Zwischen allen Stühlen

Spielhagen „Ein neuer Pharao“ (1890)

Schon wieder ein Monolog über eine alte Schwarte? Wer braucht denn sowas?

Vermutlich niemand heutzutage mehr.

Aber das Niederschreiben von Leseeindrücken festigt sie. Manches Licht geht erst beim Darüber Schreiben auf!

Und wenn das dann im Blog steht, vergisst sich das nicht so leicht wieder – und ich kann selber hier „nachschlagen“, wenn das nächste Werk vom gleichen/ähnlichen Autor ansteht.

Denn all die alten Ideenklau-Entdeckungen sind Lesers Freude.

Jedenfalls seh ich das so.

Es ist nun gut einen Monat her, dass ich „Ein neuer Pharao“ von Spielhagen las. Zum ersten Mal. Es ist also eine neue Bekanntschaft für mich. Und es ist eine schwierige. Das Gelesene geht in mir um. Kommt nicht zur Ruhe. Fehlversuch reiht sich an Fehlversuch, den Eindrücken schreibend gerecht zu werden.

Kennst du so janusköpfige Bücher, die in einem furchtbar stümperhaft zusammengetackerten Plot einen philosophischen Tiefgang vom feinsten präsentieren? Der Autor ringt dermaßen um „letzte Weisheiten“, dass die Kraft oder die Ausdauer, oder einfach nur die Lust fehlt, auch die Handlungsfabel so zu entwickeln, dass es fetzt.

  • Da gab es in meiner Lesebiografie „Den Nachtzug nach Lissabon“, der mir immer als erster einfällt. Auf den passt das perfekt.
  • Raabes „Die Leute aus dem Wald“. Ich schrieb damals, als ich unter dem Eindruck dieses Werkes stand: Ein Steinbruch der Gedanken und Assoziationen.
  • Heyses „Über allen Gipfeln“ gehört auch dazu.

Jammerschade, weil man als Leser die Schwächen merkt und sich automatisch wünscht: Aaaaaach! Warum haste jetzt nicht beschrieben, wie…?! Wo bleibt das Motiv für diese Aktion?! Einer, der so aufwächst, reagiert doch später nicht sooooo! Wenn die so selbstlos Almosen verteilt, wovon lebt sie selbst? Usw.

Spielhagens „Pharao“ ist einerseits ein Werk der Unlust. Aber auch eine harte, treffende Zeitbilanz. Und auf der dritten Ebene zeigt sich ein ratloser Autor, der mit seinen eigenen Seismographen hadert, die ihn bis hier her -in sein 60. Lebensjahr- geführt haben.

Hier ringt einer mit sich, der weiß, wie sehr er zwischen allen Stühlen sitzt, dem aber die freiwerdenden Sitzplätze hier und da nicht gefallen. – Oh! Das kenn‘ ich sooooo gut!

(Watt is‘, wennste nürjendswo dazupass‘!)

1. Biographischer Hintergrund:

FS1Spielhagen wurde 1829 geboren und erlebte seinen Durchbruch 1861, also relativ spät. Sein Erfolg, der ihn ganz nach oben trug und zum meistgelesenen poetischen Realisten seiner Zeit machte, hielt ungefährdet bis ca.1880 an. Die 80er Jahre des Kaiserreiches sind innenpolitisch eine Zeit der Stagnation. (Alter Kaiser im Weiter-so-Modus macht was alter Kanzler will.) Bismarck reagiert auf Zeitläufe, aber auch ihm kommt das Gespür abhanden, das ihn in den 60ern trug. Reaktionärer Konservativismus macht sich breit, wie in der DDR unter der Ägide der „Alten Männer von Wandlitz“.

