In Eiserner Zeit (1891)

EZ0Es wird lang. Mir ist mal wieder viel eingefallen. Beim Lesen und Musik hören. Reinhard Lakomy’s „Geheimes Leben“ trug mich von Erinnerung zu Erinnerung und von Einfall zu Einfall.

Lesestoff war das Trauerspiel „In Eiserner Zeit“ von 1891.

Ich habe nun auch den Dramatiker Spielhagen kennengelernt.

Ein Stück – passend zur Zeit. Damals und heute.

Ein Stück so anregend und aufregend in einem.

So perfekt unperfekt, dass es Gedankenlawinen befeuert.

Es ist ein gut gelungener Theaterversuch; kein sehr guter.

Das Drama hätte mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt, aber dass dem nicht so war, ist ebenfalls nachvollziehbar und wird im Folgenden erklärt.

1. Worum geht es?

Spielhagen verlegt die Handlung in die Befreiungskriege; ins 1813 wiederbesetzte Hamburg. Napoleon hatte sich nach seiner Russlandpleite erstaunlich schnell erholen können, sodass noch anderthalb Jahre Krieg notwendig wurden, um ihn aus Deutschland zu vertreiben. Marschall Davoust regiert mit harter Hand. Seine Soldateska setzt sich zusammen aus Offizieren mit ritterlichem Anstand und widerlichen Karrieristen (oben), sowie mauligen, kriegsmüden Bütteln und Soldaten (unten).EZ5

Die Einquartierung bescherte dem Senator Wilbek und seiner schönen Tochter Charlotte den sehr anständigen Marquis Gaston d’Ormond als Hausgast.

Charlottes Bruder Herrmann ist Freiheitskämpfer. Die Schwester verliebt sich in Gaston, den Feind, obwohl auch sie die patriotischen Ideale ihres Bruders teilt. Der Vater verarmt während der Kriegswirren und stirbt als erster.

Da Charlotte „die erste unter den Bürgerinnen“ ist, sind auch der Marschall selbst und sein fieser Adlatus Cambert scharf auf sie. Der disziplinierte Marquis ist ihnen im Weg. Gaston hat also auch Feinde im eigenen Lager.

Spielhagen führt in klassischen Dramenaufbau von 5 Akten die Spannungskurve „Schillermäßig“ in einen Abgrund – mit Trost.

Gaston wird per Intrige in die Subordination getrieben und standrechtlich erschossen. Am Tage des Abzugs der französischen Truppen, die nun Truppen König Ludwigs XVIII sind. Ein letztes Blutopfer. Napoleon down! Hamburg frei! Charlotte nimmt Gift. Herrmann kann seine tote Schwester beerdigen.

„Die ihr Hamburgs erste Bürgerin nanntet, wollte nicht seine Letzte sein; nicht werden zu der ihr sie gemacht haben würdet, bereits gemacht hattet…“,

schwingt sich Dr. Barbeyrac, der Hamburger Arzt mit Hugenottenwurzeln, zum pathetischen Schlusswort auf und hofft daran anknüpfend auf dermaleinst kommenden Weltfrieden und Gleichheit aller Völker.

Da wird viel „gewollt“, jedoch wirkt dieser Schlussmonolog seltsam platt.

Und dies aus der Feder so eines Meistererzählers, wie Spielhagen einer war?!

Warum bleibt der nicht beim Roman?

2.Warum wagen sich die Romanciers des späten 19. Jahrhunderts so häufig auf die Bretter, die die Welt bedeuten?

Freytag tat es, Heyse auch, Spielhagen ebenfalls: Der Goethe(Schiller)-Klaps!

Dichter ist man, wenn man seine Gestalten in Metren und Alexandrinern reden lässt und es vermag, das Ganze nicht wie „Reim dich oder ich fress dich“ klingen zu lassen. Das gilt als Niveaubeweis. So sehr, dass sich die Kultusministerien und scharenweise phantasielos feldwebelnde DeutschlehrerInnen bis heute nicht davon erholt haben. Schülergeneration um Schülergeneration wird mit Silbenzählen die Lust am Erbe ausgetrieben. Zur Strafe machen die dann Stars groß, die in übelster Knüttelreimerei „Hits“ in den Äther plärren: Scheiß auf den Reim!

