Meraner Novellen – Heyse (1862)

Ukraine und kein Ende. The birth of a bigger Bosnien. Schalt ab. Verdräng’s. Was anderes bleibt dir sowieso nicht übrig. Lies was schönes! — Heyse mal wieder. Niveaubringer von einst. Wie sah er die Welt? – In gleichnishaft unaufgeräumter Zeit des deutschen Nachmärz. Aktuelle Assoziationsmöglichkeiten inclusive. Die Grundregel bleibt:

Das Lesen genießen. Am Rand sitzen bleiben. Kaffee trinken. Schnauze halten.

HerbstbibelHeyse hat diesen Novellenband so gewollt, wie er mir hier vorliegt. Das er gar aus der Weimarer Hofdruckerei stammt, bekam ich erst auf der allerletzten Seite mit.

Nur 3 Novellen. Jede 150 Seiten lang. Alle 3 spielen in der Meraner Gegend. Ehemals Zentraltirol. Seit 1919 italienisches Grenzland zu Österreich.

Heyse ist viel gereist, sowohl als begleitendes Faktotum König Maximilians II. von Bayern, der sein Gönner war und allzeit gut unterhalten sein wollte, als auch privat. Die Reiseroute kannte praktisch nur eine Richtung: Italien. Und Tirol liegt somit irgendwie „am Wege“. Er kennt sich sehr gut aus in der Meraner Ecke; benennt Flüsse und Bächlein mit Namen, beschreibt ergreifend Wetter-Phänomene, sodass heutige Leser spontan an die Ahr-Tal-Katastrophe von 2021 denken müssen; die Zenoburg-Ruine spielt in allen drei Novellen eine Rolle. Detailreich werden die Besonderheiten des dortigen Weinanbaus und seiner Bewachung durch Weinhüter geschildert … alles, als wär’er einer von dort. Der Berliner am Münchner Hof.

Der John Jarmusch der Vorzeit. Denn wie der mit seinen Taxi-Episoden, die zwar nicht zusammenhängen, über Kleinigkeiten dann aber doch verbunden sind, erzählt hier Heyse drei in sich geschlossene Geschichten, die nur um wenige Jahrzehnte versetzt am selben Ort spielen, wodurch eben doch die Geister der Vorfahren den späteren Figurenensembles hätten im Traum erscheinen können. Das heimelt an.

Gut möglich, dass er nach Erstbesteigung des Burgberges der Zenoburg, ermattet auf jener Bank saß, auf der später auch seine Heldin aus „Unheilbar“ sitzen wird, um einen gar seltsamen Hirten kennenzulernen.

Kennst du das? Du sitzt in einer Burgruine: Niemand stört. Deine Gedanken gehen auf die Reise und bevölkern die Leere mit Gestalten vergangener Tage. Wie lebten die hier? Was erlebten sie? Was erlitten sie? Seit wann ist hier Ruhe eingekehrt?

alpen0Heyse muss einige Idyllen der Umgebung aufgesucht haben, um dem Kurbetrieb mit seinen schwachsinnigen Konversationszwängen zu entgehen. Er weiß, dass seine Kollegen (Spielhagen, Fontane) erkleckliche Summen aufbringen, um alle paar Jahre „ins Bad“ zu reisen, wie Monarchen, um mehr oder weniger eingebildete „Nervenleiden“ zu kurieren und bei Tische Hof zu halten – und er hasst es! (Am deutlichsten wird das später in seiner Novelle „Der Blinde von Dausenau“, aber die gehört nicht nach Meran.)