Spielhagen wird angefeindet, weil er die Reichstagsreden des kritischen Liberalen Eduard Lasker in Abendgesellschaften der Berliner Schickeria, bestehend vorwiegend aus Aristokraten, verteidigt; weil der Hofprediger Stöcker medial gegen ihn Front macht, er sei ein „Judenfreund“ und ein neuer Antisemitismus kurz aber deutlich in der „Besseren Gesellschaft“ Berlins en Voge ist, bis Kronprinz Friedrich Wilhelm demonstrativ mit Hofstaat und in Uniform die Synagoge besucht und Stöcker in die Wüste schickt. Aber die böse Idee ist in der Welt. Stöcker gab das Stichwort in Preußen. Das Gerede vom verderblichen Einfluss der Juden hat die Salons erreicht.

Berthold Auerbach stirbt. Spielhagen gibt in „am Wege“ Einblicke in seine lange Freundschaft mit ihm. Auerbach ist in den 80ern bereits ein Vergessener. Er war Bestseller Autor in den 50ern und 60ern. Und er ist Jude. Spielhagen verwaltet seinen Nachlass. Auch das trägt ihm Naserümpfen hinter vorgehaltenen Fächern ein.

Spielhagen bekommt ein Reichstagsmandat der Liberalen angeboten – und lehnt ab. Auch auf dieser Seite ist man enttäuscht und schüttelt die Köpfe.

Spielhagen äußert sich in einem Essay gegen die Todesstrafe: Als alle Gazetten Zeter und Mordio schreien, weil ein Attentat auf den spanischen König misslang und nun der Prozess gegen die Täter die Schlagzeilen bestimmt.

Wenn der Dichter die Attentäter schonen will, dann ist er selber einer!

Nu wird er auch noch zum „Anarchisten“ gestempelt!

Wenn du solchen Mist über dich in den Zeitungen liest, die Einladungen zu den Abendgesellschaften weniger werden, sich die Besucher deiner eigenen Abende dezimieren mit furchtbar dürftigen Ausreden, wenn dich Leute auf der Straße anfangen zu übersehen, die dir bisher mit lautem „Hallo“ aufdringlich auf die Pelle rückten – dann kommt dir schonmal die Galle hoch!

2. Der historische Zeitgeist

Und wenn dann vollends dein Hoffnungsträger Kaiser Friedrich III. nach nur 99 Tagen Regentschaft 1888 das Zeitliche segnet und sein missratener Sprössling an die Macht kommt, der noch gestriger regieren will als der Opa, dann spricht es aus dir:

„Da war ein neuer Pharao, der wusste nichts von Joseph…“

Der Satz muss irgendwo in so „Bibel-Nebenschriften“, dem „anderen“ Buch Mose stehen. Spielhagen fand ihn passend und machte daraus einen Buchtitel. Er umging so die Malaise der Majestätsbeleidigung, die seinerzeit noch unter (Haft-)Strafe stand.

In einer Zeit, in der es keine Hoffnung auf Veränderung zum Guten gibt, kann man nur hoffen, dass da irgendwo bereits ein Joseph herumtischlert, der eine Maria freien wird – und diese gebärt dann (unbefleckt oder nicht) einen Messias, der endlich eine neue Idee bereitstellt!

Sind das eventuell Bebel oder Liebknecht? Spielhagen ringt mit der neuen Kraft „Sozialdemokratie“, er findet ihre Ansprüche berechtigt, er zweifelt aber an ihren Vertretern, die zu plump-, zu hetzerisch zu „jakobinisch“ auftreten und sobald sie in besseren Verhältnissen landen -neureich geworden- die alten Ideale selbst verraten. So erzeugt er im „Pharao“ die Figur des verstoßenen Sohnes Hartmut Ilicius, der die Partei als Trittbrett benutzte, um „schaumschlagend“ nach „oben“ zu gelangen; und auch sonst den typischen Hazzardeur abgibt: Durch Skrupellosigkeit zum Licht; wie einst sein Vater, der ihn verleugnet.

