Kleine Progger-Grübelei

Zu Weihnachten –

Und: Ja, liebe deutsche Mitleser: Es heißt ZU Weihnachten! Und nicht dieses halbamerikanisierte Idioten-Deutsch „An Weihnachten“! –

Magazin0058Zu Weihnachten, da heimelte es einen zuverlässig IMMER an, egal wie groß der Jahresendkrampf auch war: Um den 1. Dezember herum, da erinnerte ich mich stets zuverlässig an meine Doowop-CDs, ans Kingston Trio, an Bert Kaempfert Orchester-Doodle, …50er Jahre Heimeligkeit.

Der selbst knapp verpasste Zeitraum ist immer der interessanteste. Was Vater und Mutter von ihren Schul-und Studienzeiten erzählen – ein zu klärendes Mysterium. Stimmt das alles so? Was ist geschönt? Was fehlt? Warum erzählen sie „dies“ nicht ausführlicher und „das“ nie? Warum wurden sie nie so musikverrückt wie ich? Wo hab ich das also her? Bin ich adoptiert?

Und während mich der Wirtschaftswundersound so umarmt, grübelt es halt los in mir, da kannste nix machen.

In diesem Jahr nun kommt mir ein, was ich bei Andrew Edwards aufgelesen habe.

Das PROG-Thema.

Das lässt sich weiterdenken: Der zentrale Stil meiner Musiksucht ist Prog. So wie müde getourte Rocker immer wieder behaupten, dass Blues DAS DING sei, zudem sie zuverlässig immer zurückfinden, wenn nichts mehr zu gehen scheint, so isses bei mir nicht Blues, nicht Punk, nicht Fusion, – nein: Prog.

Und kaum niedergeschrieben, fangen die Probleme schon an, denn Prog lernte ich einst unter anderm Namen kennen: Art-Rock.

Art-Rock als Gegenstück zu Hard-Rock. Das klang logisch. Hier Klassik-Niveau-Bemühen, da Dampframme. Allerdings saßen Deep Purple bei der Klassifizierung zwischen den Stühlen.

Also anders: Hier Gymnasiasten-Sound, dort Arbeiterklasse.lift1

In der DDR allerdings auch kein Kriterium. Die sozialen Unterschiede nivellierten sich durchaus stetig, und Uriah Heep Fans gab es auch an der EOS. Allerdings waren das eher die Offiziersbewerber, also die blöderen von uns. Die hatten es auch noch mit einem Durchschnitt von „schlechter als 2“ an die EOS geschafft, eben wegen der „Bereitschaft unsere Republik schützen zu wollen“. Ha! Wir wissen ja inzwischen, wie das ausging. Schwamm drüber. „Innocent Victims“ gewissermaßen. Am Ende saßen sie da als Schwäbisch Hall Vertreter: Free me D-Mark, free me from your spell!

Hach, wo bin ich jetzt wieder gelandet! Da wollt‘ ich gar nicht hin!

Prog, also Progressive Rock, als Sammelbezeichnung für Genesis & CO; das ist ein Kürzel, dass mir erst in den 90ern unterkam. Warum es den alten Namen Art-Rock so verdrängte, weiß ich nicht. Eventuell ist das auch nur so ein Verenglischungsding, da ja all die Amis und Engländer ebenfalls von Prog sprechen, wenn sie Artrocker meinen.

So ähnlich wie „Handy“, der pseudoenglische Begriff war ja bis vor kurzem auch sehr Mode, stirbt aber in letzter Zeit dahin. „Artrock“ war eventuell auch nur so eine deutsche Kopfgeburt, die halbwegs englisch klingen sollte.

Sei es, wie’s sei: Prog-Rock is it!

Waren die anderen Stile, die sich aus dem Rock&Roll entwickelten eher Bauch-und Unterleibsmugge, so war Prog Kopfmusik. Die Privatschul-Zöglinge schlugen zurück. So liest sich das in Genesis-Band-Bios. Die Schöpfung! Nicht – The Fuck!

Edwards beschreibt, wie um 69/70 herum das große Probieren losging. Wie die LP die Single verdrängte und die Stücke länger wurden. Man kann da nun zwar ewig vor sich hin gniedeln, aber man kann ebenso gut die Klangräume erweitern, Bauteile anderer Stile einfügen.

Was ist Prog? Prog ist Chaos! Das Chaos der Zutaten, die perfekt gespielt, aber relativ unperfekt gemischt werden. Und manchmal funktioniert das, was rauskommt im Kopf des Hörers – und manchmal nicht.

Bestes Beispiel ist die Herausforderung von „Close to the edge“ und „Relayer“. Während ersteres im Prinzip allgemein gemocht wird, spaltet das andere Opus ganz deutlich die Gemeinde. Obwohl doch beide sehr gewöhnungsbedürftig kakophon beginnen.

Auf frühen Großwerken der Prog-Giganten holpert die Wegsuche mitunter sehr.