Da sitzt du dann auf irgendeiner Alm, links die Burg und rechts irgendwo ein Einöd-Hof und deine Phantasie bringt das zusammen: Den Sohn vom Einöd-Bauern und die Gräfin, oder umgekehrt, den Junker Franz und’s Annl vom Hilpinger-Hof…

Und Heyse saß da auch so, aber zunächst noch ärgern ihn die Snobs, denen er gerade entronnen ist: Also kommt ihm „Unheilbar“ ein. Eine freche Vorführung der Kurgast-Typografien und ihrer „Themen“. Das ist der „Zauberberg“ im Schnelldurchlauf. Vermutlich niedergeschrieben in nur einer Nacht, nach einsamer Wanderung zur Zenoburg, auf der er sich alles hat zurechtgrübeln können:

Die Novelle ist eine von seinen großartigen. Alles passt. Die beiden Haupthelden entwickeln sich sogar. Fast alles könnte sich auch genauso zutragen, wie beschrieben. Also ist ihm wiedermal Realismus „passiert“, den er doch eigentlich ablehnt.

Nach dem Schreibrausch folgt die Leere der innerlichen Befriedigung: Und siehe, es ward gut!

Ein paar Tage später fangen die Eindrücke von Land und Leuten an, weiter in ihm zu weben.alpen4

Was, wenn so eine Burgruine zum Verkauf stünde? Wen würde solch hochromantisches Angebot reizen? Und warum? — Pack eine schöne junge Frau dazu, so’ne Art Aschenputtel; die Tochter eines bärbeißigen Verwalters, der sich äußerst rätselhaft verhält und den niemand in der Gegend wirklich kennt: Erzähl das Geheimnis dieses „ehemaligen Gutsförsters von anderswo“ als Schicksalsgeschichte im verfallenen Rittersaal der alten Festung. Vom Efeu der Zeit überwucherter Notstand, der so oder so ähnlich immer wieder kehrt.

Das ist der Grundstein zu „Der Kinder Sünde der Väter Fluch“.

Was klingt, wie ein verlockendes Mysterium erweist sich als ein leider vergeudeter Stoff: Der Plot ist herrlich. Die Umsetzung – mies. Ein Drauflosgeschreibsel, das erst nach 40 Seiten die Fabel erkennen lässt, die wiederum flüchtig geheftet, nicht genäht wird, gegen das Ende hin wirklich dramatisch und interessant Fahrt aufnimmt; aber nach der letzten Seite schaut man zur Zimmerdecke und ruft:

„Paule, alter Pfuscher! Was hätte das werden können, ohne all die Sprünge und mit bissel mehr Charakterzeichnung all der Männeken!“

Der Hauptkonflikt ist solch eine Sensation! Wenn man sie in einem Text von 1862 entdeckt.

Krieg als Glücksspiel. Man muss losen, ob man einberufen wird oder nicht! Man will sich drücken. Mitleid mit dem Deserteur! Das Kriegsverbrechen des Exekutors! Die Rache der Kriegerwitwe!

Sollte man nicht als junger Mann, bevor man in den Krieg befohlen wird, der einem privat eh nichts bringt, einmal richtig körperlichen Trieben gefolgt sein, da für Eheanbahnung keine Zeit mehr bleibt?

„Unter einem gelben Mond haben wir uns beigewohnt…“

„Wahnsinn! Wird uns heilen! Dann sind wir Helden für alle Zeiten!“

Karussell’s Cäsar trifft hier auf David Bowie. Vorausgesetzt, jemand von heute findet diese Novelle noch irgendwo. (Wir Deutschen und unsere Kulturbringer – ein Trauerspiel.)

Wirklich sehr, sehr schade, dass diese Handlung nicht so gründlich erzählt wird, wie die in der Novelle zuvor!

Der kleine dicke Graf, der Mittler zwischen Leser und Geschehen, und sein maulfauler Gesprächspartner haben nicht mal Namen! Er bleibt „der Graf“ und der hagere alte Mann an seiner Seite bleibt „der Oberst“. Niemand weiß, wo der wohnt, nur dass er gepflegt und satt alle Tage in den Schluchten hier herum Gesteinsproben sammelt. Niemand im Ort scheint die efeuüberwucherte Burgruine zu kennen, in der der seltsame Verwalter haust, den wiederum alle dem Namen nach kennen.