(Ilium -Eingeweide ->Triebmenschen. Oder aber „illegitim“ bzw. „ill“ krank/verdorben. Passt alles auf die gesamte Familie im Roman.)

Womit wir beim Ideengehalt des Buches angelangt sind:

3. Der philosophische Steinbruch

Normalerweise offeriert uns FS in seinen Werken einen Protagonisten als irrende, suchende Lichtgestalt, deren moralische Überlegenheit erst entsteht. Der Leser geht diese Entwicklung mit. Hier nun ist die Lichtgestalt ein alter Mann.

Obwohl FS die Zeitumstände von 1890 ohrfeigen will, verlegt er die Handlung ins Jahr 1878 zurück, die Zeit der beiden Kaiser-Wilhelm-Attentate, die im Roman auch eine Rolle spielen und die Auslöser des Sozialistengesetzes werden. FS will zeigen, wie all das anfing, was 1890 plagt:

Das Schwadronieren, die Denkfaulheit, die Hohlheit und somit Zukunftslosigkeit des bestehenden Reiches.

FS5Im Mittelpunkt des Geschehens plagen sich ein paar junge Leute mit Liebesverirrungen und scheiternden Eheanbahnungen. „Heiratspolitik“ mal wieder. Nur als Vehikel. Das Interessante sind die Ränder des Geschehens.

Der besagte alte Mann, der die Moral an sich verkörpert, ist eine Randfigur. Wie die Moral realiter ja stets ein Schattendasein führt.

Er ist ein Baron von Alden, der 1848 Renegat- und somit revolutionär war; ein edler Denker, der 1849 nach Amerika emigrierte und nun 1878 unter falschem Namen (Schmidt/Smith) als Familien-Faktotum einer amerikanischen Millionärsfamilie mit dieser nach Berlin heimkehrt.

Er (=die Moral) war Hauslehrer der inzwischen erwachsenen Kinder des Millionärs Curtis, eines früheren Sklavenhändlers und Abenteurers. Sie benötigen ihn eigentlich nicht mehr; jedoch schleppt ihn die Familie eben so mit. Ein Bild von symbolischer Kraft.

Er (=die Moral) heiratete einst die falsche Frau, die seinen Ideen nicht gewachsen war.

Er (=die Moral) vertraute einst dem falschen Freund Ilicius; der ihm in Abwesenheit Frau und Vermögen nahm – und somit die Möglichkeit, selbstständig wirken zu können.

Somit klammert sich der Baron als personifizierte Moral an den kränkelnden Ralph Curtis, den Sohn des Millionärs, der, anders als sein skrupelloser Vater, die Anlagen zum Edelmenschen (dank Smith’scher Erziehung) zwar in sich trägt, jedoch eine Art Zeitlupentod stirbt. Ergo: Was Smith (= die Moral) erschuf, ist nicht lebensfähig in einem Umfeld der Trixer und Spekulanten.

Smith trifft zusätzlich auf den Hausarzt Dr. Brunn. Ebenfalls alter 48er, jedoch einer, der, geblendet von den Siegen, an das neue Deutschland glaubt; der noch auf Reformen hofft und selbst dafür im Reichstag kämpft. Interessant der Name: Brunn – nicht Brunnen oder Brunnenbauer. Brunn = halbfertig. Kein Quell der Erneuerung. Wird noch zuende gebaut? Ruiniert? Jedenfalls auf halbem Wege „steckengeblieben“.

FS4 (2)Aber auch Smith ist kein Überflieger. Obwohl er Spielhagens alter Ego entspricht. Sein Scheitern ist Ausdruck spielhagenscher Selbstkritik: Passe ich noch dazu? Wo ist „Joseph“? Wie lange wird man noch ausharren müssen – bis sich was zum Guten ändert?