Romanerzeuger sind Schriftsteller. Die Schmuddelkinder der Poetik. Schriftstellerei musste sich erst durchsetzen, um Anerkennung ringen. Als brave deutsche Lakaienseelen zergliedern und zerschwafeln sie alles, was sich ihren Federn so entringt, um wissenschaftlich zu wirken:

Sollte man auf auktorale Erzähler verzichten? Warum ist ein Witz ein Witz? Wie real darf Realismus sein, um nicht tendenziös zu wirken? Was ist typisch deutsch am Roman deutscher Autoren im Vergleich zu Dickens und Tolstoi? Ist das bei Freytag dickens’scher Humor oder nicht?…

Die Nation der Kammerdiener und Oberlehrer. (E. Jünger)

Bis ran an den ersten Weltkrieg versuchten sich zahlreiche Vertreter der Branche nun an laaaangen Versdichtungen oder eben gar Theaterstücken a la Schiller und Goethe. Ruhm war diesen Versuchen keiner beschieden. Kurzzeitig hie und da ein paar Aufführungen. Lob für eine oder zwei Saisonen, aber das war’s. Zu epigonal, nachgemacht, unerheblich im Inhalt – wurde oft von den grauen Eminenzen der Theaterkritik konstatiert.

Auch Spielhagens Stück reiht sich da ein.

(Es wird ein paarmal aufgeführt, ohne Sensation zu sein und verschwindet schneller als seine ruhmreichen Romane im Nirvana vergessener Werke.)

Schwung ins Theaterleben kam erst wieder durch die Naturalisten und Expressionisten und Aufreger-Stücke wie die vom Hauptmann Gerhard oder gar Wedekinds „Lulu“-Skandal, an dessen Vertonung schließlich final noch Lou Reed samt Metallica-Unterstützung grandios scheiterte.

3. Was lässt das Stück nun so „perfekt unperfekt“ erscheinen?

Spielhagen kommt mit seinem Drama 1891 um die Ecke. 20 Jahre nach Reichsgründung. Im Jubiläumssiegestaumel, der bereits seit dem Sedans-Tag im September zuvor alle Rekorde bricht.

EZ1

War Deutschland 1891 zu sehr auf Erbfeindschaft gepolt, um Spielhagens Denkanstoß goutieren zu können?

Das ist nicht so simpel eingleisig bewertbar: 20 Jahre Sieg! Gravelotte- Sedan-Paris-Versailles! Heil dir im Siegerkranz! Es gibt Sammelbilder für die Jugend, mit Szenen aus allen Gefechten der drei Einigungskriege, Zeitzeugenerinnerungsnovellen fast aller beteiligter Offiziere von 1871 als Buch oder in Westermanns Monatsheften: „Vor Paris“, „Sturm“, „Der Trompeter von Gravelotte“, „Horch was jammert dort im Busche, horch was klagt in finstrer Nacht…“, Lieder, Gemälde, Lineolfiguren – endlos.

Und es gibt Versöhnungsversuche „unter der Hand“. Reichlich reist die Schickeria Deutschlands nach Paris. Alle Jahre wieder. Reichlich finden französische Fräuleins als Gouvernanten und Gesellschafterinnen Anstellung in den Gutshäusern zwischen Maas und Memel. Studenten wählen Auslandssemester, weil die Sorbonne irgendwie dazugehört, wenn man von sich reden machen will. Malaufträge gehen hin und her zwischen Düsseldorfer Schule und Pariser Salonmalern zur Ausschmückung der Villen der Stahlbarone hüben wie drüben.

EZ3

Abenteurer wie der junge Ernst Jünger wählen die Fremdenlegion.