Man hört das auch auf „Yes Album“ und „Fragile“ – aber man hat eventuell die Fantasie für den eigenen Film im Kopf für diese Klänge – oder eben nicht.

Edwards spricht auch an, dass Led Zeppelin und Hendrix eigentlich zum Prog gehörten: Sie gingen ebenso neue Wege wie Yes oder Pink Floyd. Aber sie hatten auch etwas, was üblicherweise Progmusikern fehlt: Zur Schau gestellte Männlichkeit. Star-Appeal. Das ist das Geheimnis, weshalb sie auch von Mädels gemocht wurden, während kaum ein weibliches Wesen jemals eine Yes-Konzertkarte selber kaufen würde. Dem inzwischen auf die Art-Rock-Bands eingedampften Prog fehlt also Anhängerschaft innerhalb der anderen Hälfte der Menschheit.

Hart.

Aber Fakt.

Edwards erzählt den Musiker-Gag, den Progger hinter der Bühne reißen:

„Als ich mit IQ auf Tour war, scherzen wir, dass wir es leider nicht machen können, wie normale Rock Bands. So ins Publikum rufen: All the Boys say yeahr! „YEahr!“ and now all the girls say yeahr! „—peeps—““

Der Frauenmangel im Prog ist ein bekanntes Problem seit Urzeiten.anders3

1983 war ich Student und weilte bei einem meiner Vinyl-Dealer im besetzten Haus im Druckereiviertel von Leipzig zu Besuch. Wir hörten Zappa und tranken Sambalita, als sich sein Obermieter einstellte und mittrank. Mein Bekannter fragte ihn augenverleiernd: „Oach, jetz habbich euch widdor beede offm Hals! Kommt deine Anette och noch?“

Er: „Die sitzt oben und macht Seminarvorbereitungen. Und hört deine Jon Anderson.“

Ich, der ich gerade Gitte kaufen musste, um das Band meiner Ann Wilson an mich zu festigen, dachte mir spontan: Die hört freiwillig Yes?! Zeig sie mir, ich will sie heiraten!

Aber ich schwieg.

Frauen und Prog, das geht also nicht auf. Eine Annie Haslam macht da alleine noch keinen Sommer.

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter als Edwards:

Es ist NICHT allein das Macho-Getue eines Plant oder das pfauenhafte Outfit eines Hendrix, was den Proggern abgeht, sondern es ist auch die Musik als solche, die weibliche Nörgelreflexe provoziert. Eben das chaotische, die abreißenden Melodien, das Gefrickel – Frau ansich verwirrt das, nervt das. Für sie klingen ALLE Yes Alben wie Relayer.

„Eine blöde Musiiiik! Hamwer nüschd schönes?!“

Chaos sind sie selbst. Das brauchen sie nicht von außen. Weibliche Logik – sprichwörtlich – ähem – ä – wie sag ich’s nett?  – ist halt so wie die „Fragil“ von Yes klingt. Mal mitreißend überwältigend, mal „Cans and Brahms“. Und dann sogar ganz „Schindleria praemadorius“ – was immer sie meint!

So.

Hab ich nu alle Mitleserinnen verjagt?

War nicht meine Absicht. Aber eben interessant genug, um darüber zu schreiben. (Der Geschlechterausgleich kommt weiter unten.)

Der Denkansatz erklärt auch, weshalb der deutsche Schlager eben so als Frauen-Ding überleben konnte: Weil er überschaubar bleibt. Männer pilgern doch nicht zur Kaiser-Mania, weil sie die Mugge mögen! Sondern, weil dort Mutti happy ist!

Umgekehrt kommt dann Mutti eventuell mit zu Yes oder Spocks Beard. Aber Vorsicht: Sie wird kaum durchhalten; nach dem zweiten Song ganz nach hinten oder gleich heim wollen – dir also das Event versauen.

das debutDasselbe ist es mit Stern Combo Meissen: Wenn die andere Hälfte der Menschheit mitgeschleift wurde und dann „Finlandia“, „Weißes Gold“ oder „Die Bilder einer Ausstellung“ über sich ergehen lässt und dann erst mitkriegt, dass das NICHT Stern Meissen (mit IC als Sänger all der flachen Pop-Hits) ist – dann hastes erlebt!

Aber auch uns Männern gebürt noch eine Watsche! Somit sorge ich für Ausgewogenheit: Das Stichwort gibt ebenfalls wieder Mr. Edwards:

