Scherbenkunde

oder: Aus – der Traum!

oder eben einfach: Rio & Ich

Ach, ist das ein Graus, sich diesem Thema zu stellen. Mit 64 Jahren. Aber ich wills mal bewältigen. Ich muss sortieren. Und dies hier ist der gefühlt 54te Versuch. Könnte lang werden. Da gilt es soooo viel abzuwägen!

Ich habe jede Woche eine andere Meinung dazu. Es ist verhext. Je nach dem, welche Songs mir gerade in den Sinn kommen. Vieles hält dem Test der Zeit nicht stand. Aber da sind auch all die anderen Lieder – die richtige Nuggets sind.

Die waren wichtig. Soooo wichtig! Damals in den 80ern in der Ehemaligen. Unvergessen das Konzert von Rio Reiser -noch vor dem Mauerfall- in Ostberlin und der Massen-Chor beim Refrain von „Der Traum ist aus“:

Tausend Ossis grölen beseelt: DIESES LAND IST ES NICHT! (Klick und genieß es ab 2:50 Minute)

Geschrieben war das einst gegen ein ganz anderes System, jetzt war es eine Unmutshymne gegen das Regime „der alten Männer“ von Wandlitz.

Er war so wohltuend provokant in einer bleiernen Zeit.

„Leute, lasst das Glotzen sein! Kommt herüber! Reiht euch ein!“ war DIE Demo-Losung im Oktober 89 als noch alles auf der Kippe stand; und sie klang, wie von Rio formuliert: Könnte glatt aus „Keine Macht für niemand!“ stammen.

Das ist zwar NICHT der Fall; aber die Wendemacher gaben allzeit zu erkennen, wer sie sozialisierte: Ton Steine Scherben und die Fehlfarben.

TSS fuhren so ab ’83 verspäteten Ruhm ein und endlich auch ein bisschen Geld, als Rio seine Solokarriere startete und begann, den Schuldenberg abzutragen. Zuvor hatten sie sich unter völliger Verkennung aller wirtschaftlichen Zusammenhänge ja existenziell komplett in die Scheiße geritten.

Ihre revolutionäre Phase vom Anfang der 70er war da bei der Band schon lange „durch“. In den 70ern herrschte ja striktes Scherben-Embargo auf allen Sendern von drühm. Und das Ost-Radio sah auch keine Veranlassung, puren Anarchie-Gesängen Airplay zu gewähren.

Reiser war ein Poet des Unmuts, des Aufstandes. Ganz und gar unblumig mittenrein in die Zeit des Tangerine Dream Wach-Komas und der Pril-Blumen. Und wie alle „Macher“, wusste er nicht, wohin es hätte hinterher gehen sollen, „wenn die Waffen schweigen“.  

Zehn Jahre später brachten seine frühen Songs den Stagnationsfrust und den unklaren Rebellenwust in unseren Köpfen in treffenden Versen zum Ausdruck. Das saß sofort. Konnte ständig zitiert werden. Wir inhalierten die „Auswahl I“, „Scherben“ und eben die beiden Solo-Alben. Was man halt so greifen konnte, dank ahnungsloser Omas, die da von der Westreise Konterbande mitbrachten, ohne kontrolliert worden zu sein. „Stiller Raum! Stille Nacht! Alles schläft! Nur WIR sind wach!“

Wir hielten uns dafür! Yeahr!

Aber wie wach war ER? Er träumte, wie in „Steig ein“ besungen, von einem Land ohne Geld. Er wollte „Keine Macht für niemand.“ Und streiken bis zum Sieg „und UNS gehört die Fabriiiiik!“ – und dann? Planwirtschaft kann er nicht gemeint haben! Je älter du wirst, umso mehr werden dir all die Leerstellen peinlich bewusst.

Eigentlich hätte ich ihn schon damals als guten Kumpel in die Arme nehmen wollen, wegen:

„Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen, welche Mörder mich regiern, welche Räuber mich bestehln!“

Geil Alta! Voll auf die 12! – „In jeder Stadt, in jedem Land! Mach’ne Faust aus deiner Hand!“ 1988!

