Wenn alte Sicherheiten wanken

Oder: „Mike Oldfield im Schaukelstuhl“ (Verlag „Der Morgen“, DDR 1988)lindemann4

Ein kleines dünnes Bändchen, das mich dieser Tage umtreibt. Das Buch zur Zeit! Für manche ist es ein Kultbuch. Weil einer der beiden Protagonisten 6 Jahre nach Veröffentlichung sehr reich und sehr berühmt wurde…

1. Das Buch

Wie man am Autoren-Namen bereits ablesen kann: Da schreibt Werner Lindemann 1988 in erster Linie über SICH – und ein bisschen über seinen Sohn Timm, der in Wirklichkeit Till heißt. (Aber sein Ruhm fehlt ihm noch. Und Papa kann den ja nicht ahnen.) Auch die Namensänderung ist durchaus angebracht, denn das Büchlein macht durchweg den Eindruck eines -sehr hilflosen- Versuches, Realität zu „reparieren“.

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(Wenn Till und seine Musiker-Kumpels keine Aussteiger waren – wer dann?!)

Und so haften am Buch-Timm Sätze und Verhaltensweisen, die man dem echten Rammstein-Till durchaus zutrauen kann und gleich darauf wirkt dieser Timm, wie einem DEFA Film entstiegen; denn dort fallen die Bilderbuchjugendlichen auch immer nach kleinen Aufmüpfigkeiten in so sehr mies erfundene Gläubigkeits-Trance-Zustände zurück, wenn ein Arbeiterveteran auftaucht, der sie „väterlich belehrt“. Und hier wie dort schreit es in dir: Das kann nicht sein!

Thema ist eine recht unersprießliche Episode des Zusammenlebens von Vater und Sohn im Jahre 1982. Der Sohn ist 19 und was der alles durchhat, das erfährst du bei Wikipedia. Nicht im Buch. Denn Papa ist das meiste davon peinlich.

1982 ist der Vater 56 Jahre alt, Berufslyriker und Kinderbuchautor – und weltfremd wie Hulle!

Da fangen die Parallelen zum „Jetzt“ bereits an!

2. Die Rezeption

Bei Erstlektüre 1989 im Frühsommer, also gerade noch zu Mauerzeiten, war ich schwer enttäuscht.

Ich erwartete sowas typisch Halb-Dissidentisches, wie es die DDR-Literatur der 80er ja eigentlich draufhatte: Poetisch treffende Metaphern für realen Murks und schelmisch aufmüpfige Anekdoten. Zitat-Nachschub für Sitzungsk(r)ämpfe. Fehlanzeige.

Der Buchtitel führt derb in die Irre, denn um Musik geht es überhaupt nicht. Oldfield und die Scorpions werden mal am Rande erwähnt.

Hier schrieb einer „aus dem Chor der Schmeichler“ linientreu und überwiegend von sich selbst.

Ich bin (ungefähr) im Alter von Timm/Till; aber identifizieren konnte ich mich nicht mit ihm. Er ist sportlich – ich nicht; er ist Casanova (damals schon) – ich nicht; er stellt im Buch mehrere dämliche Fragen an den Vater – ich nicht. Er feiert 1982 die Scorpions – ich war NDW süchtig! Da ergibt sich also nix.

Die Zweitlektüre letzten Sonntag traf mich von der anderen Seite: Nun bin ich auch annähernd im Alter des Vaters Werner. Allerdings nicht Teil seiner Generation, mit Kriegstrauma und Aufbau-Idealen der Stalinzeit. Das stellt mich nun zwischen die Stühle. Einerseits kann ich für mich – ganz ohne rot zu werden – in Anspruch nehmen, ein deutlich besserer Vater gewesen zu sein.

