Über Menschen

Juli Zeh – zum zweiten.

Sehen wir es zunächst mal so:

„Jeder lebt doch in seiner Welt, in der nur er den ganzen Tag recht hat.“

Einer der vielen schönen Sätze aus „Unterleuten“, von Juli Zeh. Einem feinen kleinen literarischen Meisterwerk mit allerdings grob plötzlichem Schluss.

Ich mag das Buch sehr, weil das Figurenensemble mir bereits komplett begegnet ist.

Meine Lobeshymne findest du hier.(klick)

Das Folgende wird keine.

Es gibt die Binsenweisheit, dass man sich vor einem Zweitwerk desselben Künstlers hüten sollte, wenn es nicht besser werden kann. Dummerweise hab ich mich nicht daran gehalten und Juli Zehs „Über Menschen“ nun tatsächlich auch noch durchgelesen.

Hier kommt MEIN Leseresultat. Solltest du, lieber Leser, noch vorhaben, dieses Buch lesen zu wollen: Spoilerwarnung!

Während „Unterleuten“ als -neudeutsch- Hardcover-Ausgabe mit Schutzumschlag seinen Platz in meinem Bücherschrank sehr zurecht behalten darf, ist „Über Menschen“ ein Fall für die blaue Tonne. Aus einer Vielzahl von Gründen.

Vor allem fehlt mir der durchaus wichtige Untertitel:

Ein modernes Märchen aus einem Brandenburg, wie es sein könnte, aber nicht ist.

Das Positive zuerst:

Mir gefällt Frau Zehs Schreibe. Eigentlich. Gekonnter Mix aus Witz und Melancholie. Zügige Dramaturgie mit Überraschungseffekten; wechselnd mit inneren Monologen der Hauptfigur über Gott und die Welt, die mich eigentlich immer heftig Zustimmung nicken lassen.

Das gelungenste Beispiel dieser Art befindet sich in diesem Buch auf Seite 218 (Taschenbuchausgabe) im Kapitel „Sadie“, das von einer jungen Alleinerziehenden handelt, die Dora lakonisch ihren schier grauenhaften Alltagsrhythmus beschreibt. Sie ist im Plot die einzige, dem Leben abgelauschte, wirklich realistische Figur.

über menschen

Das ist wirklich einrahmenswert! Aber dieser Problem-Ansatz wird unbearbeitet liegengelassen. Er ist nichts weiter als eine Möhre, die den Leser bei der Stange halten soll: Mal sehen, ob dazu im weiteren Geschehen noch was kommt.

Soweit Seite 218. Das Buch hat jedoch 420. Und die sind bevölkert mit einem seltsamen Panoptikum von Typen.

Grundkonflikt ist der zwischen Dora, der Zugereisten aus Berlin, und Gote dem Dorf-Nazi in Bracken/Prignitz, der immer mehr in eine Mitleidsrolle hineinmanövriert wird, da er als unheilbar krank (im medizinischen Sinne) Hilfe braucht.  Aber der Reihe nach:

