Heyse & Hesse – ein Leseabenteuer für reifere Jahrgänge

Stell dir vor, du liest eine Novelle deines momentanen Lieblingsautors und gleich danach eine von einem deiner ehemaligen Langzeitfavoriten. Und es kommt dir so vor, als sei letztere Teil 2 zum Vorgänger.

Kann das sein?

Kannten die sich?

Mochten die sich?

Oder wollte der eine die Idylle des anderen einfach weiterdenken?

Vermutlich nicht. Er wollte lediglich seine eigene Misere verarbeiten – und gibt so seinen Lesern die Chance zu vergleichen. Entweder unter der literarischen oder unter der persönlichen Brille.

Schon als ich seinerzeit Heyses „Gegen den Strom“ las, kam es mir so vor, als wäre ich auf die Urform des „Glasperlenspiels“ gestoßen.

Teil 1 also – Heyse mal wieder:

Heyse veröffentlichte 1893 die Novellensammlung „Aus den Vorbergen“, bestehend aus 4 lesenswerten Charakterstudien: Vroni – Marienkind – Xaverl – Dorfromantik, so die Titel, die den ahnungslosen Nachkriegsleser in die Flucht schlagen; muss er hier doch erbärmlichen Bayernkitsch von anno dunnemals vermuten. Mit 20 oder 30 wäre es auch mir so gegangen.

Heyse stiftete ein Leben lang gern Verwirrung mit seinen Titeln. Du kriegst praktisch nie, was der Titel zu versprechen scheint. „Gute Kameraden“ hat nichts mit Militär zu tun, „Die Eselin“ ist keine Tiergeschichte, „Das Glück von Rothenburg“ spielt nicht im Mittelalter und die „moralischen Unmöglichkeiten“ sind absolut kein Schweinkram!

Du setzt dich also immer wieder über die Titelgebung hinweg und lässt den gebotenen Erzählstoff auf dich wirken und er verfehlt dein Herz – nie. Inzwischen 15 Novellenbände in meinem Bücherschrank beweisen: Es ist Sucht geworden.

Kernstück des oben vorgestellten Quartetts ist „Marienkind“, die längste der vier Schicksalserzählungen. Als trainierten Heyseleser hat es mich nicht überrascht, dass ich zunächst mal wieder ein Naturalismus-Streitgespräch eines alten, wandernden Medizinalrathes mit seiner Zufallsbekanntschaft, einem talentierten jungen Maler, geboten bekam: Der Alte frotzelt den Jungen, weshalb er ein im Schmutz spielendes, zerlumptes Kind vor einer bröckligen Kate malt, ob er keinen Sinn „für das Schöne“ habe. Der Maler sieht es anders und bezieht im Wortgefecht die Stellung eines leicht depressiv wirkenden Naturalisten. Der Disput ist immerhin relativ versöhnlich angelegt.

Heyse ist 63, als er das schreibt. Angefeindet von den „jungen Wilden“ Münchens, die dem schonungslos ehrlichen Naturalismus frönen. Der Altvater ist für sie ein Schnulzier, ein talentloser Schreiberling, ein „boring old fart“ (wenn sie seinerzeit den Punk gekannt hätten); „Steinklopfer“ sind IN; „Venusse“ OUT. Das ewige leidige Generationsproblem. Das Getöse bleibt reziprok zur Bedeutung. Denn „die ersten werden die letzten sein“, wenn die Jahre ins Land gehen und beweisen, was besser altert, das Durchdachte oder das Herbeigeschriene.

Heyses Medizinalrath soll einem verwitweten Studienfreund helfen, der wiederum eine 17jährige Tochter hat, die ihm Kopfzerbrechen bereitet. Das Mädel wächst in einem katholischen Internat auf und möchte Nonne werden. Der Papa hält das für geisteskrank und hofft auf Aderlass und Wunderdrogen seitens seines Kumpels. Denn das Mädel ist hübsch und intelligent – und will sein Leben wegwerfen.