Als MEIN Sohn 19 war, lebten wir friedlich unter einem Dach. Sogar mit Mutter und Schwester von ihm! ICH hatte die große CD Sammlung, aber ER bestellte sich gerade seine dritte Gitarre, den Verstärker und die Boxen. Und ER konnte „Stairway to heaven“ spielen und nicht ich! –

„Papa hört ja nur Mugge; aber ich will sie spielen können!“

Andererseits schüttele auch ich nun zunehmend verständnislos den Kopf über – die Gegenwart und all ihre Fehlentwicklungen. Wieso sind historische Erkenntnisse auf einmal obsolet? Wieso wird man blöd angemacht, wenn man Kriegsursachen benennt, die Fakten sind? Fällt Geschichtsunterricht bald ganz und gar weg? Er und ich klammern uns an Erinnerungen, quasi zur Vergewisserung, dies und das einst besser im Griff gehabt zu haben, als die Youngsters now.

Identifikation jedoch ist das noch keine!

Er war Baujahr 1926! Auf ihn wirkten gaaaanz andere Prägefaktoren als auf uns Boomer!

Ich war nie in Gefahr, ein Apparatschik zu werden, der Stolz darauf ist, dass „der Minister mein Freund ist und ich ihn duzen darf“; diese Sorte Buckelei ist mir stets fremd geblieben.

Ihn verband Linientreue mit der Macht vor- und mit der Macht nach’45. „Ein Kniera wira im Büchel steht…“ (Danzer)

Ich war eigentlich immer mehr oder weniger nörgelnde Opposition.

Wenn Lindemann senior schon im Klappentext schreibt „Mein Sohn hat keine Interessen…“, dann möchte ich ihm posthum nachrufen: Weil du deinen Job nicht gemacht hast! Du hättest sie wecken müssen, als noch Zeit war! Aber du hast ihn in ein Internat gesteckt und primitiven Trainern überlassen! (Immerhin gabst du ihm dichterischer Erbmasse mit, so dass es Till ja später doch noch geschafft hat. Als selfmade Man.)

Aber Vater Lindemann ist eben auch noch ein Fossil aus der Zeit, da Väter mit Erziehung nichts zu tun hatten. Wie im Tierreich: Fuck and run! – Schmeiß dem brütenden Weibchen bissel Futter ins Nest. Und so sind sie sich später keiner Schuld bewusst, wenn es anders kommt, als erhofft.

Ausgestorben ist diese Haltung nicht. Wieviele mitgeschleifte, notorisch stumme Chauffeure von Helikopter-Glucken hab ich in Elternabenden vor mir dösen sehen!

Egal inzwischen. Nach mir die Sintflut!

3. Der bleibende Wert

Weit interessanter als der „Till-Aspekt“ ist etwas anderes, was dieses seltsame Büchlein deutlich macht:

Einer „von denen da oben“; aus der Staatskünstlergalaxie, weiß nicht weiter.

Finis. Privilegiert und am Ende.

Auch das hat aktuelle Parallelen.

Früher die großen Elogen im Auftrag der Partei – allzeit lesebuchkompatibel brav voran in den Fussstapfen von Johannes R. Becher und Max Zimmerring. Vorwärts! Vorwärts! Wir erschaffen den Neuen Menschen! – Und dann sitzt der da bei dir am Tisch und die Haare hängen in die Suppe. Warum ist das so gekommen?

Die alten Tricks ziehen nicht mehr. Erst die Mär vom wissenschaftlich erwiesenen Kommunismus, der gesetzmäßig eintreffen muss. Dann, eine Wende später, die von der Oppositionspartei, die etwas ändert, wenn sie dann mal wieder dran sein sollte. Da machste was mit, im Laufe eines Lebens!

Der Autor gibt preis, verschweigt, verdreht – den Lektor im Nacken oder die eigene Willfährigkeit.

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Merkste was? Wie da einer Ross und Reiter ausgetauscht hat, damit eine Realität herauskommt, die druckbar ist?

Auch wenn der Sohn einen Denkansatz formuliert, macht Papa den Lanz – und hat eine Phrase parat.

Abgewürgt!

Schnitt! Schnell ein Einsprengsel „aus schwerer Zeit“, als „unsere Errungenschaften wuchsen“.