(Die Zeit der aufkeimenden „Revolutionären Situation“. Aber eben nicht, wie im Lehrbuch stand, im bösen „Mopol-Kannibalismus“ drühm, sondern hier bei uns; den „Siegern der Geschichte“, die laut Gorbatschow in einer Art „Agonie eines reaktionären Sozialismus‘“ lebten.)

Aber zugleich hätt‘ ich auch mit ihm drüber streiten wollen:

Keine Macht für niemand! Is aber och Kokolores! – Soll’n dann wer’n? Wenn keenor mehr sachd, wo’s langgeht? Hammvwer uns alle lieb, weil wir ja so gleich sind und so fair und selbstlos, oder was? Höre off!

Hättsd ma in Prora dienen soll’n! Die Parade von Schlagschlüsselschnauzen da hätte dir -eins fix drei- klar jemachd, was jeworden wär!

Wenn DIE kapiern, dasse keenor mehr einsammelt, wenn se Scheiße baun, dann hastes erläbd!

Bleib mir vom Halse mit Anarchie! Bakunin, Bakunin?! Höhöhö! Hör mir of! Das war ä Russe! Gucke dir Russland an! Dort wird lauter so ä Quark jeborn!

Anarchie-Gelüste haben mich nie gestreift.

„Ich bin der Antichrist! Ich bin ein Anarchist! Weiß nicht, was ich will, aber weiß was ich kriege! Ich will zerstörn – und dann mach ich die Fliege. Dennn iiiiiich bin diiiiiie Anarchiiiiiie!“ (Sex Pistols)

Punk mochte ich, weil er frech alle Phrasen durch den Wolf drehte, auch nicht weiterwusste, jedoch in der Übertreibung auch sich selbst auf die Schippe nahm: Wir meinen das nicht so ernst – aber wir kotzen uns frei! Selbstironie jedoch können die alternativen Kreise des Westens ja bis heute nicht.

Dieses bierernste Links-Sprech, dessen Ohrenzeugen wir manchmal via Westfernsehen oder -radio wurden, ließ uns im Osten kopfschüttelnd kalt. Wir warteten auf die Musik nach dem „Wortbeitrag“, vom „Zerstören der Strukturen in der Musik“ und ähnlichen Wolkigkeiten. Und wie ernst und weise die sich gaben, wenn die so’n Blech erzählten! Wenn man richtig Pech hatte, dann spielten die nach solchen Salbadereien auch noch die Düüls oder Franz K – und da brach man die Aufnahme nach spätestens 90 Sekunden ab und spulte zurück. Wie konnte sich so eine Käse-Combo ausgerechnet nach Franz Kafka benennen! (Naja, heute gibt es so’n Wimmer-Duo, das Glasperlenspiel heißt. Hermann H! Guck nicht runter! Hör weg!)

Die Polit-Songs der Scherben erinnern daran – und auch an ihren dauerwiederholten einzigen TV Talk-Auftritt aus den frühen 70ern: „…und deshalb werde ich mal jetzt diesen Tisch zerstören!“ (Sprachs und drosch dann mit der Axt auf ner Tischplatte herum. Und dann ging der Tisch nicht kaputt! Peiiiinlich! Ein Werbespot von damals weiß: „Akryl ist klar wie Glasss! Aber viiiiel härter“. Der Reklame-Onkel da im Spot war klüger als der Sponti. Symptomatisch. Der Aufruhr schon im Ansatz Murks.

Die Rio-Solo Sachen, wie „Wer, wenn nicht wir“, „Alles Lüge“, und vor allem „Blinder Passagier“ wirken weiser. Vermeiden die perspektivischen Sackgassen der Anfangsjahre. Man reift halt, macht Kohle mit Niveau und brennt schließlich aus. Rio in noch jungen Jahren.

Nach dem „Blinden Passagier“ gierte ich nach der „Rio III“. Als ich sie hatte, war ich verblüfft, wie ausgelaugt mein Wende-Herold da wirkte: Das war textlich UND musikalisch „nüschd“.