  1. Die vermeintliche Unerhörtheit des Problems: Ärztliche Hilfe für ein verzichtbares Subjekt der Gesellschaft – ist nicht neu, sondern „geklaut“ aus Merciers „Nachtzug nach Lissabon“. Dort hat ein Arzt in Portugals Diktatur-Epoche vor 1975 das Problem, den schwer verletzten Chef der Geheimpolizei, also den obersten Folterer, auf dem OP Tisch vorzufinden: Soll er nun retten oder einen „Kunstfehler“ begehen? Hypokratischer Eid – gilt der für alle?
  2. Dora und Robert in Berlin – das ist das Protagonisten-Paar der Ausgangslage, scheinen einer Tele-Novela Marke GZSZ oder „Anna und die Liebe“ entsprungen. Somit schreit der Roman von Anfang an: Verfilmt mich! (Was durchaus zu befürchten ist.) Die beiden sind Klischee pur. Sie Werbefachfrau, er Journalist mit Erlöserwahn: Greta Thunberg Fan und überalterter Fridays for future Maniac: Also beide (Ironie an!) umtriebige junge Erwachsene, voll ausgelastet und topverdienend, dabei ja soooo flexibel, und sich nur von internationalen Delikatessen ernährend – puhhh! (Ironie aus!)
  3. Dora trennt sich von Robert und zieht ins spontan mal schnell gekaufte Gutsverwalterhaus in der Prignitz. Also allein in ein kleines Gutshaus, jahrelang leerstehend, mit 4000 qm dazugehörigem Flurstück – ein ehemaliger Kindergarten, der gleich nach der Wende schloss. Das Ding ist heruntergekommen und weitgehend ausgeräumt. Die Nachbarn rennen ihr hilfsbereit und unentgeltlich die Bude ein, roden große Teile des Grundstücks und malern. Wie die guten Dshinnies aus der Flasche! Ich dagegen habe in 33 Jahren Nordbrandenburg 3 Fälle mehr oder weniger dramatischen Unterganges von Wessis im „Ostbusch“ aus nächster Nähe miterlebt. –
  4. Das Gutsverwalterhaus an sich ist einen Extrapunkt wert: Es entpuppt sich, wie bereits erwähnt, als der ehemalige Kindergarten, der nach der Wende schloss. Restmobiliar ist zwar vorhanden, aber keinerlei Kindergestühl oder tief angebrachte Kleiderhaken. Keinerlei Kindertoiletten. Sodass Dora erst weiter hinten im Buch im Gespräch erfährt, wie das Haus vor dem langen Leerstand genutzt wurde. Jedoch kurz vor Ende des Buches duscht sie (nach Rodungsarbeiten auf ihrem Flurstück) ausgiebig in eben jenem Ex-Kindergarten. Wo kommt die Dusche her?
  5. Tom und Steffen, ein schwules Männerpaar, ist nun vollends Klischee überlastet. Beide sind sowas wie die Investoren im Kaff. Denn sie haben eine Art Trockenblumen-Ranch in der sie Gestecke, Kränze usw. herstellen und „Erntekanacken“ beschäftigen, die sich als Erasmus-Studenten herausstellen. Tom ist ein sarkastischer kampfbereiter Macho, der dem Dorf-Nazi wortgewaltig Paroli bietet und mit „paar Typen“ droht, die er in Null Komma nichts zusammen kriegen würde, um ihn platt zumachen; während Steffen, nebenberuflich Kabarettist, an einem ziemlich platten Anti-Nazi-Programm arbeitet. Beide wurden in der Vergangenheit wiederholt Zielscheibe von Gotes Ausfällen, switschen aber nach einem entlarvenden Wutausbruch von Dora um und sponsern ein Dorffest für den kranken Gote, um ihm kurz vor dem mutmaßlich baldigen Ableben noch die Versöhnungshand anzubieten. – Wie aus dem wirklichen Leben gegriffen! Ironie aus.
  6. Nun aber zum kranken Dorf-Nazi selbst: Der bei Mercier entlehnte Grundkonflikt ist an und für sich eine gute Idee, aber in Bezug auf Dora und Gote lausig umgesetzt.

Gote stellt sich eingangs ziemlich aggressiv vor und bezeichnet sich selbst als Dorf-Nazi. Reflektierende Selbstironie ist das also nicht. Dann zeigt er sich plötzlich märchenhaft hilfsbereit gegenüber der Zugereisten, an der alles „grüne Wessi-Tante“ schreit. Dann singen er und zwei Kumpane das Horst Wessel Lied. – Aber darüber hinaus unterläuft ihm im Alltagsgespräch kein weiteres Nazivokabular! Er singt und pfeift ungefährliches Liedgut, niemals Rechts-Rock! Er besitzt auch als ehemaliger 90er Jahre Skin keine einschlägigen Landser-CDs! Er hat Knast hinter sich und meidet sein eigenes Wohnhaus, will also irgendwie mit seinem früheren Leben nichts mehr zu tun haben. Er wohnt deshalb im Wohnwagen im Hof. (Weib und Kind sind „damals 2017“ nach Berlin geflohen, als er „einfahren musste“.) Dann steht er aber doch wieder besoffen vor dem Haus von Tom und Steffen und brüllt erwartbare Botschaften in deren Fenster. Nur weil der Tumor drückt? Soll das „Reflektieren mit Rückschlägen“ bedeuten?