Das weckt Erinnerungen: FDJ-Nachmittage, Staatsbürgerkundeunterricht, NVA-Polit-„Schulung“, Sitzungen, „Beratungen“ mit vorgefertigtem Ergebnis, Sprachverdammnis: „So kann man das aber nicht sagen!“ … „Wem reden Sie hier das Wort!“ … „Da muss ich mich aber sehr wundern, wenn ich Sie so reden höre!“ …. Apropos Sprachverdammnis. Oops? War da was?

Der ostdeutsche Leser von 2023 grinst über die Deja vu Dichte.

Wie Beschönigung heute aussieht, hab ich neulich erst beschrieben. Die Probleme wechseln. Der hilflos plumpe Umgang mit ihnen bleibt konstant. Täglich gibt es neue Beispiele.

Werner Lindemanns Buch führt uns vor Augen, wie sich Agonie anfühlt.

Der aufmerksame Leser erkennt die Symptome wieder.

Das Bild von seinem Sohn dagegen bleibt ein Schemen.

10 Gedanken zu “Wenn alte Sicherheiten wanken

  1. Da produziert einer wunderbare Lyrik und hat damit wider Erwarten sogar Erfolg: Seine Lieder werden auf der ganzen Welt gesungen, auch von Leuten, die kein Deutsch können. Und was schreibt der angeblich gebildete Sp….. über ihn: „Er wurde sehr reich“.
    (Was hier schon deshalb falsch ist, weil Lindemann sich nie allein als Autor eintragen ließ und die Einnahmen immer mit den anderen fünf Bandmitgliedern teilte, obwohl die Texte sicher alle von ihm sind. Sie gleichen seinen Gedichten.)

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    • „der angeblich gebildete Sp(ießer)“ weiß auch, dass der Erfolg des Lyrikbandes auf dem Ruf basiert, den sich die Band durch „Bück dich“, „du hasst“, „mein Teil“ & Co erspielt hat.
      Der Umsatz des Büchleins sagt nichts über den Grad der Wertschätzung der Lyrik aus.
      Das kauft „der Fan“ um einfach alles zu haben, was aus dem Hause Rammstein kommt.
      Wieviele Teens werden die Nachauflage vom Schaukelstuhloldfield gekauft haben mit dem Till-Konterfei auf dem Cover – und? Gelesen? Jeder 10.te vielleicht.

      By the way:

      Ist dir eigentlich bewusst, dass du da einen Künstler feierst, der in der von dir so verteidigten DDR hätte nie was werden können?
      Diesen Gottfried-Benn-Expressionismus hätten „die Genossen“ vom Zentralrat der FDJ in der Luft zerrissen.
      Stell dir mal das Gesicht von Gisela Steineckert beim Lesen der Texte einer Rammstein-CD vor!

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  2. Wenn es die DDR noch gäbe, würde der Oktoberclub „Pussy“ singen um die Dekadenz des Westens zu geißeln, aber eigentlich aus Spaß an der Zeile „Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“. Un in den Lesebüchern würde man die Zeitlosigkeit Goethes zeigen, indem man Lindemann daneben stellte.

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    • Quark. Vor dieser Singeclubaktion hätte die Band abhauen müssen.
      Und dann ist es immernoch falsch. Denn diese Schmeichler Ensembles haben auch zu keiner Zeit Nina Hagen Hits zitiert.

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  3. Anregender Bericht zum Tausch der Ebenen Vater-Sohn. Wenn ich meine Rolle als Vater, der mal Sohn gewesen ist, vergleiche mit meiner Rolle als Vater meinen Kindern gegenüber, dann meine ich, verschiedene Sonnensysteme zu betrachten. Vielleicht ist das normal; „der Lauf der Zeit“ leuchtet in die Gedanken.

    Was soll dann dabei herauskommen als Erkenntnisgewinn wenn ich mich mit anderen Vätern/Söhnen vergleichen würde. Insofern wäre es für mich keine passende Lektüre.

    Was mich erstaunt hat, sind die aufgerufenenen Preise gebrauchter Exemplare für dieses Werk des Lindemann Vaters. Zwischen 70 und 200€. Es spricht für die Finanzkraft der Fans.

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    • Wozu vergleichen mit anderen Vater-Sohn-Beziehungen?

