Oder: Wie der kleine Dakota zur Leseratte wurde
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Im Roberto-Blog der „Lebensnovellen“ (klick) lernte ich den Blog von Jules van der Ley (klick) kennen.
Und der animiert: Beschreibt doch mal, wie ihr an die Bücher kamt!
Tolle, einfache Idee – und Rums! Fliegt die Türe in die Kindheit wieder auf!
Das Nachdenken über- und Erinnern an- Buchtitel hat massenhaft Kontextgeschichten im Gepäck und alte Leute erzählen doch so gern und ausschweifend wie der alte Fontane, besonders beim Bloggen, in Ermangelung eigener Enkel, die sich das ansonsten hätten anhören müssen. Hui-jui-jui – das kann was werden!
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Das frühe Lesen, war ja keins. Es war Vorlesen durch andere und – in meinem Fall – schnell auswendig wissen, was da stand. Aber die Folgen waren immens!
Ich war ein kränkliches Kind: Gefühlt wurde bei mir im Kindergartenalter jeder Schnupfen zur Bronchitis und jede zweite Bronchitis zur Lungenentzündung. Und wenn ich das große Glück hatte, nicht wiedermal für Wochen ins gruslige Kinderkrankenhaus, das Hexenhaus der Oberschwester Hannelore, eingewiesen zu werden, dann lag ich halt zu Hause herum. Strenge Bettruhe! Und damit ein 3-6jähriger die einhält: Vorlesen durch Großmutter/väterlicherseits oder (wenn sie gerade auf Besuch zugegen war) auch durch Oma/mütterlicherseits. Das Tagesbett wurde auf das Sofa im Wohnzimmer verlagert; auch weil da der Plattenspieler in der Blumenwand stand. Und meine Märchenplatten daneben. Bedienen konnte ich den mit 4!
(Feinmotorik ahoi! Gefühlvolles Absenken der Nadel per Hand – einmal erklärt und gezeigt – kein Problem! Da lass mal so einen 8jährigen Grobmotoriker von heute ran! Von den Eltern kriegen die ja heute kaum noch irgendeinen Input. „Det soll erste Ma‘ allet die Kita bring‘! Und speta die Lehra! Det is die ihr Job! Die kring‘ det ja beßahld!“ Scheißzeiten halt.)
Der spielte zu 80% Märchenplatten und Kinderlieder. Die Eltern schleppten zwar allerhand Verdi, Puccini & Co an; hörten die aber vorwiegend, wenn ich schlief, bzw. nebenan schlafen sollte – und so bekam ich meine Geigensoundprägung durch die Tür zwischen beiden Zimmern mit. Altbau-Etage 1910. Zwischen Wohn-und Schlafzimmer die zweiflüglige Tür, die das Ganze früher mal zum Salon werden ließ. Geborgenheitsgefühl: Teddy im Arm, „Nabucco“ nebenan, und dann kommt doch irgendwann der Schlaf.
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Großmutter war immer da. Die wohnte ein Stockwerk tiefer. Hatte dort anderthalb abgetrennte Zimmer von der Hausmeisterwohnung. Wie das halt die KWV in den ewigen Zeiten sozialistischer Wohnraumknappheit so „mänädschde“. Eigentlich schlief sie nur da unten.
(Ich finde furchtbar, dass das heute wie ein Wahnsinnsprivileg klingt, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Die Omas in der Nähe! – Aber die Notwendigkeit, der Arbeit hinterherziehen zu müssen, hat die Heimatbindung und den Familienbezug quasi abgeschafft. Früher oder später werden wir alle Amerikaner. Doof. Arbeitsame ausbildungslose Heloten. Bücher können jetzt bereits auf den Mist. Kein Haushaltsauflöser gibt dir noch was dafür. Und dann noch „alte Schrift“?! Weg damit! Bei Booklooker tummeln sich die letzten lesenden Mohikaner. Gaukeln sich ihre Scheinwelt vor; so eine Goldschnittausgabe wäre noch was wert. – Die Generationen leben krass getrennte Leben, sehen sich, wenn’s hoch kommt 2x im Jahr. Haben verlernt miteinander umzugehen; reisen deshalb oft lieber ab als an … Es ist ein gesellschaftlicher Krebsschaden entstanden. ZEIT- und Spiegel-online machen sich einen Spaß draus, Platz zu schinden mit laaangen Ratgeberartikeln: Wie ich Weihnachten mit dem Afd-Opa überstehe. Ostern ohne Verwandte – auch mal schön! Usw. Jaja: Wie mich meinem/r rassistischen Onkel:in in die Parade fuhr. Bin ich Militarist:in, wenn ich den faschistoiden Terminus „Parade“ verwende? Ich hör schon auf.)
„Gib og den Schnurz. Ich werder woas vorlesen.“
Das waren noch unschuldig unideologische Zeiten damals. Mitten im ideologisch so überfrachteten Sozialismus von einst. Der Sozialismus überlebte nicht. Aber der Hang zum Dogmatismus existiert ungebrochen fort!
Die 3 Bilderbücher vom Kater Schnurz sind der ewige Platz 1 in meinen Erinnerungen: Sehr schön illustriert und in Versform geschrieben: Wenn du das 3x vorgelesen bekommen hattest, dann hattest du das drauf wie auch die Lieblings-Märchenplatten von den „Bremer Stadtmusikanten“, „Schneewittchen“ und von „Schneeweißchen und Rosenrot“, der Geschichte mit dem Bären, der ein verzauberter Förster war! Ich wollte Förster werden! Ich misstraute Krankenschwestern, Kinderärzten, die dich wegsperren, fremden Kindergärtnerinnen, bei denen du Vertretungstage überstehen musst, wenn deine gewohnte Gruppe „aufgeteilt“ wird… also ab in den Wald!