Die „Erbfeindschaft“ ist also nur die eine Seite der Medaille. Der Ruf der beeindruckenden Modemetropole Paris bleibt davon unberührt. Die orientalische Exotik französisch Nordafrikas verführt auch Deutsche zuhauf zum Träumen mittels französischer Autoren. Deutschland boykottiert keinen Dumas- oder Jules Verne-Roman! Auch Balzac und Zola erleben Lederausgaben beim „Erbfeind“.

EZ2

Die Kolonien bringen eine dritte Schiene ins schwierige Verhältnis zum Nachbarn: Streit an der Kameruner Grenze. Ungeklärte Interessenlage in Marokko. Rangelei um Einfluss in Istambul.

Und Spielhagen beweist sich als unangepasster Denker ohne Hausmacht; ohne Gleichgesinnte, ohne „Spielhagen’sche Schule“:

Idealistisch fordert er sinngemäß:

„Liebet eure Feinde!“

„Eines Tages wird es wahr, das Prinzip der Brüderlichkeit, welches unsere Zeiten so sehr in den Schmutz zogen.“

Aber realistisch weiß er eben auch:

„Liebe, über die Grenzen von Stand und historischer Rivalität hinweg, kann es nur im Jenseits geben!“

Ausgerechnet am exemplarischen Schicksal einer der am schwersten gebeutelten Städte Deutschlands während der Zwangsherrschaft Napoleons; Hamburg, will er sein Schärflein zur Aussöhnung beitragen.

Der Realist Spielhagen baut einen sehr logischen Handlungsverlauf und scheitert auf hohem Niveau – am Idealisten Spielhagen, dem er das letzte Wort überlässt.

Er ist NICHT bei den Hurra-Patrioten. Aber er ist Preuße. Und Kind seiner Zeit.

Er verheddert sich in den Widersprüchen zwischen hohem moralischen Anspruch, wie ihn die Gymnasien lehren; und gesellschaftlich festgefügten Grenzen, die unbeeindruckt von rund 150 Jahren Aufklärung eben fortbestehen.

Wie zeigt sich das?

Es werden ein paar Spuren zu großen Vorbildern aus Weimar gelegt:

Eine Bürgerreputation vor dem allgewaltigen Davoust rechtfertigt ihre berechtigten Ansprüche mit „Halten zu Gnaden!“ – Altgediente Deutschlehrer zucken zusammen: Schiller! Kabale und Liebe!

Nur ist es dort eine Szene der Selbstermächtigung des Bürgers Miller gegenüber dem adligen Präsidenten, der der Bürgerwohnung verwiesen wird. Hier bei Spielhagen ist es eine jämmerliche Szene des schüchternen Anfragens und sich-schnell-wieder-hinausweisen-lassens.

EZ6Charlotte erlebt ihren Vater im Niedergang, kann ihn aus Haft erretten, aber nicht aus seinem rasanten gesundheitlichen Verfall. Die Zeiten überfordern ihn. Er stirbt. Sie bleibt als starke Tochter zunächst noch übrig. Luise Millerin zwo!

Charlotte ist sogar die bessere, emanzipiertere Frauenfigur. Aber zwischen Luise und Charlotte liegen eben auch hundert Jahre literarische und gesellschaftliche Weiterentwicklung. Und der Meister selbst hat im Unterschied zu seinem Langzeitidol Goethe ein sehr gutes Verhältnis zu mindestens einer seiner Töchter: Antonie, die ebenfalls schriftstellernde Mädchenschul-Lehrerin.

Die Franzosen sind charakterlich zwischen gut und böse perfekt gemischt. Unter den deutschen Figuren fehlt ein Schuft. Somit bekommt das Stück eben doch eine Schlagseite: Fiese Lustmolche gibt es nur „drüben“?! Da fehlts an Ausgewogenheit beider Seiten. Er hätte an Raabes „Im Siegerkranz“ denken sollen!

