Es wird lang. Mir ist mal wieder viel eingefallen. Beim Lesen und Musik hören. Reinhard Lakomy’s „Geheimes Leben“ trug mich von Erinnerung zu Erinnerung und von Einfall zu Einfall.
Lesestoff war das Trauerspiel „In Eiserner Zeit“ von 1891.
Ich habe nun auch den Dramatiker Spielhagen kennengelernt.
Ein Stück – passend zur Zeit. Damals und heute.
Ein Stück so anregend und aufregend in einem.
So perfekt unperfekt, dass es Gedankenlawinen befeuert.
Es ist ein gut gelungener Theaterversuch; kein sehr guter.
Das Drama hätte mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt, aber dass dem nicht so war, ist ebenfalls nachvollziehbar und wird im Folgenden erklärt.
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1. Worum geht es?
Spielhagen verlegt die Handlung in die Befreiungskriege; ins 1813 wiederbesetzte Hamburg. Napoleon hatte sich nach seiner Russlandpleite erstaunlich schnell erholen können, sodass noch anderthalb Jahre Krieg notwendig wurden, um ihn aus Deutschland zu vertreiben. Marschall Davoust regiert mit harter Hand. Seine Soldateska setzt sich zusammen aus Offizieren mit ritterlichem Anstand und widerlichen Karrieristen (oben), sowie mauligen, kriegsmüden Bütteln und Soldaten (unten).
Die Einquartierung bescherte dem Senator Wilbek und seiner schönen Tochter Charlotte den sehr anständigen Marquis Gaston d’Ormond als Hausgast.
Charlottes Bruder Herrmann ist Freiheitskämpfer. Die Schwester verliebt sich in Gaston, den Feind, obwohl auch sie die patriotischen Ideale ihres Bruders teilt. Der Vater verarmt während der Kriegswirren und stirbt als erster.
Da Charlotte „die erste unter den Bürgerinnen“ ist, sind auch der Marschall selbst und sein fieser Adlatus Cambert scharf auf sie. Der disziplinierte Marquis ist ihnen im Weg. Gaston hat also auch Feinde im eigenen Lager.
Spielhagen führt in klassischen Dramenaufbau von 5 Akten die Spannungskurve „Schillermäßig“ in einen Abgrund – mit Trost.
Gaston wird per Intrige in die Subordination getrieben und standrechtlich erschossen. Am Tage des Abzugs der französischen Truppen, die nun Truppen König Ludwigs XVIII sind. Ein letztes Blutopfer. Napoleon down! Hamburg frei! Charlotte nimmt Gift. Herrmann kann seine tote Schwester beerdigen.
„Die ihr Hamburgs erste Bürgerin nanntet, wollte nicht seine Letzte sein; nicht werden zu der ihr sie gemacht haben würdet, bereits gemacht hattet…“,
schwingt sich Dr. Barbeyrac, der Hamburger Arzt mit Hugenottenwurzeln, zum pathetischen Schlusswort auf und hofft daran anknüpfend auf dermaleinst kommenden Weltfrieden und Gleichheit aller Völker.
Da wird viel „gewollt“, jedoch wirkt dieser Schlussmonolog seltsam platt.
Und dies aus der Feder so eines Meistererzählers, wie Spielhagen einer war?!
Warum bleibt der nicht beim Roman?
2.Warum wagen sich die Romanciers des späten 19. Jahrhunderts so häufig auf die Bretter, die die Welt bedeuten?
Freytag tat es, Heyse auch, Spielhagen ebenfalls: Der Goethe(Schiller)-Klaps!
Dichter ist man, wenn man seine Gestalten in Metren und Alexandrinern reden lässt und es vermag, das Ganze nicht wie „Reim dich oder ich fress dich“ klingen zu lassen. Das gilt als Niveaubeweis. So sehr, dass sich die Kultusministerien und scharenweise phantasielos feldwebelnde DeutschlehrerInnen bis heute nicht davon erholt haben. Schülergeneration um Schülergeneration wird mit Silbenzählen die Lust am Erbe ausgetrieben. Zur Strafe machen die dann Stars groß, die in übelster Knüttelreimerei „Hits“ in den Äther plärren: Scheiß auf den Reim!