Der Doktor ist mit gutem Rat und medizinischen Überlegungen schnell am Ende, aber voller Lebenserfahrung. So empfiehlt er dem Vater schlitzohrig eine Schocktherapie für das Problemkind: Sie solle sich malen lassen, bevor sie im Kloster verschwindet, dann habe er als Vater wenigstens eine schöne Erinnerung an sie an der Wand hängen. (Und nebenbei hofft der gerissene Ratgeber, dass „die Natur ihren Weg findet“, wenn sich eine 17jährige Hübsche und ein 25jährigen Beau tagelang Stunde um Stunde gegenübersitzen – und niemand stört.) Und so kommts auch, nach mannigfaltigen Verwicklungen.

Wir erleben die Entstehung von drei Gemälden mit, während zwei Jahre vergehen. Das erste quasi aus „medizinischen Gründen“ legt die Spur, das zweite wird zur Kirchenprovokation und schließlich zeigt das dritte die frisch gebackene Gattin des Malers, schlafend nach dem Stillen, während ihr Kind im Körbchen kniet und die Mutter bewundert. Das Bild wird in die Pinakothek gehängt, weil der Maler „Verbindungen“ hat, als Schwiegersohn eines Regierungsrathes, der er nun ist. Aber es hängt in einem dunklen Winkel und wird von den Malerkollegen seiner Alterskohorte bewitzelt oder mit Kopfschütteln übergangen; denn es ist „voll der Rubens“, aber eben nicht Courbet!

Nun wollen wir jenem gemobbten Naturalismusrenegaten mal wünschen, dass die Rubensanspielung eine feindselige Übertreibung darstellt und die Konturen seiner Gemahlin doch eher im Schönheitsideal des späten 19. Jahrhunderts verortet sein mögen – aber mir hat Heyses Abwatschen unbefriedigender Umstände auch in dieser Novelle wieder sehr gefallen:

Er legt sich nicht nur mit seinen Lieblingsfeinden „von der neuen Richtung“ an, den Gangsta-Rappern seiner Zeit, sondern auch mit dem Katholizismus – der Staatsideologie im Bayern jener Jahre! Viel Feind – viel Ehr‘! Bei Heyse triumphiert die Biologie über klerikalen Naivitätsmissbrauch und die Harmoniesehnsucht über dogmatisch-destruktiven Naturalismus. „Durch Nacht zum Licht“ gewissermaßen, aber diesen Titel hielt ja Spielhagen schon besetzt.

Das Happy End lässt befriedigt aufseufzen, erinnert jedoch prompt an einen heute vergessenen Hit von Prinzip aus dem Jahre 1979:

„Im Fernsehn lief ein Film von Liebe und so

Und die beiden war’n jung und so unsagbar froh

Er liebt sie und sie liebt ihn

Und der Film ist zuend‘, als sie zum Standesamt ziehn

Wie’s weiterging, behielt man für sich

Und dann sah ich auf mich und dann sah ich auf dich

Nichts. Mehr. Was. Da. War.

Al. Les. War. Schon. Da. (Liebesfilm in Farbe; Text: Demmler)

Es war ’79 wie eine Warnung.

Und trotzdem sehnt man sich ewig nach der anderen ergänzenden Hälfte, die so schwer zu finden ist.

  1. Teil – Hesse’s Ehe-Absage-Roman:

Der pure Zufall wollte es, dass ich just nach der Marienkind-Lektüre beim Aufräumen Hesses „Roßhalde“ in die Finger bekam und die ersten Seiten überflog. Es zündete.

Ich las es und vergaß es einst mit 30 aus gutem Grund schnell wieder – nun aber war es die Verblüffung pur, wie perfekt „Roßhalde“ „Marienkind“ ergänzt.

Hesses alter ego Veraguth könnte 1:1 jener Maler der drei „Marienbilder“ sein. Nun gealtert und arriviert. Hochverehrt und auf Auktionen nachgefragt – aber die Ehe liegt in den allerletzten Zügen. Oder anders gesagt: Im Kloster-Stift abtrainierte Neugier auf das Leben rächt sich eben später in den Matronen-Jahren.