Auch Schiller hatte seinen Wurm im Stück, den bürgerlichen Schmierlappen auf Seiten des amoralischen Adels.

Am Schluss entwickelt sich eine Szene, die fast Rettung/Flucht des verurteilten Gaston verspricht zur katharsischen Katastrophe. Nun ja. Gaston sieht ein, dass er sich gegen Cambert nicht hätte wehren dürfen – und verzichtet auf Flucht, weil er anschließend hätte ehrlos weiterleben müssen. Das ist realistisch, aber nicht DIE GROSSE – den Zuschauer überwältigende – Überraschung.

Gaston als Will Smith seiner Zeit. Zuhauen und hinterher zerknirscht herumwinseln.

Ausgerechnet der alte Ehrenkodex sich duellierender Adliger wird hier zum Katalysator für einen unbefleckten Heldentod in Konsequenz und Anstand. Obwohl doch sonst alle Realisten in ihren Romanen so oft und so facettenreich den feudalen Ehrenrummel zum Würgetuch so vieler Träumer machten, denen man modern zu leben verwehrt.

Aber abgesehen von jener eher zufälligen Will Smith Parallele:

4. Was macht das Stück so aktuell, dass es mich hier schreiben lässt?

Diese „unmögliche“ Liebe von Gaston und Charlotte provoziert Interpretation:

Wenn der Feind im Land ist – und sich da solch‘ unerhörtes Verlöbnis anbahnt: Was denken die Nachbarn? Wie soll das werden? Wo sollen die beiden glücklich leben können? Welche Sorte Spießrutenlauf kommt auf zukünftige Kinder zu?EZ4

Die Stimmung in Deutschland 1814/15 ist aufgeheizt. NICHTS Französisches wird mehr geduldet. Sogar die Alltagsmode macht eine Rolle rückwärts: Schau dir die Kleider und Frisuren der Damen an: Hie Empire – hie Biedermeier! Steif und zugeknöpft ist sittsam. Frei und luftig ist Verluderung!

Gaston in Hamburg als Exilant? Mit „deutscher Metze“ am Arm? Eine Chance auf Leben in Anstand hätten sie nicht, wenn bei jedem Spaziergang alles vor ihnen ausspuckt.

Charlotte in Frankreich? Als deutsche, bürgerliche Sauerkraut-Braut des französischen Marquis?

Eher wird er von seiner Mutter enterbt und beide müssten armselig in irgendeiner Großstadt über die Runden kommen!

Da bleibt nur der Tod und das Wiedersehen „drüben“ in der andern Welt.

Aber zusätzlich: Ist Spielhagens Plot vernünftig? War Hamburg eine gute Wahl? Wäre nicht gerade auch für den Adelskritiker Spielhagen besser gewesen, einen Franzosen bürgerlicher Herkunft auf eine Kleinbürgertochter treffen zu lassen (in irgendeinem Kaff)?

Davoust hat sooooviel Dreck am Stecken in Bezug auf Hamburg, Napoleon unterband den Englandhandel, das Lebenselixier der Stadt; Davoust ließ verhaften und erschießen, was sich bei Schmuggel oder nur despektierlich Reden erwischen ließ, die einquartierten Landser aus den Gossen Frankreichs führten sich dem entsprechend auf in den Wohnungen der unfreiwilligen Gastgeber. Die Stadt musste Schanzarbeiter stellen, um die Stadt zu befestigen – gegen die Befreier, also die eigenen Leute…

Und dann soll dieses geknechtete Volk die Toleranz aufbringen und Unterschiede machen – zwischen einem Gaston d’Ormont und einem Marschall Davoust? Zwischen Büttel 1 und Büttel 3?

Plötzlich soll die Bibel funktionieren? Liebet eure Feinde?

1815 wurde Frankreich das Elsass gelassen. Trotzdem wurde es 1870 wieder zur Gefahr.

Wenn man nun 1891 in dieser Aufführung saß – mehr als ein gähnendes Achselzucken auf Seiten des männlichen Publikums war da nicht zu erwarten. Die Damenwelt hatte was zum Seufzen. Arme Charlotte! Fertig.