Das wird besonders deutlich, als er per längerem Monolog den schlitzohrigen Hartmut Ilicius „ins Gebet“ nimmt. Er sieht in ihm einen intelligenten jungen Mann und appelliert an ihn – zu vergeben, zu verzichten, durch ehrliche, auf sich gestellte Arbeit einen Neustart anzugehen. Ilicius hört zu, hält aus – und stellt nach seinem Abgang hinter der Tür nur fest:

Ich muss hier fort! In diesem Hause spinnen sie ja alle!

Wie oft werden solche Iliciusse vor mir gesessen haben? Einige haben’s mir gezeigt. (Immerhin: Fans gabs auch!)

Die Moral (Smith) hat nichts erreicht. Hartmut Ilicius scheitert zwar wenig später ebenfalls, jedoch sind da noch so viele andere schwadronierende, junge Leute übrig, über die FS beide Curtis-Kinder zu unterschiedlicher Zeit urteilen lässt:FS3

„Schneidig. Adrett. Gepflegt. Aufgeschnappte Phrasen nachplappernd. Sich auf Papas Geld verlassend. Denken die irgendwann mal selbst?“

Hach. Alles so aktuell! Dieser Post könnte endlos werden. Drum brems‘ ich mich hier.

Andere Spielhagenromane sind perfekter ausgeführt, hier aber ist er weltanschaulich am brisantesten. Der Böll, der Grass, der Kehlmann seiner Zeit.

Mehr als nur’n Buch gelesen … (2)

Hammer oder Amboss sein!

Oder eher: Hammer UND Amboss?

Entscheide!

Unfreiwillig komisch, wenn ein Boomer diese Frage stellt. Wir sind die Generation Karriereverzicht. Nennenswert charismatische Politiker, Rocker, Schauspieler zwischen 1957 und 1964 geboren? Fehlanzeige.

DSC02995-002spielhagenSpielhagen stellte die Frage 1868 mit seinem vierten und höchstwahrscheinlich besten Roman, der genauso hieß.

„Hammer und Amboss“; Staackmann Verlag Leipzig; unzählige Auflagen bis 1930. Anfangs chic gebunden; später immer liebloser ediert.

War sein Sensationsroman „Problematische Naturen“ von 1861 praktisch seine Variante von Gustav Freytags „Soll und Haben“ – in BESSER! – so war „Hammer und Amboss“ sein „Hungerpastor“, ebenfalls in BESSER! Schon allein deshalb, weil es nicht um einen Theologenwerdegang „im Winkel“, sondern um eine weitaus zeitgemäßere Karriere in der Metropole geht.

Allerdings durchläuft Georg Hartwig bei Spielhagen relativ ähnliche Etappen orientierungsloser Suche wie Raabes Hans Unwirsch. Erfolgreich – aber weit weg von der Familientradition.

Da die Parallelen auch Wilhelm Raabe auffielen, wurde er ein ähnlicher Spielhagenfeind wie Freytag.

Spielhagen war in den genannten Fällen das eindeutig bessere Erzähltalent. Er gewann stets an der Ladenkasse, was sich in Auflagenanzahl und -höhe niederschlug.

Das Identifizieren des Lesers mit den Haupthelden fällt bedeutend leichter, als mit den allzu tugendhaften beiden Philistern bei Freytag und Raabe.

Georg Hartwig in „Hammer und Amboss“ – wäre der deutsche Film auf seiner Suche nach ernsten Themen nicht so Nazi-fixiert, wäre das längst verfilmt.

Ein besserer Name hätte sich für DIESE Figur in DIESEM Plot nicht finden lassen. Er ist ein Drachentöter im übertragenen Sinne(Georg) und „hart“ und „weich“(Hartwig) in Personalunion.

Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der liebt und hasst, der sich in Fehler verrennt, kämpft und durch Fleißattacken wieder herauswurstelt. Und er ist ein Beobachter mit Scharfblick. Ein Kritiker seiner Zeit. Kein nachmärzlicher Adels-Lakai! Sondern ein Selfmademan, der, da er „von unten auf“ kommt, schließlich auch als Unternehmer soziale Verantwortung übernimmt. Das deutsche Gegenstück zu den Manchesterkapitalisten Englands. Idealistisch überhöht.