Als Ex-Knacki hat er Ämterscheu. Er ist also nirgendwo gemeldet, bezieht kein Hartz IV und hat keine Krankenversicherung. Handwerklich geschickt schlägt er sich nach eigener Aussage „ebenso durch“. Hat also durchaus Beziehungen in Dorf und Umgebung. Bekommt auch problemlos den Ahornstamm für sein Schnitzwerk. Wozu dann das Dorffest „für einen Gemiedenen“, der doch gar nicht gemieden wird?! Dora, die wegen Corona gerade ihren Job verlor, und die nun die Kreditraten für ihr Haus drücken, bezahlt für Gote die Kortison-Tabletten, die ihr Vater (wundersamerweise rein zufällig Hirnchirurg) per Privatrezept verschreibt. Purer Realismus! Noch besser wäre Crowdfunding unter Prignitz-Bauern gewesen. Sarkasmus aus!

  1. Last not least bliebe noch Franzi zu erwähnen, die 10jährige Tochter von Gote. Auch hier Klischee en masse. Ein pflegeleicht an- und ausschaltbares Kind, das man braucht, um die Leserinnen (west) bei ihrem Pippi Langstrumpf Kindheitssyndrom zu packen. (Dora spricht die TV-Serie ihr gegenüber direkt an.) Franzi lebt eigentlich mit ihrer Mutter in Berlin. Wird aber scheidungstechnisch in den Ferien dem Vater überlassen, obwohl der sich fast gar nicht um sie kümmert. Sie aber fühlt sich hier befreit vom Berliner Schulmobbing und schwärmt von ihrem Papa, obwohl sie alleine in ihrem Kinderzimmer im Wohnhaus schlafen muss, in dem noch der Dreck von 2017 liegt. Auch sie hat in ihrem bisher 10jährigen Dasein rein gar nichts faschistoides von ihrem Papa aufgeschnappt, was sie nun irgendwann zum Besten geben könnte. – Leute! – Seufz.

Was also will mir dieses Werk nun mitteilen? Die Welt ist gut, wir ham uns alle lieb? Und das in diesen Zeiten? – Die Gesellschaft zerspreiselt sich gerade in immer kleinere Nischen-„Komjunitties“, die sich unversöhnlich betwittern! Wir bewegen uns rasant in eine dysfunktionale gesellschaftliche Dahinvegetiererei nach US-Vorbild – die Ex-DDR und Niedersachsen als „Fly over States“. – Und da soll mich dieses Buch nun was genau lehren? Dem Assi von nebenan die Beerdigung zu bezahlen? Da sei Prora vor! Dem zugereisten Wessi den Vorgarten zu mähen?

Es widerspricht (bis auf das „Sadie“-Kapitel) allen meinen Erfahrungen und Beobachtungen in 33 Jahren Restpreußen!

Weg damit!

Weiter mit Heyse, Spielhagen, Zobeltitz & Co!

Amen.

11 Gedanken zu “Über Menschen

  1. Ich habe ein Buch von Juli Zeh gelesen, dessen Titel mir entfallen ist. Es ist definitiv nicht „Unter Leuten“ oder „Über Menschen“, sondern eines, in dem die Protagonistin mit Hund in das ehemalige Jugoslawien reist. Mir hat das Buch gefallen.
    Egal, wie miserabel ein Buch sein kann, aber in die blaue Tonne zu kloppen, ist hart. Gibt es bei Dir in der Nähe offene Bücherschränke? Aus einem solchen habe ich den einen Roman von Juli Zeh herausgefischt.

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    • Keine Panik in Sachen Bücherrettung. Ja, es gibt einen offenen in der Nähe. Aber noch darf das Buch ohnehin bleiben, weil da noch ein zwei Leute existieren, die meinen Blog nicht lesen, denen ich aber die S.218 vorgelesen habe – und die wenigstens haben versprochen, dass sie das mal im Ganzen lesen wollen.
      Wart ich halt noch.
      Aber die blaue Tonne war eh eher Rhetorik. Nicht mal doppelte Spielhagens oder Heyses landen da, obwohl einem die nicht mal mehr ein Antiquar abnimmt, wegen „alter Schrift“. Ich Bücherwurm will doch kein Kulturgut vernichten!

