moskau von 87-91, lange her und gerade mal 4 Jahre; und steht/stand sie nicht in finanzieller Verbindung mit Gazprom und Konsorten? Aber wer steht nicht irgendwo auf einer Gehaltsliste. Dass sie als Putin-Versteherin (diffamierend gemeint) gebrandmarkt wird, ist dann auch so eine Sache.
    Vielleicht ist es dieses digitale schwarz-weiß-Denken, das mir als knapp-Informierten auf den Keks geht.
    Also schalten wir um, zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels…. ächz…
    „Brennt in der Hölle, ihr Schweine.“ wird da zitiert. „Morgen wachen wir auf und sind dem Sieg einen Tag näher“ Naja, auch da schalten wir mal wieder aus und blenden um zum Historiker Bernd Greiner, der dem TV (Zdf, igitt) eben ein Interview gegeben hat. Durchaus lesenswert (trotz Zett Deh Eff), lässt es und doch der Definition vom „Sieg“ ein wenig näher kommen und erkennen, wir steuern wohl auf einen großen Knall zu, auf ein vielleicht bald zerfallendes Europa. Die Grünen bekommen diesmal ihr Fett weg, nur die Eff Deh Pee hat er vergessen und die kriegsgeile Frau, ach ich hab ihren Namen auch vergessen. Nur China macht weiter. Unbeirrt.
    Und morgen wache ich auf und bin der Rente einen Tag näher.

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  3. Zum Schluss hab ich zustimmend gegrinst. Aber der Anfang ließ mich suchen: Gabi mit dem Teufelsschnitt und Gazprom? Ich fand da nur einen NZZ Artikel – geschrieben von einem Ukrainer. Nunja.
    Noch scheint sich sein Einfall nicht inflationär verselbständigt zu haben. Uff.

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