Es war mein zweiter Spielhagen. 1982 gekauft und gelesen. NDW-Zeit. Die Fahne ein reichliches Jahr erst her. – Jedoch: Reservisten-Intermezzo Pflicht vor dem zweiten Studienjahr: Nochmal 6 Wochen NVA. Da wurde alles kaum Vernarbte wieder aufgerissen – und der Hader mit der Entscheidung, ob das Studium überhaupt das richtige wäre, ging in die nächste Runde! Raus! Weg! Aber – verreck! – wohin nur?!

Mit 22 Jahren unter die 17jährigen Ungedienten an irgend’ner Berufsschule? Mit 25 dann Lebensende am Schraubstock im VEB Dingsbums? No way!

Und ich schlage diesen Roman auf und lese, wie Georg Hartwig kurz vor dem Abi von der Schule fliegt – und ausbricht! Weg! Fort! Bloß kein Lakai sein!

Booooaaarrrrr! Dieser alte Schmöker da schien mir mein nicht gelebtes Leben erzählen zu wollen!

Auch dass er Zuflucht findet bei Malte von Zehren, dem letzten „tollen“ Landjunker von Rügen, dem „Pascher-König“, der sich an nichts hält, außer an die Vorstellungswelt der Vorfahren, beeindruckt:

Es gibt kein Problem, das sich nicht durch’ne Kugel zur rechten Zeit lösen ließe!

Stärke statt Gewinsel!

Ketten werden knapper! (Renft’73)

Stoß auf die Tür aus Stahl! Die Tür, die in den Frühling führt! (Renft’74; Kult’82)

Ich will leben! Drum steig ich aus – und zwar HIER! (Vera Kaah’81)

Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar! … (Grauzone’81)

Ich war Georg Hartwig!

Jedenfalls – solange ich Band I las.

Die Malte-Kapitel gehen runter wie Öl! Spannend. Ein Spirituosen-Robin Hood auf Rügen.

Immense Einnahmen, Aushalten seines Bruders, des Steuer-Rathes Zehren; der sonst mies vom Staat bezahlt ein elendes Dasein würde führen müssen. Weiiit weg vom Lebensstandard derer von Zehren!

Aber dieser Schreiberling ist angefault von „Korrektheit“; und er hat keinen Mumm; will nicht mit hinabgezogen werden, wenn „alles mal rauskommt“ und so verrät der schwache- den starken Bruder. Dem drohen nun Verhaftung und Entehrung, drum liefert er sich einen wirklichen Kampf mit den Gendarmen, bei dem die Zehrenburg in Flammen aufgeht. Als die Jagd endet, fällt ein letzter Schuss, mit dem sich Malte von Zehren die weitere staatliche Entwürdigung erspart. Georg ist zu jung, um den gleichen Weg zu gehen. Komplize/Knecht/Faktotum des Pascherkönigs gewesen zu sein – das bringt 7 Jahre Zuchthaus.

Nun ist der Schulabbrecher ganz unten – jedoch „von unten auf“ erleben wir seinen Aufstieg mit.

Er muss erstmal begreifen, dass er auf einem Ritt in eine Art anarchistisches Märchenland war und nun das gesellschaftliche Korsett begreifen.

Und dann geht es in jahrelanger Plackerei „nach oben“:

Häftling; Industriearbeiter (Kesselschmied); sich isolierender Abendschüler, Ingenieur; Schwiegersohn des Kommerzienrathes Streber, dessen Tochter Hermine eine jener gelungenen Spielhagen-Feen ist; Unternehmerschwiegersohn und Erbe; Witwer; in zweiter Ehe dann Schwiegersohn seines Ziehvaters, des dritten von Zehren; des Zuchthausdirektors.