5. Hält das Stück Perspektivwechsel aus?

Was, wenn ein Enkel Spielhagens diese Handlung ins besetzte Riga, Charkow, Smolensk 1943 versetzt hätte? Freiherr von Rübenacker liebt Tatjana Iwanowna, deren Bruder Oleg Partisan ist?

Max Walter Schulz (DDR) schrieb sowas ähnliches ende der 70er Jahre „Der Soldat und die Frau“. Allerdings ohne den Bruder Partisan. In Literaturseminaren reichlich zerredet, erregte es beim Alltagslesepublikum keinerlei Aufsehen.

GI Joe liebt Nugyen Pin Pon, die Schwester eines Viet Cong Offiziers 1973. Würde sie von ihrem Bruder erschossen oder Joe standrechtlich?

Marlon Brando könnte hier mitreden, wegen seiner Rolle in „Apocalypse now“, wegen seiner tahitianischen Frau, wegen der Indianerin auf seiner Oscarverleihung.

Können ukrainisch-russische Halb-und Halb-Ehen in Luhansk und Donezk und Charkiw aushalten, was da jetzt läuft?

Drei Katastrophen später – NACH Davoust in Hamburg – ist das Völkerverständnis nun soweit gediehen, dass man heute in Deutschland einer internationalen Misch-Ehe keinerlei Bedenken mehr entgegen bringt. Wenn heute ein Gaston seine Charlotte freit – soll er doch! Und wenn statt dessen ein Sergej oder ein Laszlo anklopft? Auch egal.

Erbfeindschaften haben sich erledigt. Für UNS. Kurios auffällig ist jedoch, dass die Kontakte nach Frankreich zahlenmäßig deutlich dürftiger bleiben als die nach England oder Amerika.

Wir denken heute „angloamerikanisch“; (mal mehr, mal weniger), jedoch nicht frankophil.

Viele gehen heut mit ihrer mehr oder weniger unbewiesenen Weltoffenheit missionarisch plump hausieren. Aber wenn deren Tochter Charlotte im Treppenhaus, in der Klasse oder beim Kellnern ihren Abdullah aufgabelt, dann – beißen auch sie klamm heimlich, ganz fest die Zähne zusammen beim „Willkommen“ und denken: Hoffentlich geht das  schnell vorbei gut.

Die Prophezeiung von Dr. Barbeyrac über die große finale Völkerverständigung geistert durch Immanuel Kants- und Adam Smiths Werk; sie erlebte Wiederauferstehung in den Parolen der französischen Revolutionen und im Werk von Marx, Engels und Gorbatschow.

Sie erwieß sich jedes Mal als zu schwach, die kommenden Katastrophen zu verhindern.

Aber man klammert sich halt doch dann und wann an die schöne Hoffnung vom kommenden Staat der Edelmenschen. – Wenigstens solange, bis man dem nächsten Arschloch gegenübersteht.

Amen.