Niemand kennt dessen 20jährige hübsche Tochter, die tagelang alleingelassen dort oben auf der Burg haust, bewacht von ihrer Großmutter, einer alkoholkranken Hexe. Kommt keine der beiden mal einkaufen in den Ort? Kommt da oben nie ein Jäger oder Hirte vorbei?

alpen0aPlötzlich aber der Dammbruch der Neuigkeiten: Jene geheimnisvolle Schöne hat eine genauso attraktive etwas ältere Schwester, die nicht in Erscheinung tritt, von der der Leser nur durch ein Kneipengespräch des „Grafen“ erfährt. Der Knoten all der blassen, mies unvollständigen Ansätze entwirrt sich. Plötzlich schreit das ganze nach Verfilmung! Ein düsteres packendes Heimat-Epos in der Art der bayrischen Alpenwestern wäre vorstellbar; aber: Wer soll den Stoff hier finden?

Feuilleton und Literaturgeschichte unserer Tage gestehen dem Autor ja keinerlei Relevanz mehr zu.

Hier schlummert ein Kultur-Humus – vergessen und ungenutzt. Schade.

Es folgt der dritte 150-Seiter: „Der Weinhüter“. Der wiederum hätte „Der Eltern Sünde der Kinder Fluch“ heißen können. Heyse bürstet hier die gerade zu Ende geschriebene Handlung gegen den Strich: Diesmal versauen die Erzeuger ihren Nachkommen das Dasein.

Ein Romeo-und-Julia-Stoff. Kellers Variante „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1856) schimmert ein bissel durch. Aber – ein Gedenk des Kellerzitates in einem Brief an Heyse: „Du hast alles, was mir fehlt!“ – Heyse umgeht die Gefahr in kellersche Bräsigkeit zu verfallen. Nix Langeweile! Drive on!

Wir haben hier einen männlichen Protagonisten. Andree Ingram (wie sich zeigen sollte, ein in mehrfacher Hinsicht sprechender Name) hat ein Mutterproblem. Und da diese im Ort eh den Ruf der „durchgeknallten Mohrin“ weghat, kümmerts keinen. Nur seine kleine Schwester hängt an ihm, trotz aller Versuche der Mutter, ihn auch in ihren Augen zu verteufeln. Beide Kinder werden Jugendliche, sind ausgegrenzte Paria – und das Thema „Inzucht“ naht, denn beide haben nur einander…

Ganz starker Tobak! 1862! Heyse bewältigt den Stoff salonfähig. Gemäß seiner Novellentheorie gibt es kurz vor Ende den Kipppunkt, und der Skandalstoff mäandert vom Problem „Geschwisterliebe“ zur flammenden Anklage bigotter Heuchelei. Heyse hält der christlichen Gesellschaft seiner Zeit den Spiegel vor: Schaut hin, wen ihr verehrt – und wen ihr lynchen wollt!

Eine durchaus gegenwartskompatible Message, so will mir scheinen.

Gleichfalls ein filmreifer Ablauf. Großartig erdacht. Gut, nicht sehr gut, ausgeführt, schließt diese Novelle zu „Unheilbar“ auf.

Fazit: Wie immer gut lesbar, unterhaltsam; philosophisches Grübelfutter zuhauf.

Dem Musicjunkie unserer Altersklasse entsteht der Eindruck, Heyse müsse Neil Young (für „Unheilbar“) und David Bowies „Heroes“ für „Der Kinder Sünde…“ gekannt haben. Auch Patrick Michael Kelly und seine Lebenskrise, die ihn ins Kloster führte, kommt dir ganz nah. Der „Weinhüter“ schließlich ließ mich mehrfach an Songs von Peter Cornelius denken.

„Ein Diamant verbrennt. Genau wie ein empfindsamer Mensch. Ein Kieselstein überstehhhht, woran…“

Lesen!

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