Dieser hatte erkannt, wie verderblich der Einfluss seines ältesten Bruders hier „an einer jungen Seele“ gewirkt hatte; so sieht er es als Pflicht, ein Zehren-Verschulden wieder gutzumachen: Er erleichtert Georg die Haftbedingungen auf eine pädagogische Art. Schwer Arbeiten einerseits; guter Lesestoff für die Abende als Futter für den Kopp; an den Wochenenden dann eine Art „Freigang bei Knast-Direktors“ – Kaffee-Runde im Familienkreis mit tiefgründigen Gesprächen, die Georg da abholen, wo er steht:

„Nirgendwo wird Jugend so planvoll verbogen wie bei uns.“

Ob mit der Knute oder mit rhetorischen Wattebällchen – der Satz stimmt einfach immer!

In den Hermine-Episoden arbeitet Spielhagen sich ein weiteres Mal an seinem privaten „Hedda-Komplex“ ab; hier gestaltet er sich die leidenschaftliche Beziehung zuende, die er einst abbrechen musste. Voller Zuneigung, Seelenverwandtschaft und Zärtlichkeit. Als sie stirbt und Paula ins Spiel kommt, ist das ein bedeutend „abgetrockneteres“ Verhältnis. Seine Theresa-Ehe. Paula ist die kluge Ratgeberin, nicht die gewitzte, erotische Elfe.

Die drei Zehrenbrüder sind eine gar auffällige Parallele zu den drei Götz-Brüdern bei Raabe im „Hungerpastor“ von 1863.

Bei Raabe, wie bei Spielhagen gilt: ein „Wildling“, ein Schlappschwanz vom Finanzamt, ein selbstloser Förderer.

„Götz“ ist eindimensional deftig gemeint: Götz von Berlichingen. Typen, die die Welt am Arsche lecken kann. Bzw. der Typ in der Mitte kann dir eher selbst den selbigen… Der drastische Raabe.

Spielhagen hat den vieldeutigeren Namen voraus:

Von Zehren.

fs4Ein ehemaliges Raubrittergeschlecht, das sich von den Tränen(Zähren) der Umgebung ernährte; die Mägde missbrauchte, die Bauern schlug, die Händler plünderte… nach Zeiten sitzen sie auf ihren Resten dahinschmelzenden Reichtums und zehren ihn auf… sie zehren von ihrem alten Ruf, der diesem oder jenem einen wohlklingenden Staatsposten bringt, aber sie vollbringen nichts von Dauer. Die Zeit zehrt sie aus und auf. Sie haben abgewirtschaftet. Ihre Zeit ist um!

Spielhagen, der zu spät gekommene 48er, wird hier ganz und gar bildhaft. Er lässt den typischsten Adelsvertreter alten Schlages mannhaft, aber als Verbrecher, untergehen.

Die lange Etappe des Sich-empor -Arbeitens wird real nachvollziehbar erzählt, ist aber nicht ganz frei von Unwahrscheinlichkeiten.

  • Da ist die Zuchthaushaft, die mit jeder Buchseite mehr einem Sanatorienaufenthalt ähnelt – mit vollumfänglicher Chefarztbetreuung. Zuchthausdirektor von Zehren adoptiert Georg nahezu.
  • fs3Da ist die Kesselschmiederei im Lokomotivenwerk; die erste Darstellung von Fabrikarbeit in einem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts! Der Krach wird geschildert. Aber die Schattenseiten verschwiegen – oder nicht gewusst. Kein Arbeitsschutz; massenhafte Ertaubungen. Georg hämmert hier zwei Jahre mit und seinem Gehör tut das nichts! Nun ja. Es gibt so Lemmy-Kilmister-Typen, Richie Blackmore oder Buzz Dee Baur von Knorkator, die sind Tinnitus gefeit. Georg Hartwig muss so einer gewesen sein!
  • Georg umgeht das Bewohnen einer Mietskaserne im Wedding, indem er im Unland einer Großbaustelle, deren Investor verschwand, unbehelligt in einem halbfertigen Bau „instandbesetzt“ ungestört wohnen und abends studieren kann – um später „etwas sein zu können“.
  • Spielhagen isoliert seinen Georg also ganz bewusst vom verderblichen Einfluss asozialer Mithäftlinge während der Haft, als auch vom Gruppenzwang alkoholkranker Arbeiter in der Stehkneipe.