Romanerzeuger sind Schriftsteller. Die Schmuddelkinder der Poetik. Schriftstellerei musste sich erst durchsetzen, um Anerkennung ringen. Als brave deutsche Lakaienseelen zergliedern und zerschwafeln sie alles, was sich ihren Federn so entringt, um wissenschaftlich zu wirken:
Sollte man auf auktorale Erzähler verzichten? Warum ist ein Witz ein Witz? Wie real darf Realismus sein, um nicht tendenziös zu wirken? Was ist typisch deutsch am Roman deutscher Autoren im Vergleich zu Dickens und Tolstoi? Ist das bei Freytag dickens’scher Humor oder nicht?…
Die Nation der Kammerdiener und Oberlehrer. (E. Jünger)
Bis ran an den ersten Weltkrieg versuchten sich zahlreiche Vertreter der Branche nun an laaaangen Versdichtungen oder eben gar Theaterstücken a la Schiller und Goethe. Ruhm war diesen Versuchen keiner beschieden. Kurzzeitig hie und da ein paar Aufführungen. Lob für eine oder zwei Saisonen, aber das war’s. Zu epigonal, nachgemacht, unerheblich im Inhalt – wurde oft von den grauen Eminenzen der Theaterkritik konstatiert.
Auch Spielhagens Stück reiht sich da ein.
(Es wird ein paarmal aufgeführt, ohne Sensation zu sein und verschwindet schneller als seine ruhmreichen Romane im Nirvana vergessener Werke.)
Schwung ins Theaterleben kam erst wieder durch die Naturalisten und Expressionisten und Aufreger-Stücke wie die vom Hauptmann Gerhard oder gar Wedekinds „Lulu“-Skandal, an dessen Vertonung schließlich final noch Lou Reed samt Metallica-Unterstützung grandios scheiterte.
3. Was lässt das Stück nun so „perfekt unperfekt“ erscheinen?
Spielhagen kommt mit seinem Drama 1891 um die Ecke. 20 Jahre nach Reichsgründung. Im Jubiläumssiegestaumel, der bereits seit dem Sedans-Tag im September zuvor alle Rekorde bricht.
War Deutschland 1891 zu sehr auf Erbfeindschaft gepolt, um Spielhagens Denkanstoß goutieren zu können?
Das ist nicht so simpel eingleisig bewertbar: 20 Jahre Sieg! Gravelotte- Sedan-Paris-Versailles! Heil dir im Siegerkranz! Es gibt Sammelbilder für die Jugend, mit Szenen aus allen Gefechten der drei Einigungskriege, Zeitzeugenerinnerungsnovellen fast aller beteiligter Offiziere von 1871 als Buch oder in Westermanns Monatsheften: „Vor Paris“, „Sturm“, „Der Trompeter von Gravelotte“, „Horch was jammert dort im Busche, horch was klagt in finstrer Nacht…“, Lieder, Gemälde, Lineolfiguren – endlos.
Und es gibt Versöhnungsversuche „unter der Hand“. Reichlich reist die Schickeria Deutschlands nach Paris. Alle Jahre wieder. Reichlich finden französische Fräuleins als Gouvernanten und Gesellschafterinnen Anstellung in den Gutshäusern zwischen Maas und Memel. Studenten wählen Auslandssemester, weil die Sorbonne irgendwie dazugehört, wenn man von sich reden machen will. Malaufträge gehen hin und her zwischen Düsseldorfer Schule und Pariser Salonmalern zur Ausschmückung der Villen der Stahlbarone hüben wie drüben.
Abenteurer wie der junge Ernst Jünger wählen die Fremdenlegion.
Die „Erbfeindschaft“ ist also nur die eine Seite der Medaille. Der Ruf der beeindruckenden Modemetropole Paris bleibt davon unberührt. Die orientalische Exotik französisch Nordafrikas verführt auch Deutsche zuhauf zum Träumen mittels französischer Autoren. Deutschland boykottiert keinen Dumas- oder Jules Verne-Roman! Auch Balzac und Zola erleben Lederausgaben beim „Erbfeind“.
Die Kolonien bringen eine dritte Schiene ins schwierige Verhältnis zum Nachbarn: Streit an der Kameruner Grenze. Ungeklärte Interessenlage in Marokko. Rangelei um Einfluss in Istambul.
Und Spielhagen beweist sich als unangepasster Denker ohne Hausmacht; ohne Gleichgesinnte, ohne „Spielhagen’sche Schule“:
Idealistisch fordert er sinngemäß:
„Liebet eure Feinde!“
„Eines Tages wird es wahr, das Prinzip der Brüderlichkeit, welches unsere Zeiten so sehr in den Schmutz zogen.“
Aber realistisch weiß er eben auch:
„Liebe, über die Grenzen von Stand und historischer Rivalität hinweg, kann es nur im Jenseits geben!“
Ausgerechnet am exemplarischen Schicksal einer der am schwersten gebeutelten Städte Deutschlands während der Zwangsherrschaft Napoleons; Hamburg, will er sein Schärflein zur Aussöhnung beitragen.