8 Gedanken zu “In Eiserner Zeit (1891)

  1. Dein 2. Abschnitt ist komplett falsch.
    Die Romanciers der Spielhagenzeit hatten drei gute Gründe, Theaterstücke zu schreiben:
    1. Geld
    2. Viel Geld
    3. Unmengen von Geld!
    Wenn er nur von seinen Buchverkäufen hätte leben müssen, wäre selbst Spielhagen verhungert. Er lebte (wie auch Raabe) von den Vorabdrucken seiner Romane in Zeitungen und Zeitschriften. Spielhagens große Romane erschienen parallel im Berliner Tageblatt und in der Neuen Freien Presse (Wien) und in einem halben Dutzend anderer Tageszeitungen.
    Aber Gustav Freytag lebte von seinen „Journalisten“. Damals grassierte das Sprichwort: „Die Deutschen haben zwei Komödien. Lessings Minna und Freytags Journalisten.“ Gerhart Hauptmanns naturalistische Stücke werden anfangs nichts eingebracht haben, schon weil sie zuerst nur nichtöffentlich vom Verein Freie Bühne aufgeführt wurden. Aber dann schrieb er als viertes Stück „Kollege Crampton“, eine Klamotte um einen besoffenen Kunstprofessor, und konnte sich im Riesengebirge ein Haus bauen. Sudermann hätte lieber Romane geschrieben, aber sein Melodram „Heimat“ wurde in der ganzen Welt gespielt und er konnte sich ein Schloss kaufen.
    Und das war alles noch gar nichts gegen Adolph L’Arronge, der mit der Posse „Mein Leopold“ so viel Geld verdiente, dass er 1881 für 900.000, – Mark das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, das heutige Deutsche Theater (und mit ihm einen großen Gebäudekomplex in der Schumannstraße) kaufen konnte.
    Um 1895 gab es fast so viel Theater wie 1960 Kinos. Das Theater war das Massenmedium seiner Zeit und Spielhagen wollte sich – erst recht für seine pazifistische Botschaft – dieses Mediums bedienen.

    Gefällt 1 Person

    • Pazifistische Botschaft is ja nu auch verkehrt. Denn niemand wird vom Kampf hier abgehalten.
      Lediglich Vernunft soll siegen. Irgendwann einmal.
      Aber DANKE für die Details zu den Einkommen.
      Mein zweiter Abschnitt stimmt trotzdem auch.
      Hab ich (nicht wörtlich) so aus’ner Vorlesung behalten.
      Als Bonmot war damals noch dabei, das T. Mann mal irgendwo gejammert haben soll, dass ihm kein Gedicht gelingt. “Der Epiker mit der Sehnsucht nach dem Vers!“
      Die “Journalisten“ und die “Heimat“ haben nicht überdauert.
      “Bieberpelz“ und “Weber“ aber schon.
      Die gesamte Kohorte der poetischen Realisten inclusive Ebers und Dahn haben auf der Bühne nichts hinterlassen.
      Da klafft zwischen den Weimarer Schlingeln und Hauptmann ein Scheunentorgroßes Loch.

      Like

  2. Nein.
    Was soll das hier mit „Metren und Alexandrinern“, mit „der Sehnsucht nach dem Vers“. In eiserner Zeit ist ebenso wenig wie die anderen Stücke Spielhagens ein Versdrama.

    Das Stück wurde 1889 in Hamburg mit Erfolg uraufgeführt. Spielhagen dramatisierte seinen Roman Noblesse oblige, der auf einer wahren Begebenheit beruhte: Henning schreibt: „Eine dem Dichter unbekannte Dame, die den Roman Was will das werden? lieben gelernt hatte, gab ihm einen vergilbten, wundervoll geschriebenen Brief zum Geschenk“ den ein französischer Offizier im Juli 1812 aus dem Biwak bei Smolensk an seine Hamburger Freundin gerichtet hatte. „Der Leser findet die wörtliche Übersetzung dieses merkwürdigen Briefes im ersten Kapitel“ von Noblesse oblige.
    Und natürlich ist es ein ganz pazifistisches Stück. Noch nicht einmal die Befreiung von der Fremdherrschaft rechtfertigt für Spielhagen den Kampf. Eindrucksvoller als das Pathos von Spielhagens alter ego, dem Hugenotten Barbeyrac, am Ende ist seine traurige Ironie im Gespräch mit Hochwächter im ersten Akt.
    Noch nicht einmal die Befreiung von der Fremdherrschaft rechtfertigt für Spielhagen den Kampf. Das ist das aktuelle an dem Stück. Die Franzosen saßen so lange in Hamburg, weil sich die Sieger nicht einigen konnte: Den Hauptanteil am Sieg über Napoleon beanspruchte der frühere napoleonische Marschall Bernadotte, der zukünftige König von Schweden. Er sollte das bisher dänische Norwegen bekommen, und Dänemark wollte als Entschädigung Hamburg. Das Schicksal Hamburgs wurde – ganz unabhängig n irgendwelchen „Befreiungskämpfen“ – am grünen Tisch entschieden. Dasselbe gilt für die Ukraine. Sinnloses sterben…