Stattdessen besucht Georg einen Jugendfreund, der mit Weib und Kind sauber geblieben, in so einem von Schmutz starrenden, dritten Hinterhof wohnt und sich da heraussparen will. Dermaleinst. Die Schilderung dieser Heloten-Unterbringung Anno 1868 ist ebenfalls ein unerhörtes Novum in der deutschen Literatur.

fs215 Stunden Arbeit und Hungerlohn. Heraussparen? Wie soll das gehen? Nur mit Sparsamkeit? Georg weiß inzwischen, dass eher Bildung dazu gehört um „fortzukommen“. Arbeiterbildungsvereine entstehen gerade. Jedoch sind diese Selbsthilfevereine mit ihren Alphabetisierungsangeboten nichts für den ehemaligen Fast-Abiturienten.

Und es gibt in jener Zeit, so ungeheuerlich das klingt, durchaus Beispiele von Industriearbeitern, die, weil sie durch Zuverlässigkeit und Fleiß auffielen, Förderung erfuhren und Ingenieure wurden; Patente entwickelten konnten auf Grund von Arbeitserfahrung. Allerdings kannst du diese Beispiele suchen, wie die Lotto-Gewinner unter Volksmassen. Georg wird so einer.

Er errettet das bereits halb ruinierte Werk seines verstorbenen Schwiegervaters Streber, indem er die Belegschaft zu Teilhabern macht, die dank Gewinnbeteiligung Ansporn haben, mehr verdienen, in besseren Wohnsiedlungen wohnen können, als für die Zeit typisch ist.

Hier schießt Spielhagen als Schöngeist widersprüchlich übers Ziel hinaus. Sein Idealismus opfert hier den Realismus auf. Er ist eben doch eher bei Goethe und dessen Edelmenschensehnsucht als bei Marx.

Dieses Happyend des menschenfreundlichen Industriellen ist 1869 Wunschdenken pur; irgendwo zwischen Lassalle und Saint-Simon und zum Scheitern verurteilt, führte jedoch 80 Jahre später in eine Sozialpartnerschaft, die „Wohlstand für alle“ propagierte; mehrere Jahrzehnte auch möglich erscheinen ließ und gegenwärtig vor der Auflösung steht. (Das Unternehmertum hatte 1945 in den Abgrund gesehen und ging im Westen vorübergehend auf Nummer Sicher; gönnte seinen Heloten ein kleines Stück vom Kuchen. Ab 1990 jedoch kehrte der Größenwahn zurück.)

Nun simmer wieder beim Georg Hartwig des Anfangs, bei Wohnungsnot und unbezahlten Überstunden. Die soziale Schere klafft. Die Masse säuft, wie die Arbeiter im alten Wedding; und (politische) Bildung fehlt – wie damals. Auch wenn jetzt alle das Smartboard anbeten, wie früher die Madonnen von Tschenstochau oder Lourdes.

Lemminge.

Mehr als nur’n Buch gelesen…(1)

Es ist Frühling. Und so’ne gewisse Sehnsucht verlässt uns Männer wohl nie. Schön, wenn es einen Autor gibt, der für dich leidet. Dann liest du das – und alles bleibt gut. Ob es mit der anderen eventuell sehr gut geworden wäre, wirst du nie erfahren. Egal. Du machst keine Fehler. Die Ehe hält.

Du hattest Futter für den Kopf. Nicht nur für die hormonelle Seite.