Der Realist Spielhagen baut einen sehr logischen Handlungsverlauf und scheitert auf hohem Niveau – am Idealisten Spielhagen, dem er das letzte Wort überlässt.
Er ist NICHT bei den Hurra-Patrioten. Aber er ist Preuße. Und Kind seiner Zeit.
Er verheddert sich in den Widersprüchen zwischen hohem moralischen Anspruch, wie ihn die Gymnasien lehren; und gesellschaftlich festgefügten Grenzen, die unbeeindruckt von rund 150 Jahren Aufklärung eben fortbestehen.
Wie zeigt sich das?
Es werden ein paar Spuren zu großen Vorbildern aus Weimar gelegt:
Eine Bürgerreputation vor dem allgewaltigen Davoust rechtfertigt ihre berechtigten Ansprüche mit „Halten zu Gnaden!“ – Altgediente Deutschlehrer zucken zusammen: Schiller! Kabale und Liebe!
Nur ist es dort eine Szene der Selbstermächtigung des Bürgers Miller gegenüber dem adligen Präsidenten, der der Bürgerwohnung verwiesen wird. Hier bei Spielhagen ist es eine jämmerliche Szene des schüchternen Anfragens und sich-schnell-wieder-hinausweisen-lassens.
Charlotte erlebt ihren Vater im Niedergang, kann ihn aus Haft erretten, aber nicht aus seinem rasanten gesundheitlichen Verfall. Die Zeiten überfordern ihn. Er stirbt. Sie bleibt als starke Tochter zunächst noch übrig. Luise Millerin zwo!
Charlotte ist sogar die bessere, emanzipiertere Frauenfigur. Aber zwischen Luise und Charlotte liegen eben auch hundert Jahre literarische und gesellschaftliche Weiterentwicklung. Und der Meister selbst hat im Unterschied zu seinem Langzeitidol Goethe ein sehr gutes Verhältnis zu mindestens einer seiner Töchter: Antonie, die ebenfalls schriftstellernde Mädchenschul-Lehrerin.
Die Franzosen sind charakterlich zwischen gut und böse perfekt gemischt. Unter den deutschen Figuren fehlt ein Schuft. Somit bekommt das Stück eben doch eine Schlagseite: Fiese Lustmolche gibt es nur „drüben“?! Da fehlts an Ausgewogenheit beider Seiten. Er hätte an Raabes „Im Siegerkranz“ denken sollen!
Auch Schiller hatte seinen Wurm im Stück, den bürgerlichen Schmierlappen auf Seiten des amoralischen Adels.
Am Schluss entwickelt sich eine Szene, die fast Rettung/Flucht des verurteilten Gaston verspricht zur katharsischen Katastrophe. Nun ja. Gaston sieht ein, dass er sich gegen Cambert nicht hätte wehren dürfen – und verzichtet auf Flucht, weil er anschließend hätte ehrlos weiterleben müssen. Das ist realistisch, aber nicht DIE GROSSE – den Zuschauer überwältigende – Überraschung.
Gaston als Will Smith seiner Zeit. Zuhauen und hinterher zerknirscht herumwinseln.
Ausgerechnet der alte Ehrenkodex sich duellierender Adliger wird hier zum Katalysator für einen unbefleckten Heldentod in Konsequenz und Anstand. Obwohl doch sonst alle Realisten in ihren Romanen so oft und so facettenreich den feudalen Ehrenrummel zum Würgetuch so vieler Träumer machten, denen man modern zu leben verwehrt.
Aber abgesehen von jener eher zufälligen Will Smith Parallele:
4. Was macht das Stück so aktuell, dass es mich hier schreiben lässt?
Diese „unmögliche“ Liebe von Gaston und Charlotte provoziert Interpretation:
Wenn der Feind im Land ist – und sich da solch‘ unerhörtes Verlöbnis anbahnt: Was denken die Nachbarn? Wie soll das werden? Wo sollen die beiden glücklich leben können? Welche Sorte Spießrutenlauf kommt auf zukünftige Kinder zu?
Die Stimmung in Deutschland 1814/15 ist aufgeheizt. NICHTS Französisches wird mehr geduldet. Sogar die Alltagsmode macht eine Rolle rückwärts: Schau dir die Kleider und Frisuren der Damen an: Hie Empire – hie Biedermeier! Steif und zugeknöpft ist sittsam. Frei und luftig ist Verluderung!
Gaston in Hamburg als Exilant? Mit „deutscher Metze“ am Arm? Eine Chance auf Leben in Anstand hätten sie nicht, wenn bei jedem Spaziergang alles vor ihnen ausspuckt.
Charlotte in Frankreich? Als deutsche, bürgerliche Sauerkraut-Braut des französischen Marquis?