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Im gleichen Alter entdeckte ich das MOSAIK im Zeitungsständer. Das hatte sich wohl Vater für sich selbst gekauft, weil das Heft „Die Entführung der Suleika“ hieß. Nun musste er seine Traumfrau mit mir teilen. Wie das zuging, habe ich hier bereits beschrieben.
Ergänzen möchte ich das geschickte Leseverfahren meiner Eltern und Omas: Schnurz und altersgerechte Bilderbücher bekam ich im Volltext vorgelesen. Das Mosaik nicht, denn es vermittelte in seinem Erzählstil manches Drumherum an historischem Kontext, was Fahrt aus der Handlung nahm und ein 4,5,6jähriger eh nicht verstanden hätte. Also gab es ab und an Lesepausen „meines Personals“ in denen die nächste Doppelseite überflogen wurde und dann bekam ich altersgerecht nacherzählt, was da stand. Auswendig lernen konnte ich die Hefte also nicht wortgetreu; da jeder das ein bissel anders wiedergab; aber es war „spannend wie Sau“ die Unterschiede mitzukriegen!
Am Besten war es, wenn seltenerweise mal Vater Lust hatte, mir ein „Mosa‘“ vorzulesen: Dann bekam ich das ganze mit verstellten Stimmen -fast- vorgespielt! Und in seine Nacherzählung schlich sich auch manch deftiger Begriff ein, der in Muttis- oder Großmutters Nacherzählung niemals wiederkehrte. Ein Beispiel:
Großmutter/und Mutti-Variante:
„Da gibt sich Janos zu erkennen. Bogumil erschrickt, aber Janos schmeißt ihn von der Kutsche.“
Vati-Variante:
„Da gibt sich der Kutscher zu erkennen: „Kennst du mich noch?“ Es ist Janos! Und dann gibt’s einen Kinnhaken in die Fresse, dass der fette Bogumil von der Kutsche fliegt!“
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Mädchen- und Jungserzählung!
Den übernahm ich dann sofort, wenn ich Udo oder Conny mein neues Wissen weitergab. Die bekamen zu Hause viel weniger vorgelesen. Und die genossen deshalb meinen Vortrag im Papa-Stil. (Ich sah mich als Janos! Der war schlauer als Runkel, Vollbart-Träger; und der bekam schließlich auch Suleika zur Frau!) Vaters lebendiger Vortrag animierte mich zur Ergänzung „Und Bogumil flog in die Pferdeäppel!“ Superpointe für 4 bis 5 Jährige. Udo übersetzte für Conny simultan „Pferdescheiße“! Riesenspaß für alle! Und so wurden die prompt auch mit dem Mosa-Virus infiziert. Conny nicht ganz so sehr wie Udo; es war eben eher so ein Jungs-Ding, diese spätere Sammelleidenschaft.
Aber ohne die verstellten Stimmen und die lustigen Ritterregeln, von denen manche heute die woke Brut der Gegenwart zu Comic-Verbrennungen triggern würden, hätte die Begeisterung wohl schwerlich so lange angehalten, dass man als alter Sack 2015 noch begeistert in die MOSAIK Austellung nach Leipzig pilgert.
Wie die letzten beiden Hefte in die Sammlung kamen, hab ich hier bereits beschrieben.
Die 18 Bände Mosaik (Digedag-Serie von Hannes Hegen; der Zusatz ist wichtig, denn die Abrafaxe zählen nicht) behaupten bis heute locker ihren Ehrenplatz im „Schätze-Schrank“, in dem auch Felix Dahn und Paul Heyse stehen.
Pingback: Als ich Kind war, las ich … – Update III
Danke fürs Mitmachen und den ausführlichen Text. Witzig die Vorlesevarianten!
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Gern geschehen. Danke für’s Anstupsen.
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Der Text ist spitze!
Habe letzthin gelesen, dass bei manchen jüngeren Leuten die Fertilitätsrate sinkt, je weiter sie von den Großeltern weg wohnen! Wir haben den bis jetzt einzigen Enkel die halbe Woche direkt nebenan, das ist toll!
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Danke für’s Lob. genieß die Zeit. Hätte auch gern schon wieder abendliche Mosaik- oder Marsipulami-Lesestunden an Kinderbetten verbracht, oder auf dem Teppich die Playmobilburg aufgebaut, oder gemeinsam wieder alle Gojkofilme gucken! … Aber was nich‘ is… sollte besser auch nicht mehr werden.
Die sinkende Fertilitätsrate ist -sarkastisch gesprochen- kein Beinbruch mehr. In welche Schule könnte man den zukünftigen eventuellen Enkel denn noch guten Gewissens schicken?
Ganztagsschulen sind ein Synonym für geklaute Kindheit! Und einen sicheren Schulweg gibt es auch nicht mehr.
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Klasse Erinnerungsschreibe.
Du hast, vergessen wir die traurigen Gründe, Du hast Glück gehabt, dass man Dir so viel vorgelesen hatte. Das schafft einen wahren Fluss an inneren Bildern. Und das schöne Wort weist schon darauf hin, was daraus entsteht: die erste Bildung des kleinen Menschen.
Solche frühe Bildungsmassnahmen sterben aus.
Gebraucht werden Daddelwischfähigkeiten auf kleinen Bildschirmchen. Und der stete Wille ich derlei Abhängigkeiten freiwillig zu unterwerfen. Und wenn irgendwas schief haben stets die anderen die Schuld.
Besonders den ersten und zweiten Textblock in orange unterschreibe ich. Es geht bergab!
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