Besonders Künstler haben hinsichtlich der Partnerwahl ein noch viel größeres Problem als Otto Normalverbraucher. „Künstler kann man nicht werden. Künstler muss man sein.“ (Hesse) Denn sie sind von ihrem Werk besessen, kämpfen lange um Anerkennung und haben wenig Sinn für Familienleben und Verhältnispflege; vor allem dann nicht, wenn sich herausstellt, dass die Frau gar keinen Anteil nehmen will, am Titanenkampf ihres Galans mit seinen Einfällen. Desinteresse dem Werk gegenüber aber ist der Krebs der Künstler-Ehe. „Kampfgefährtinnen“ sind hard to find!

Veraguth sieht seine Frau nicht (mehr) als eine solche an. Er malt erfolgreich. Sie spielt Klavier für den Hausgebrauch und vierhändig mit dem großen Sohn. Aber Papa interessiert keine Musik und sie keine Malerei. Lediglich die Existenz des jüngeren Sohnes bindet sie noch aneinander.

Hesse beschreibt ein vergiftetes Idyll, denn Villa und Park sind schön gelegen; irgendwo in der Schweiz an einem See. Man besitzt Kutsche, Pferde, einen Salon mit Flügel. Es fehlt an nichts – außer an Verständnis von Partner zu Partner. Man geht reserviert „auf Eiern“, will Streit vermeiden, trifft sich nur zum Mittagsmahl. Der Maler träumt sich ein Fluchtidyll am Ende der Welt. Heyse hätte ihn nach Italien geschickt. Das hat im frühen 20. Jahrhundert seinen Reiz verloren. Hesse jagt seinen Schwerenöter deshalb nach Indien oder Indochina oder Sumatra … er legt sich nicht fest. Jedenfalls hat ein Jugendfreund dort irgendwo eine Farm. Es dauert lange – bis er aufbricht.

Wenn „einer nicht Schritt hält mit dem andern, weil er auf einen anderen Trommler hört“ (Reiner Bärensprung Band) …

…dann kommt die Scheidung. Der bürgerlich-moralische Bankrott.

Inzwischen ist das leichter, sagt man so. Scheidungen passieren alle Tage?

Die Kinder zahlen die Zeche.

„Ey, vertragt euch! Hab kein‘ Bock, wie Lara jedes Wochenende in‘ner andern Wohnung zu verbring‘!“

Manchmal hilft das.

Wenn man nicht Veraguth(=Hesse) heißt und nach Indien will.

5 Gedanken zu “Heyse & Hesse – ein Leseabenteuer für reifere Jahrgänge

  1. Künstlerehen… Hesse ist dahingehend ein gutes Beispiel. Drei Ehen. Aus der ersten drei Kinder. Diese aufgewachsen bei Freunden.(Klein und Wagner) Die zweite, sehr kurze Ehe, nicht vollzogen. (Der Steppenwolf) Und die dritte ein jahrelanger Kampf.

    Und immer wieder Arno Schmidt. Bei einem Autor soll man sich ans Werk halten und nicht an „den schäbigen Rest“. Auch der Herr Schmidt bekam gegen sein Ende hin Herzanfälle, wenn seine Frau nur zum Einkaufen das Haus verließ. Und das in jenem Kaff, aus dem es kein Entrinnen für Alice Schmidt gegeben hat.

    Ein guter Bericht. Die Novelle von Heyse kenne ich zwar nicht, aber die Zusammenschau macht schon Sinn.

    Ein Scheidung kann man durchaus als „bürgerlich-moralische(n) Bankrott“ sehen. Muss man aber nicht. Dann schon lieber aufrecht untergehen als auf den Knien zu leben.
    Was die Kinder betrifft, können die durchaus auch gewinnen. Beispiele gibts zuhauf. Dennoch werden auch sie einen Trennungsschmerz erleben. Das Leben ist kein Zuckerschlecken.

    Deshalb machts Freude zwischendurch einen anregenden Bericht in einem Blog zu lesen.

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    • Gerade Hesse ist für mich auch das verblüffende Phänomen, wie aus so viel gelebtem Bruch soviel literarisch gewordene Lebensweisheit entstehen konnte.

      Der Schmidtspruch trifft den Nagel auf den Kopf. Ich kenne keinen Autor, der aus einer Familienidylle heraus geschrieben hat. Die, die man dank TV noch das eine oder andere Mal live erleben konnte, stellen so überhaupt nichts dar, sind entweder arrogante Kotzbrocken oder in sich verkrochene Schüchtermänner – vollkommen Idoluntauglich; deshalb Glotze aus und lesen – dann klappts auch mit der Verehrung.

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      • Ich bin mir fast sicher, dass auch Thomas Mann sehr viel aus seinem Leben in seine Bücher einfließen ließ. (Dekonstruktive Literaturwissenschaftler wollen das heute ja nicht gelten lassen und trennen gerne den Autor von der Fabel).

        Bei Hesse bin ich besser belesen als bei Mann. Ich hatte mal die EA des Doktor Faustus in der schönen „Stockholmer Ausgabe“ (es gab in der DDR eine Lizenzausgabe im AufbauVlg[?]).
        Egal, die EA von 1947 hatte über 770 Seiten. Die 2. Aufl., ebenfalls 1947 war um zwanzig Seiten kürzer. Das kam daher, weil die Familie beim abendlichen Zuhören den vorlesenden Zauberer ums Haar gemeuchelt hätte, wären die danach gekürzten Seiten weiterhin dem Publikum zugänglich gewesen. Es waren intimste Familiengeheimnisse, die der Autor da verarbeitet hatte…

        Es trifft ja bloß die Autoren. Ich habe in meinem Leben etliche prominente Künstler aller Gattungen kennengelernt und ich wäre mit keinem von ihnen in einer WG zusammengezogen.

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      • Zustimmung total. Ganz besonders zum letzten Satz. Ich beurteils meist danach: Würde ich mit dem im Garten bräteln wollen? Die Antwort ist zu 95% NEIN. Bei den anderen 5 % käme ein einmaliges Bräteln in Betracht, wohl wissend, dass anschließend beide Seiten wohl genug von einander kennengelernt haben. Danzer zum Beispiel wäre schon ein interessanter Fall für mich gewesen. Ambros auch. Heller nicht.
        „Der Autor hat nur den Steinbruch seiner Erlebnisse und nutzt diese als Rohmaterial.“ (Elke Heidenreich; glaub ich ?)
        Eigene Erlebnisse werden „gestaltet“ – im wahrsten Sinne „verdichtet“.
        Strittmatter war schwer sauer über die Post aus seiner alten Heimat nach Veröffentlichung des „Ladens“, denn einige glaubten ihre Vorfahren wiederzuerkennen – mit falsch erzählten Stories behaftet, also in Bohsdorf hätte er sich nur unter Polizeischutz blicken lassen dürfen.
        Seine Rechtfertigung war: Das erstens alle Namen stark abgeändert seien und dass er ja als guter Erzähler gezwungen ist, die Erlebnisse von 3 oder 4 Personen auf eine zu komprimieren, weil es sonst zu viel Personal mit zuwenig Erlebnissen gäbe. Somit ist die Darstellung der Dorfgeschichte Bossdoms (=Bohsdorfs) eben keine Fälschung, sondern eine Komprimierung von Vorfällen aus der Umgebung, auch wenn manches Ereignis eben realiter nach Graustein oder Hornow gehören würde. Er sei ja kein Chronist.
        Auf Hesse bezogen: Die Hirnhautenzündung, an der Veraguths Sohn stirbt, hatte einer der Söhne Hesses wirklich,allerdings überlebte er.
        Das der große Sohn Veraguths in Wut bei Tisch mit dem Messer nach dem Vater wirft – kann ich mir in Hesses Familie ebenfalls gut passend vorstellen.
        Also logisch haben die Hauptfiguren immer autobiografische Puzzleteile des Autors an sich.

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