    Like

    • Cool einfach bissel down.
      Pazifismus ins Stück zu interpretieren bleibt Quark. Davous wird als Hassfigur vorgeführt. Charlotte ist mit ihrem Bruder d’accord, das die “Franken“ wegmüssen. Aber der Gaston is halt so nett.
      Der Doktor ist ein Märchenonkel, sein Schlussmonolog wirkt wie eine Epistel aus dem Friedenskampf der siechenden DDR.
      Phrasen, die man hinnimmt, weil man sie zur Genüge gelehrt bekam. Aber auf dem Kasernenhof heißt es dann schrill: Vergessen Sie alles, was Sie bisher gelernt haben!
      Spielhagen war begeisterter Reservist!
      Das mit den Metren ist so zu verstehen:
      Die Weimarer hielten sie durch. Die Romantiker noch teilweise.
      Dahn und Heyse dichteten noch im Göteschdiel für Bühne und Prachtbände FÜRS DEUTSCHE HAUS. Spielhagen versuchte sich in seinen Gedichten ähnlich. Weimarklaps. Fürs Theater verzichtete er auf diese Qual. Er war nu alt und merkte, dass er nicht die lyrischen Talente eines Storm oder Fontane besaß. Die hatten es zu Lebzeiten in die Lehrbücher geschafft. Die Schriftstellerei war inzwischen auch als Kunst akzeptiert. Da durfte man getrost auch auf der Bühne grade Sätze wagen.
      Wenn man so will, waren diesbezüglich die Freytagstücke Wegbereiter.

      Like

  3. 1859 stand Spielhagen vor dem Nichts. Er war jetzt dreißig Jahre alt, hatte gerade seine Stellung als Englischlehrer an einer Leipziger Schule verloren und hatte außer einer Novelle, die mit finanziellem Zuschuss seiner Freunde in einem obskuren Verlag erschienen war, und ein paar Übersetzungen nichts vorzuweisen. Als man ihn bei der Großen Mobilmachung einberief, wusste er ohnehin nicht wohin. In Erfurt lernte er eine Frau kennen, eine junge Witwe mit zwei Kindern. Sollte diese Beziehung wieder an seiner Mittellosigkeit scheitern? Und da überlegte er eine Sekunde Offizier zu werden… Die Nachrichten aus Italien – wo nach einer Schlacht der Erdboden vom Blut gefärbt wurde, so dass man einen gerade entwickelten synthetischen Farbstoff nach diesem Ort benannte, MAGENTA, – drangen nur langsam nach Erfurt.
    Das war noch vor den Kriegen von 1864 bis 1871, deren Schrecken Spielhagen so beschrieb wie kein anderer Autor. Und auch die Hoffnung, den so schwer errungenen Sieg im Kampf um die Einheit mit einem Sieg im Kampf um die Freiheit zu krönen, erwies sich – in dem bismarckschen Reich der Unterdrückung der Arbeiter und der Minderheiten, des ständigen Spielens mit Kriegs- und Bürgerkriegsdrohung, des Antisemitismus der Treitschke und Stoecker – als gescheitert.

    Diese kurze Überlegung Anno 1859, die Spielhagen selbst mittelte, um seine damalige Verzweiflung und Aussichtslosigkeit zu zeigen: Das meint bludgeon, wenn er schreibt: „Spielhagen war begeisterter Reservist!“

    In einer Champagnerlaune stellte Spielhagen einmal die Odyssee seines Freundes und Arztes Wilhelm Loewe auf seiner Flucht nach der gescheiterten Revolution 1848/49 im klassischen Versmaß dar. Ansonsten schrieb er kleine, feine, novellenartige Gedichte, erzählte Träume in Gedichten… Man kann darüber streiten, ob die zwei Bände Spielhagenscher Dichtung gut sind. Epigonal sind sie nicht.