In einem Silly-Interview hatte kurz zuvor Tamara Danz erzählt, dass Rio hätte ihre „Februar“-LP betexten sollen. Aber was er so anbot, sei nüschd gewesen, deshalb habe man entschieden, Gundermann zu fragen.

Freunde feierten dann später Rios „Durch die Wand“. Mich störte seine PDS-Mitgliedschaft und seine peinlich-ärmliche Wendekritik mit der Neuversion des „Königs von Deutschland“. Mitte der 90er hatte auch ich die Kohl-Kamarilla mehr als satt. Aber der Song war einfach nicht gut; Sillys „Traumpaar“ um Längen besser.

Als Rio starb, fiel mir deshalb Nik Cohn ein und sein großartiger Elvis-Nachruf von anno‘77:

„Er starb gerade noch rechtzeitig, bevor er sein eigenes Denkmal völlig ruinierte.“

Wo wäre Rio heute?

Würde man ihn „einfangen“ wie Lindenberg? Rio barfuß im Schloß Bellevue – die Steinmeierpranke schüttelnd – mit Verdienstkreuz am Sakko? Oder zu später Stunde Walzer tanzend mit Iris Berben oder Claudia Roth auf der Berlinale?

Würden die ihn überhaupt noch kennen wollen, wenn er weiterhin „Der Traum ist aus“ live zu Gehör brächte und die Masse freudig einstimmt: Dieses Land ist es nicht! -?!

Bliebe er bei DER Version? Wie plump misslänge dann die eventuelle Neuversion?

Oder zöge er ergraut und fast kahl, den umgetexteten „Rauchhaussong“ schmetternd und Müllcontainer abfackelnd mit dem Connewitzer Underground durch die Rosa-Luxemburg-Straße von Leipzig?

Fragen über Fragen…

Ich hätte mir gewünscht, dass er all diesen West-Puhdys (Gröni, Campino, Lindi, Peter…) hätte zeigen können, wie man in Würde altern kann: Mit einem feinen, melancholischen, selbstreflexiven Werk ala Robbie Robertson, Ian Hunter oder Bob Weir auf deutsch.

„Die Barrikaden sind leer…“, „So wie wir waren…“, „Sie johlen und sie jammern…“, „Dr. Sommer, wann kommst du wieder…“, „Auf und davon…“, „Kohl ist fort, nun sind sie alle so…“, „Komm großer schwarzer Vogel“ (Hirsch-Tribute) und „Stiller Raum (revisited)“.

Ein jeder malt sein Rio-Bild.

 „Auf dieser Insel ist nichts los. Hier wächst auf allen Steinen Moos. Hier sind die Zwerge riesengroß! Hau mit mir ab, mach die Leinen los.“

Für mich immernoch sein bester Song!

Er empfahl seinerzeit das Auswandern aus Westberlin. Und zog nach Schleswig-Holstein. Damals Stoltenberg-County. Der war der Friesen-Dregger! Das (damals) konservativste Bundesland abseits von Bayern! Brat mir einen Storch!

Nun: „Abhauen“ musste ich nie. Ich blieb im Osten und veränderte mich mit ihm. „Bundi“ zwoter Klasse. Im „Anders-Land“; das dem Westen ein Buch mit 7 Siegeln blieb: So uninteressant wie die Mongolei.

Alta! Was is‘ das jetzt geworden! Nun ist mir doch mehr Lobenswertes eingefallen, als ich anfangs dachte.

Aber hören muss ich ihn irgendwie doch nicht mehr. „Dated“ eben.

Schlaf gut, Rio! Bleibst ein guter! Denn du hattest keine Chance – ein Joschka zu werden! Prost!

12 Gedanken zu “Scherbenkunde

  1. Für die pubertierenden Weltverbesserer waren RR und TSS die Folien für eigene visionäre (illusionäre) Projektionen. 1970. 1971. Natürlich lieferten TSS die Begleitmusik auch bei Hausbesetzungen und ähnlichen Begebenheiten.

    Wenn die Nacht am tiefsten 1975 läutete den Schwanengesang ein. Die Wacheren hatten am Busen der Realität genippt und erkannt, dass der in manchen Texten versprühte Optimismus allenfalls für schöne Illusionen herhalten kann und keinesfalls für den harten Alltag.