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      • Da wünsch ich mir prompt ganz eigennützig, dass du es bald findest oder irgendwie bekommst und liest und rezensierst. Hier unter Kommentare oder bei dir im Blog. Literaturdispute fetzen – und sind leider selten wie Goldstaub.

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      • Danke! Und: Nein, mein Blog wird zu keinem Literaturblog. (Die Springsteen-Serie reicht schon. Und wenn hörbeeinträchtigte Personen in Romanen vorkommen, muss ich auch etwas dazu schreiben. Dann ist es aber auch gut. Die restlichen 50 bis 60 Bücher, die ich jährlich lese, bleiben dann unkommentiert.) Außerdem gibt es im WordPressiversum unzählige Bücherblogs. Ich bleib lieber in meiner Nische.

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  2. Ich kann jedes Wort von dir unterschreiben. Meine Empörung wuchs von Seite zu Seite. Es erschließt sich mir nicht, was Frau Zeh mit dieser Plattitüde bezweckt, außer ihren Geldbeutel weiter zu befüllen.
    Gerne habe ich von ihr Unter Leuten und Corpus Delicti gelesen. Aber Über Menschen kam direkt in den Bücherschrank.

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  3. Berlin, 1999. Peter Bieri, Philosophieprofessor an der Freien Universität, atmete schwer. Wie sie ihn angestarrt hatten, als er die Frage der schönen blonden Studentin nicht beantworten konnte. Er war ertappt worden, seine ganze angebliche Gelehrsamkeit war pure Hochstapelei… Irgendwann musste er ja auffliegen.
    Und diesmal war ihn sein zweites Leben als Romanautor kein Trost. Der Konflikt, auf den er sich so viel einbildete, existiert in Wirklichkeit nicht. Natürlich hat auch der Serienmörder, den die Giftspritze erwartet, Anspruch darauf, dass man seinen Blinddarm operiert. Nein… Und der Stasimann, den er sich ausgedacht hatte… Er glaubte die Gestalt selber nicht. Viele sind im Leben gescheitert; aber ich bin gleich, gleichzeitig, in zwei parallelen Leben gescheitert! Auf seltsame Weise mischte sich Selbstmitleid mit Stolz.
    Dann fiel sein Blick auf ein Buch, das seine Frau bei ihrem Auszug vergessen hatte. Fernando Pessoa. Gab es nicht auch in Portugal eine Diktatur?

    Berlin, 2020. Sie freute sich darauf, morgen wieder in „ihr“ Dorf zurückzukehren. Ja, es war jetzt ihr Dorf. Sie kannte es jetzt gut. Sie wollte die Probleme ihrer Nachbarn darstellen. Sie hatte auch etwas gutzumachen, nachdem sie neulich Bodenreform und Kollektivierung durcheinander gebracht hatte…
    Aber wen würde es interessieren? Ihre Freundin, nein, ihre frühere Freundin Heidi, die ihre beiden auf Lanzarote spielenden Romane gefeiert hatte, hatte ihr gesagt: Vor dem Osten hat sie Angst, sie will da nicht hin und sie will davon auch nichts lesen. Diese selbstgerechte Tussi!…
    Und dann hatte sie eine Idee: Ein Buch mit einem Nazi als Helden! Kann es eine größere Anklage der Heuchelei, der Ungerechtigkeiten und Verwerfungen der Wendezeit geben, als zu zeigen, wie dadurch ein guter, intelligenter Mensch zu den Nazis getrieben würde!
    Aber natürlich ist Gote kein wirklicher Nazi. Dagegen wird aus Robert einer. Ein Coronafaschist. Richtige Nazis gibt es eh nur im Westen.

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  4. Über Menschen spielt im Märchenwald? Ja. Ein Traum von einem Miteinander. Wie in der deutschen demokratischen Republik, von der Spielhagen träumt.

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