      Kommt auf die Perspektive an. Wenn man weiß, dass man gut/besser abschneidet – dann ist das ein Fest!

      Ähnlich Klassentreffenbilanzen.

      Aber aus dem Grund hab ich das Buch nicht absichtlich gelesen; es drängelte sich nur spontan bei der Lektüre auf.

      Die andere Lehre, die Missachtung von Lebensleistung der jeweils „Ausgedienten“ durch die jeweiligen „jungen Wölfe“ ist der einschneidendere Effekt gewesen.

      Also lasse ihren Scheiß machen. Ändern wirste nüschd.

      „Erfahrungen nicht netzessäry!“ war ja mal ein früher Yes-Song; und ein grauenhafter dazu.

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      • Mit dem Bilanzieren habe ich vor vielen Jahren aufgehört. Ich schnitt eben anders ab, weil ich grundsätzlich anders war. Ich habs auf meine Art gemacht und bin stehen geblieben. Im Sinn von aufrecht stehen geblieben.
        Um mich herum Umfaller, Lebenslügner und Legendenstricker. Klassentreffen wären so eine Bühne, von wo aus man sie als Publikum sehen kann.

        Die Missachtung von Leistungen der jeweils älteren Generation durch die jüngere Generation hat sich meiner Beobachtung nach verändert. Wir haben manches unserer Altvorderen verachtet, manches auch nicht.
        Die heutigen Jungen hinterfragen nicht mal mehr, was wir geleistet haben. Die wollen sich nicht mal mehr in Diskussionen an uns reiben. Für die meisten ist wichtig, das sie Kind bleiben können, immer Vorfahrt haben und die Eltern sichere Häfen mit Bargeldtankstellen sind.

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      • Vermutlich ist das DOCH ein West Ost Unterschied. Das Renommiergehabe kommt hier in meinem Jahrgang nicht vor. Vor allem, was die POS Klasse angeht, da bleibts ein unterhaltsamer Klatsch mit Frotzelei. Karrieren im eigentlichen Sinne hammer alle nich zu bieten. Fleißiges Kleechen in irgendwelchen Berufen halt, was keinen interessiert. Der Stadtklatsch dagegen schon und das sporadische Wissen über die Nichterschienenen.
        Das bleibt so ein gemütliches von Gleich zu Gleich.

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  4. Kinder sind großherzige Leser. (Wenn sie den lesen…). Sie können sich ja immerhin sagen: später werde ich auch son toller Held!
    Bludgeon ist leider, leider kein großherziger Leser: Der Held kann alles, die schönsten Weiber laufen ihm hinterher – ich kann nicht alles… – also ist das Buch Mist und der Held ein Scheißkerl.

    Werner Lindemanns Buch ist wunderbar und warmherzig geschrieben. Dabei wiederholt sich immer dieselbe Folge: Timm stellt irgendwas an / er, der Vater, denkt darüber nach und erinnert sich an seine schwere Jugend / und stellt schließlich fest, dass Timm doch schwer in Ordnung ist und recht hat.
    Und es ist das kritischste Buch über die DDR, das sich denken lässt. Kein Wunder, dass es jahrelang auf seine Veröffentlichung warten musste.
    Aber die DDR wird nicht so kritisiert, wie es bornierte Leute bis heute tun: Die bösen Bonzen usw… Nein. Warum ist es in der Speisegaststätte (wo alles so billig ist) so dreckig, dass Timm nicht dort essen will? Schmutzstarrende Tische unter den Fotos der Partei- und Staatsführung! Die auf irre Freßorgien zielenden Einkäufe vor Weihnachten…

    Ein feines Bonbon ist das Nachwort in Form eines Interviews mit dem inzwischen weltberühmten Sohn.

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    • Ich war Anno 90 doch kein Kind mehr! Deine Einleitung ist Murks.
      Der Rest auch, denn: Wenn 2 ein Buch lesen, dann kommen sie zu unterschiedlichen Eindrücken. Normal.
      Das Lindemann zu deinem Idol wurde, ist kurios, aber akzeptabel. Dass er meins nicht ist, sollte es auch sein. Davon wird die Welt nicht untergehen.

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