    Mit bludgeon muss man Nachsicht haben. Ich glaube, er überschlägt manchmal ein paar Seiten, wenn er die Schallplatte umdreht. Ich könnte das nicht, lesen und dabei Musik hören.

    Gefällt 1 Person

    • Hahaha, der Schluss! 🙂 nicht schlecht. So hab ichs als Schüler mit der Pflichtliteratur tatsächlich gemacht: Alle 3 Seiten 2 Sätze lesen. Reichte immer. Auf meinem Nachttisch wartete stets besseres, als der Lehrplankrimskrams!

      Falls hier einer wirklich bei unserer Haarspalterei als Dritter mitliest, muss der den Eindruck haben, hier streiten sich zwei Muppet Show Oldies in der Loge über „des Kaisers Bart“, mangels Kriegserlebnis.
      Früher ging das so:
      „Die Marine hats verkackt!“
      „Neee, die Luftwaffe!“
      „Nee, die Marine!“
      „Du hast se ja nich alle! Die Flieger-Heinis!“

      Also zum dritten Mal: Pazifismus und Spielhagen ist das, was ich oben schon schrieb.
      Bin immerwieder verblüfft über dein fotokopistisches Gedächtnis – aber auch über deine zurechtgezwirbelten Schlussfolgerungen.

      Spielhagen lässt Legionen sympatischer Offiziere in seinen Romanen auftreten, die die verluderten Fälle immer mal wieder vor Ruin oder Duell warnen. Spielhagen hat als Reservist so gut funktioniert, dass ihn sein Vorgesetzter anwerben wollte und Kürzung der Wartezeit versprach Premier Leutnant werden zu können.
      Einigungskriege „deren Schrecken er beschrieb wie kein zweiter“: ????
      Meinst du die Schlussepisode von „Allzeit voran!“ auf dem Schlachtfeld von Gravelotte nach der Schlacht?
      Niemand verflucht da Krieg! Das ist Melancholie, keine Animation zu Wehrdienstverweigerung.
      SF war Preuße und Beamtensohn. Da war man traditionsbewusst! Und er kannte keine industriellen Kriege. Das blieb ihm erspart.Die Einigungskriege sah er wie alle damals noch als recht ritterlich geführt an.
      Die Einigung verflucht er auch nicht.
      Zu Remarque, Böll, Lorentzen ist der Weg noch weit.

      Im Vergleich zu dem kargen bissel Kriegserwähnung bei Spielhagen ist Hanns von Zobeltitz der interessantere Fall. Der schrieb “Sieg“ – und darin geht es um 1870/71 mit zahlreichen Untertönen, die schon eher einen „halben“ Remarque ergeben. Sozusagen.

      Spielhagen verlor nicht seine Lehrerstelle, sondern er schmiss hin, weil der neue Chef ein Kleingeist war. In meinen Augen ist das ein GROSSER Unterschied.

      Der fleißige Vielleser mit dem archivarischen Gehirn ist früher mal auf den Ruskin gestoßen, der ihn beeindruckt hat. Und seither müssen für ihn alle seine Helden halbe oder ganze Kommunisten sein – oder eben wenigstens Pazifisten.

      PEACE!

      Like

  4. Spielhagens Vater war Baumeister und kein „echter“ preußischer Beamter. Anfang 1860 versuchte Spielhagen, seine preußische Staatsangehörigkeit loszuwerden – was an der Trägheit der hannoverschen Behörden scheiterte.
    Ich empfehle die eindrucksvolle, grausame Kriegsschilderung aus Allzeit voran:

    https://www.projekt-gutenberg.org/spielhag/allzeit/chap038.html

    und das vielleicht erste Anti-Kriegs-Stück In eiserner Zeit:

    https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nnc1.cu50333402&view=1up&seq=3&skin=2021

    Ich hoffe, die Links funktionieren.

    Мир

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar