Auf dem Leichenwagen der Zeit

(geänderte Variante)

Hübsch martialisch, nicht?

Keine Angst. Es geht „nur“ um einen weiteren Raabe-Roman und sein immer wiederkehrendes Figuren-Ensemble im Hier & Heute.

Ja, da sitz ich nun mit all dem „Most in‘ Kopp“, den Raabe da aufgewühlt hat – mit seinem „Schüdderump“; was plattdeutsch sein soll für „Pestkarren“; Eselsbrücke „Schütt-Rampe“, Kipper.

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Eine tolle Metapher also für die Vergeblichkeit des Seins.

Wie wir doch ALLE unter der Erde enden; ob nun im Sarg oder im Massengrab.

Wie aber auch ALLES dort endet, was uns mal was wert war. Hingeschmissen, wegplaniert auf der Halde.

Ein Sinnbild auch für den Haushaltsauflöser, der auseinanderreißen wird, was du ein Leben lang zusammentrugst. Wo werden all meine Gründerzeitausgaben von Spielhagen, Heyse, Dahn etc. enden? Im Altpapier? (Alte Schrift!)

Und ich hörte all die Kopfschüttler ein Leben lang: Warum hast du auch „all den alten Mist“ gekauft? Und die Platten und die CDs?! Rechne mal um. Du würdest heute SUV fahren oder einen 57er Bel Air! Bar bezahlt! Und die Pilgerfahrt nach Graceland/Memphis wär‘ glatt auch noch drin!

Ach Blödsinn! Die Bücher wollte ich „bewahren“. Sie sollten in gute Hände kommen, also in meine; wo sie gewertschätzt und GELESEN werden. Ich wollte wiederbeschaffen, was Eltern und Großeltern einst besaßen, damals; hinter den Bergen; im Sudetenland. Die Leseeindrücke korrigierten dann so allerlei an Zeitgeistgeplapper – wurden Denkanstöße; „für den Jüngling und den Greis“. Kmh!

Die Musik? Die LP-Käufe von einst zu Schwarzmarktpreisen? Die Umstellung auf CD mitte der 90er? Vermeidbar? – Nö! Ohne die wär ich tot. Hätte die Rente niemals geschafft, wenn ich hätte nur im „hier und heute“ leben müssen! Mit nichts weiter als dem jährlichen Sommerhit und dem Radiogeplärr. Die Klänge waren Dauerdroge! Tonales Morphium, weil ich „die Umstände“ scheiße fand. Aber solange eine Yes-Scheibe läuft oder eine von Nazareth oder Heart usw. war die Welt vorübergehend wieder gut. – Der Geist war woanders. – Alles in Allem: Joe Walsh singen – und die alten Geschichten ruhen lassen. Abwink.

Ich sitz‘ nun zu Hause – und lege den ausgelesenen Raabe aus der Hand. Das Auto ist kein Bel Air. Das Haus – keine Villa. I never been in Memphis. Elvis hat eh gerade saisonale Pause. Van Morrison läuft… „…behind the curtain, behind the name“. Und „dahinter“ zu gucken, macht vor allem bei Raabe richtig Spaß und gibt jede Menge her.

Das Buch deprimiert nicht. Raabe hat Humor und lässt ihn reichlich blitzen. Ironie, Spott, Schwarze Galle. Sicher wäre er in England ganz groß rausgekommen, wenn er übersetzbar gewesen wäre. Aber er bemüht sich allzeit um so einen phantasievoll altertümlichen Chronisten-Slang. Da kapitulieren dann die Übersetzer – und die meisten Leser von heute auch. Aber angeblich ja Dostojewski verstanden haben: Ha! Brat mir einen Storch!

Ja, „Der Schüdderump“ ist ein gutes Buch. Frau Riess hatte recht, als sie vermutete, das könne mir gefallen. Sehr sogar! Im „Hungerpastor“ sind die persönlichen Parallelen zwar direkter, aber hier sind die Polit-Watschen größer, die heute immernoch passen.

Hier ein Paradebeispiel. Der „Ritter“ zu Beginn ist Antonies Ziehvater. Der „Edle“ – der Hauptstrolch des Romans. Antonies (= Tonie) geadelter Opa

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Erkennst du diese Sorte Politiker wieder? Wenn nicht, dann ist dir nicht zu helfen.

Worum also geht es?

Um die Tragikomödie des Lebens. Sagt jedenfalls der Autor.

Um eine Darstellung der ganzen Plage mittels eines Bündels unterhaltsamer Charaktere voller Schrullen; hie und da bissel sehr unrealistisch übertrieben; aber ihm geht es ja nicht um Psychologie. Sage ich.

Der „Schüdderump“ ist eine 300-Seiten-Parabel auf die alte Seltsamkeit: Der Ehrliche ist der Dumme!

Wir erleben den Alltag auf dem Lauenhof bei Krodebeck (Krötenbach) nahe Halberstadt im Harz. Sprechende Namen sind immer ein wichtiger Teil in Raabes Botschaft: Der Hof derer von Lauen beherbergt eine ganze Reihe ziemlich „lauer“ Gestalten, die sich für nichts richtig heiß machen, aber auch nicht vergletschern. Ein verbauerter, schon bissel ärmlicher, Gutshof, der von der Witwe Adelheid geführt wird; die sich den Adel kaum anmerken lässt, sondern mit-buttert, mit-schlachtet, mit-kocht mit den Mamsells. Hier gibt es keine Winterquartierwohnung in der Stadt, keine Ball-Saison. Eben Adel – hide.

Ihr Sohn Henning von Lauen; ist ein irgendwie sympathischer Nichtsmerker, an dem die Erziehungseinflüsse aller Art nur mikroskopische Spuren hinterlassen. Und der -vor allem deshalb- gut durchs Leben kommt. Glanz vergeht, Mittelmaß besteht! Henning – der stolz daherschreitende – hühnerhaft Flüchtende. Ein Henn-ing, aber kein Hahn. Eine Art vorweggenommener Flashman.

Ausgeliefert wird er von seiner Mutter zwecks Erziehung an zwei Faktoten, die die unruhigen Zeiten zuvor an den Lauenhof spülten – und die ebenda blieben:

Eine französische Madmoiselle des dortigen Hochadels, deren Familie einst vor der Revolution floh; und der Ritter von Glaubigern; der gutmütige, verständnisvolle Veteran der Befreiungskriege. Bei Ligny verwundet; vom Kriegskameraden von Lauen mangels eigener Besitzungen mit in den Harz genommen. Beide verkörpern Plus-und Minuspol in Sachen Henning-Beeinflussung. Das stockkonservative Standesbewusstein des „Frölens“ aus Frankreich stößt auf die Zukunftsvisionen des Träumers von 1815. Jedoch gibt es weder einen Weg zurück vor 1789 – noch einen nach vorn in wirklich bessere Zeiten, denn all die Schadstellen im menschlichen Sammelsurium haben bisher jede gute Idee verkorkst. Bingo!

Dann haben wir Antonie Häußler, die Tochter der „Schönen Marie“, welche einst von ihrem eigenen Vater zum „Geld machen“ missbraucht wurde und als sterbende Halbwahnsinnige in den Heimatort Krodebeck zurückgebracht wird. Nach Mutters Tod wird die kleine Toni von der Dorfbettlerin im Siechenhaus an Kindesstatt angenommen, was wiederum nur ein Jahr dauert, bis auch diese stirbt. Toni hat also Hundezeiten, wird gemobbt, gejagt, geschlagen als „Auswurf einer Verdorbenen“ – und dann plötzlich an den Lauenhof geholt, wo sie zum Mündel der beiden alten Erzieher des Henning wird. Hier nun wechselt sie praktisch den Kulturkreis vom Lumpenkind zur „Prinzess ohne Stammbaum“ – und Raabe pfuscht, denn das früher so praktische abgehärtete Kind, auf Widerstand und Selbständigkeit geeicht, wandelt sich von jetzt auf gleich zur zaghaften Fee, die einen Retter bräuchte, als plötzlich ihr böser Großvater, der Mädchenverderber, auftaucht, schwer reich geworden ist und sie mit nach Österreich nehmen will.

Raabe bricht hier den Plot arg übers Knie, weil er den Handlungsort möglichst rasch nach Wien verlagern will, da er Großvater Häußlers Werdegang in der Agonie der Donau-Monarchie darstellen möchte. Wobei ihm wiederum das korrupte Wien eine Chiffre für ein ebensolches Berlin ist. Manche Abschnitte wollen mehrfach gelesen werden – um alle Frechheiten mitzukriegen.

Großvater Häußler war eigentlich ein versoffener, arbeitsscheuer Friseur im Harz, ging mit Tochter einst nach Hamburg, wo er dank ihrer Attraktivität sein Startkapital erwarb,  – um schließlich als Militär-Lieferant Altösterreichs Geld zu scheffeln. Österreich verliert gerade Stück für Stück die norditalienischen Provinzen, aber Häußler gewinnt per Abrechnungsbetrug am teuren Verkauf minderwertiger Truppenverpflegung seine erste Million. Bei seiner Rückkehr nach Krodebeck nennt er sich nun Ehrfurcht gebietend: Dietrich Häußler Edler von Haußenbleib; bzw. kurz: Herr von Häußler.

Raabe verbindet nun all diese Schicksale interessant miteinander, wobei schnell deutlich wird: Die Schlimmen kommen besser klar. Antonie beschreibt kurz vor Ende des Buches einen Traum:

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Interessant in diesem Zusammenhang ist die Vorgeschichte des Ritters von Glaubigern. Raabe setzt ihn als personifizierte Vernunft ein. Der Name spricht für sich. Die Vernunft ist edel, aber besitzlos; darauf angewiesen „geduldet“ zu werden und wird eben mal hierhin, mal dorthin verschlagen. Er kämpfte in den Befreiungskriegen für die Idee eines Volks-Reiches gegen Napoleon. Aber er kam ausgerechnet bei Ligny, der letzten Schlacht, die Napoleon gewann „unter die Hufe“; sein Pferd wurde erschossen, er lag auf dem Schlachtfeld und die Attacke ging über ihn hinweg. Es gibt damals die berühmte Geschichte, dass es Blücher selbst so ergangen sein soll.  Somit ist Glaubigern ein Alter-Ego Blüchers. Ergo: Die Vernunft unterlag, aber sie kam nicht um, denn Waterloo ereignete sich kurz darauf. Der Bedrücker war erledigt. Nun hätte dieses bessere Reich entstehen können, aber es entstand „der Deutsche Bund“ aus 40 neidhammeligen Feudal-Staaten, mit dauerhaftem österreichisch-preußischem Gegensatz. Besser als 360 Staaten im Alten Reich, aber eben keine Erfüllung des Volkwillens. Bis 1848 wird über die Helden von 1815 „laut geschwiegen“. So will es die Restauration der Fürsten. Nach 1848 werden diese vorsichtiger und verhindern nicht mehr, dass eine Rückbesinnung einsetzt: Wo bleiben Denkmäler für Blücher, Schill, Gneisenau, Tauenzien? Raabe schlägt in diese Kerbe bereits reichlich mit seinen „Neuntötern“ im „Hungerpastor“, schreibt als die Einigungskriege bereits laufen, seine Meisternovelle „Im Siegerkranz“ und setzt nun auch noch im „Schüdderump“ mit seinem Herrn von Glaubigern den Veteranen von Leipzig (Völkerschlacht) und Ligny ein unpathetisches Denkmal.

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Bliebe noch zu erwähnen, wie heftig Raabe das alte K&K Österreich-Ungarn von ca 1860 abwatscht, denn dieser Umstand macht die zweite Hälfte des Werkes aus: Hier in Wien, passenderweise im Stadtteil Mariahilf, wohnt Großvater Häußler, der nun das „Staatssäckel rasiert“ und plant, auch seine Enkelin zu verschachern. Und zusätzlich wird überdeutlich beschrieben, dass dieser umgeben ist von einer ganzen Schar von Adligen, deren Stammbaum „gewisse mythologischen Bauteile beinhaltet, über die wir jetzt gar nicht nachdenken wollen“. Neureiche Spekulanten, „adlige“ Friseure und Hochstapler aller Art, die ihre Profite feiern, während militärisch gar nichts mehr gelingt. Raabe macht deutlich, dass der Koloss auf tönernen Füßen steht und unmöglich noch lange halten kann. Er erlebt 1918 nicht mehr, aber er hat veranschaulicht, woran es lag: Dem Gebilde fehlt die Identität. „Die Befehle werden auf Deutsch gegeben; geflucht wird in allen Sprachen des Balkans.“ Und die Schlitzohren aller Nationen der Monarchie bereichern sich -bussi-bussi- unkontrolliert und Orden behängt. Ich weiß auch nicht, wieso ich da jetzt auf Brüssel komme. Da wo sich die Edlen von Haußenbleib heute tummeln. Die kennen die Tricks um allen Untersuchungsausschüssen zu entgehen. „Um die müssen wir uns keine Sorgen machen!“, würde Raabe sagen.

Die neuen Ritter von Glaubigern, Leute wie Assange und Snowden – tja, denen gegenüber sind wir alle Henning von Lauen: Zur Kenntnis nehmen; bissel bedröppelt gucken, den nächsten Grillabend vorbereiten – Musik!

„Still I’m suffering, that’s my problem.“ (Van the Man)

Raabe – alter Seher! Ich glaube, ich werde doch noch Fan!

3 Gedanken zu “Auf dem Leichenwagen der Zeit

  1. In Deiner Stimmung wäre noch mehr von dem ollen Miesepeter Raabe nicht gut für Dich. Noch mehr Trauergesänge grusinischer Klageweiber, noch mehr „alles ist so schwer / ich kann nicht mehr“. Bitte nicht.
    Ich erhole mich jetzt von etlichen neuen Romanen (u.a. Dörte Hansen, Joachim Meyerhoff) mit Spielhagens „Selbstgerecht“. Was für ein Meisterwerk! Können wir uns nicht darüber unterhalten, wenn Du Dich schon an den „Neuen Pharao“ nicht rantraust?

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    • Wieso “Miesepeter“? Ich feiere die endlich erlangte Freiheit!
      “Durch Nacht zum Licht.“
      🙂
      Ich glaub, ich les als nächstes “Die Dorfkokette“ vom Spielhagen, weil Antonie Häußler und sie diverse Ähnlichkeiten haben, oder ich erinnere mich wiedermal falsch.

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  2. Ich bin mir fast sicher, dass Du die Dorfkokette falsch erinnerst. – Eines der interessanten (und bisher übersehenen) Momente in Selbstgerecht ist, dass Helene von Kardow noch mehr als Klotilde von Sorbitz Ausdtruck, Reflexion von Spielhagens Verliebtheit in Elisabeth von Ardenne ist. Lesen!

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