„Wann wurde Prog Mist? Ist Prog heutiger Neoprog-Bands noch Prog? Progressiv war Prog, als er neue Bauteile in sich aufnahm, aus Klassik und Fusion zum Beispiel. Heutige Prog-Bands versuchen wie Yes zu klingen. Oder wie Pink Floyd. Ist das progressiv? Rap war Prog in den 90ern, als er alles sampelte, was ging, als er sich weiterentwickelte. Aber niemand nannte das Prog! … The piper at the gates of dawn war eine Verheißung, die Sid Barret in der Zukunft sah. Wish you were here war das Rückblickalbum in die Vergangenheit. … Und heute wird ernsthaft erwartet, dass Musiker so perfekt funktionieren, wie all die Computerprogramme, an denen sie ihre Soundscapes zusammentüfteln….Das Publikum erwartet das live genau so! Bist du einer von denen? Ist das dann lebendig? Denkst du so? Darf da kein Fehler sein? Kein anderes Solo? Warum gehst du dann noch ins Konzert? … Es gibt Diskussionen, der Art, dass an Jimi Hendrix herumgedeutelt wird: Ach der war gar nicht so gut. Satriani oder Vai sind ihm über! — Ernsthaft?“

good times0025Yep! Da ist der Punkt: Sich für progressiv halten, obwohl man auf ein möglichst perfekt erhaltenes Gestern abfährt! Und noch ein Hieb: Musik war toll und als Lebenselexir relevant – solange sie menschlich war. Hier mal n kleiner Fehler, da mal ne Zeile unsauber gesungen… dort hinkt die Gitarre mal den Drums hinterher… oder andersrum… das war LEBENDIG!

„Looking for someone“(Genesis) , hör den Patzer, wenn die Soundwand kommt! „Cans and Brahms“ – wer hat das arrangiert, so dürftig, wie das klingt?! Oldfields „Tubular Bells Part one“: Wenn da die E-Guitar den Rest des Arrangements überrumpelt… Pfusch… aber: DAS MUSS SO! Welche Tubular Bells Fassung kaufst du nach? Die, wo’s rumpelt von 1973 oder die aus den Nullern, die glatt gebügelte?

Punk kam auf, als die führenden Bands auf einem Niveau angekommen waren, das keine Schüler Band mehr kopieren konnte. Du willst aber als Pubertier AUCH ausbrechen können, wie die einst!

Also begann Punk rüde – und simpel. Aber er blieb es nicht: Guck dir The Clash an, Ultravox oder XTC. Aber immer, wenn sie sich der Perfektion näherten, war es auch schon vorbei.

Schließlich erfasste der Prog den Metal. Zu einer Zeit, als das Gitarrenhexertum selber schon auf einer Virtuositätsstufe angelangt war, die unspielbar für Nachahmer war.

Malmsteen und van Halen. In Puncto Fingerakrobatik drücken die klar Hendrix oder Dickey Betts auf die Seite. Für den Moment erstaunlich. Aber wie oft wieder anhörbar? Malmsteen ist bereits wieder derart vergessen, dass sicher einige an dieser Stelle googeln werden.

Aber die alten Scheiben der Allman Brothers laufen und laufen!

Na und die alten Yes-Scheiben erst!

Death Metal meets Prog schien in den Nullerjahren der letzte Versuch einer progressiven Musikrichtung werden zu wollen. Gothik Metal und Postrock entstanden und walzten erfolgreich Alltagsfrust nieder. Jedoch:

OPETHOpeth bis einschließlich „Watershed“ klangen neu und unerhört, aber zugleich nicht nachahmbar für Youngsters. Die „Wasserscheide“ wurde auch zur Schicksalsplatte. Die nachfolgende „Heritage“ war Orientierungskrise pur; „Gnülpf“-Musik. Opeth seither klingen wie ein fortwährendes Genesis-Wishbone ash Revival. Rückwärts gewandt.

Inzwischen gilt Auto-tune all over. Willkommen im Bereich antiseptischer Zielgruppenmugge für sedierte, dickliche Fortnite Fighter.

Fantasievolle Sinnsucher haben’s schwer.

„Isch kann es dir nüsch sagön, deshalb sing isch ne Balladö – für disch.“ (Hit 2022)

Zweihundert Jahre Verslehre im Arsch. We don’t need no education. Nu isses „riehl“!

 „Joanna! Geboren um Liebe zu geben…“

Ja, rock the boat! Grins!

Hoff’mer mal mit Yes:

I looked out, in the night
Strange and startling
Was this voice of time just saying
There’s got to be a linking of everyone
Got to be a center
It all comes flooding back

Naja. „Wemmer no’ahn Schritt gehn, seimer übborn Berg!“

In diesem Sinne:

Frohe Weihnachten.

4 Gedanken zu “Kleine Progger-Grübelei

  1. ZU Weihnachten! Danke einfach mal dafür. In mir brodelte es schon so lange, mich diesbezüglich selbst mal auszukot… Nur fand ich bislang keine Gelegenheit, es irgendwo einzubauen. Vielleicht ja mal „an Ostern in 2023“ (Entschuldigung, bitte). Aber nun weiß ich wenigstens, dass auch anderen so geht. Frohes Fest dann.

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    • Gegen „An“ Weihnachten bin ich genauso allergisch wie gegenüber ähnlichen Amerikanisierungen; wie z.B.
      „In“ 1967 wurde ich eingeschult. In den Kalender? Hä?

      oder auch schlimm:

      Ich hab die Mütze angezogen. Äääääääääääcchzzzzzz! (Oder den Schlips oder die Armbanduhr…)

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