    Die vielen Demos hier im Umkreis; da lebten die alten Lieder nochmals auf. Zeitlich passend waren nur noch wenige. Einige Ewiggestrige sind lächerlich aufgefallen, die verschiedene Dinge mit ihren Vätern noch immer nicht klargekriegt hatten. Aber sonst?

    1983. Der Turm stürzt ein. Das war fast ein Mitgröler. Aber sonst? Und dann Rio I. König von Deutschland. Kneif mich mal. Rio? der ausm Quartier Latin in Berlin? Nee.

    Was meinerseits bleibt, ist die Dankbarkeit durch verschiedene persönliche Begegnungen. (Danke für die Unterkunft. Waldemarstrasse und so weiter!) und viele prima Konzerte. Und es bleiben noch immer einige gültige Lieder

    Der Kampf geht weiter (wenn auch anders!)
    Macht kaputt, was Euch kaputtmacht
    Schritt für Schritt ins Paradies
    Komm, schlaf bei mir
    Samstag Nachmittag
    Guten Morgen
    Halt´ dich an deiner Liebe fest
    Wenn die Nacht am tiefsten

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      • Pankow habe ich erst spät kennengelernt. Hätten damals aber auch gut gepasst.

        Inzwischen glaube ich, dass RR langsam niedergegangen ist (der Alk ist wahrlich kein Schalk) und Andre Herzberg hat seine beste Zeit auch gesehen.
        Beide Sänger sind mit relativ kurzen Halbwertzeiten geschlagen. Immer wieder lebt(e) das was auf. Tendenz schwächer werdend.
        Das Konzert von Pankow letztes Jahr war wirklich toll. Aber ich möchte kein weiteres Konzert dieser Band besuchen.

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      • Ja, so isses. Weiß auch nicht, ob ich da zur Abschiedstour noch hinmuss.

        Vllt aus historischer Verbundenheit.

        Herzberg tourte mit Zöllner und Michaelis als „Die 3 Highligen“ durch den Osten. (Drei Sänger von 3 sehr unterschiedlich gepolten Bands) Ich sah sie auf ihrer zweiten Tour in Potsdam (sehr gut) und auf der dritten in Neuruppin (Müde, lustlos wirkend)

        Und Herzberg markierte „den bedeutenden“, was auch eher peinliche Wirkungen erzeugte.

        Aber seine beiden Stücke „Verkäufer“ und „Kiefernlied“ sind nun mal die Highlights, da kann nichts von den andern beiden mit.

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  2. Dieses Land ist nicht meins. Der Traum ist aus.

    Falls ich dich richtig interpretiere kann ich sehr gut verstehen, wenn du schreibst: ………Ach, ist das ein Graus, sich diesem Thema zu stellen.

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    • Willkommen. Der Graus bezog sich zunächst nur auf TSS und meine verblichene große Begeisterung von einst. Dass ich am Ende bei meinem „Nichtangekommen Sein“ gelandet bin, entstand ganz ungeplant. Aber eigentlich wärs auch vorhersehbar gewesen.
      TSS sind bei mir mit massenweise Wendeerinnerungen verknüpft.
      Der DDR weine ich keine Träne nach. Aber mit der Zeit merkte ich mehr und mehr: Es is‘ jetzt halt nur anders doof.

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  3. Es ist gut möglich, das ich meine persönlichen Motive in deinen Beitrag hinein gedacht habe. In meinem Geburtsland wollte ich nie leben, dennoch würde es mich hart treffen, wenn……..

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  4. Ich hätte den Halbsatz sehr einfach und oberflächlich weitergeführt mit:

    ………..es dieses Land nicht mehr gäbe.

    Deine sprühenden Gedanken als Sphinx haben mich aber sehr nachdenklich gemacht und ich frage mich: Was liegt denn da unter meiner Oberfläche?

    Und ich spüre, das wird weh tun. Nutzt ja aber alles nichts. Wat mut, dat mut. Back to the roots.

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