Eher wird er von seiner Mutter enterbt und beide müssten armselig in irgendeiner Großstadt über die Runden kommen!
Da bleibt nur der Tod und das Wiedersehen „drüben“ in der andern Welt.
Aber zusätzlich: Ist Spielhagens Plot vernünftig? War Hamburg eine gute Wahl? Wäre nicht gerade auch für den Adelskritiker Spielhagen besser gewesen, einen Franzosen bürgerlicher Herkunft auf eine Kleinbürgertochter treffen zu lassen (in irgendeinem Kaff)?
Davoust hat sooooviel Dreck am Stecken in Bezug auf Hamburg, Napoleon unterband den Englandhandel, das Lebenselixier der Stadt; Davoust ließ verhaften und erschießen, was sich bei Schmuggel oder nur despektierlich Reden erwischen ließ, die einquartierten Landser aus den Gossen Frankreichs führten sich dem entsprechend auf in den Wohnungen der unfreiwilligen Gastgeber. Die Stadt musste Schanzarbeiter stellen, um die Stadt zu befestigen – gegen die Befreier, also die eigenen Leute…
Und dann soll dieses geknechtete Volk die Toleranz aufbringen und Unterschiede machen – zwischen einem Gaston d’Ormont und einem Marschall Davoust? Zwischen Büttel 1 und Büttel 3?
Plötzlich soll die Bibel funktionieren? Liebet eure Feinde?
1815 wurde Frankreich das Elsass gelassen. Trotzdem wurde es 1870 wieder zur Gefahr.
Wenn man nun 1891 in dieser Aufführung saß – mehr als ein gähnendes Achselzucken auf Seiten des männlichen Publikums war da nicht zu erwarten. Die Damenwelt hatte was zum Seufzen. Arme Charlotte! Fertig.
5. Hält das Stück Perspektivwechsel aus?
Was, wenn ein Enkel Spielhagens diese Handlung ins besetzte Riga, Charkow, Smolensk 1943 versetzt hätte? Freiherr von Rübenacker liebt Tatjana Iwanowna, deren Bruder Oleg Partisan ist?
Max Walter Schulz (DDR) schrieb sowas ähnliches ende der 70er Jahre „Der Soldat und die Frau“. Allerdings ohne den Bruder Partisan. In Literaturseminaren reichlich zerredet, erregte es beim Alltagslesepublikum keinerlei Aufsehen.
GI Joe liebt Nugyen Pin Pon, die Schwester eines Viet Cong Offiziers 1973. Würde sie von ihrem Bruder erschossen oder Joe standrechtlich?
Marlon Brando könnte hier mitreden, wegen seiner Rolle in „Apocalypse now“, wegen seiner tahitianischen Frau, wegen der Indianerin auf seiner Oscarverleihung.
Können ukrainisch-russische Halb-und Halb-Ehen in Luhansk und Donezk und Charkiw aushalten, was da jetzt läuft?
Drei Katastrophen später – NACH Davoust in Hamburg – ist das Völkerverständnis nun soweit gediehen, dass man heute in Deutschland einer internationalen Misch-Ehe keinerlei Bedenken mehr entgegen bringt. Wenn heute ein Gaston seine Charlotte freit – soll er doch! Und wenn statt dessen ein Sergej oder ein Laszlo anklopft? Auch egal.
Erbfeindschaften haben sich erledigt. Für UNS. Kurios auffällig ist jedoch, dass die Kontakte nach Frankreich zahlenmäßig deutlich dürftiger bleiben als die nach England oder Amerika.
Wir denken heute „angloamerikanisch“; (mal mehr, mal weniger), jedoch nicht frankophil.
Viele gehen heut mit ihrer mehr oder weniger unbewiesenen Weltoffenheit missionarisch plump hausieren. Aber wenn deren Tochter Charlotte im Treppenhaus, in der Klasse oder beim Kellnern ihren Abdullah aufgabelt, dann – beißen auch sie klamm heimlich, ganz fest die Zähne zusammen beim „Willkommen“ und denken: Hoffentlich geht das schnell vorbei gut.
Die Prophezeiung von Dr. Barbeyrac über die große finale Völkerverständigung geistert durch Immanuel Kants- und Adam Smiths Werk; sie erlebte Wiederauferstehung in den Parolen der französischen Revolutionen und im Werk von Marx, Engels und Gorbatschow.
Sie erwieß sich jedes Mal als zu schwach, die kommenden Katastrophen zu verhindern.
Aber man klammert sich halt doch dann und wann an die schöne Hoffnung vom kommenden Staat der Edelmenschen. – Wenigstens solange, bis man dem nächsten Arschloch gegenübersteht.
Amen.