Tom Liwa taucht aus der Erinnerung auf:

Und die Frau, die ihr Leben
mit Dir teilt und Dich liebt –
manchmal ist sie Dir peinlich
und dann denkst Du es gibt
eine bessere Liebe für Dich
und dann fühlst Du Dich schlecht
und du hoffst, dass sie es nicht merken wird
na klar sie merkt es erst recht.

Für die linke Spur zu langsam
Für die rechte Spur zu schnell
Entlang der immergleichen
Leitplanken, Schilder und Zeichen

Spielhagen hat aus dieser Sehnsucht ein Lebenswerk gemacht, das ihn trug, und zu Lebzeiten zum meistgelesenen Autor Deutschlands und zum meistgelesenen deutschen Autor Russlands werden ließ. Also überall da, wo die Schwerenöter wohnen.

Aber Spielhagen machte aus seiner Teenie-Sehnsucht nach den entblößten Nacken unter Hochsteckfrisuren und dem schwebenden Gang jener Elfen in langen weißen Kleidern in Gutshausparks nicht nur Liebesschmöker, sondern ausgefeilte Gesellschaftsromane, die „Zeugnis ablegen“ von einer hochherrschaftlichen Zeit, die rammdösig in Richtung Abgrund fuhr. Er wartete damit nicht, wie ein gewisser Fontane bis zum Spätwerk.

Spielhagen sah scharf hin und legte manchem Protagonisten deutliche Sätze in den Mund. Ob 1862 oder 1890. Vor – oder – nach der Reichsgründung.

„Es wird zu Kriegen kommen, die all das zerstören, wofür Deutschland steht, was über die Jahrhunderte geschaffen wurde.“ (aus „Ein neuer Pharao“; 1890)

EZ6Die Einheit der Nation war ihm wichtig. Nötig. Seit 1815 überfällig. Jedoch –

Die Idee war gut – doch die Ausführung ließ zu wünschen übrig. Die pfuschten da ein Kraftwerk zusammen, das überhitzte; da die Ingenieure das Geruppel im Inneren überhörten, die Hände in den Schoß legten und lediglich hofften, dass es gut gehen möge. Das mag in der Gegenwart geradezu schrecklich aktuell wirken.

Wenn du einem Staat angehörst, in dem wichtige Reformen unterbleiben, dann kannst du nur Reißaus nehmen, auswandern; weit genug weg! Oder du musst mit all den Lemmingen um dich her mit nach unten – runter von der Klippe.

Spielhagen wurde mein Begleiter. Niemand hatte ihn empfohlen. Niemand kannte ihn. Und fast niemand wollte ihn kennenlernen, wenn ich ihn empfahl.

Ich hatte ihn 1981 im Antiquariat selbst entdeckt. Die beiden Bände standen hinter der Kasse im Regal und sahen verführerisch aus. Der Roman begann auf den ersten Seiten dramatisch und zog mich an. Der Preis war enorm: 30 Mark. Die drei Folgebände, die mir bis’89 noch ins Netz gingen kosteten zwischen 6 und 12 Mark. Bücher waren sehr preiswert in der Ehemaligen. Das Leseland wollte leben!

bücherwurm2

„Stumme des Himmels“ ist ein seltsamer Titel. Er führt in die Irre. Du glaubst Kitsch zu kaufen. Courths-Mahler lässt grüßen. Aber du lernst beim Lesen, dass der Titel von Jean Paul stammt – und der war im 19.Jahrhundert so eine Art Biermann oder Strittmatter. Ein Spötter, der gegen den gesellschaftlichen Stachel lockte.

Seine Metapher von den „Stummen des Himmels“ ist schwer melancholisch gemeint: Es sind Menschen, die entsagen. Menschen, die eventuell weitergekonnt hätten, als sie gingen; jedoch hätten sie Weggefährten in die Schlucht schubsen müssen, um freie Bahn zu haben …

„…diejenigen, die schweigen, die keine Schuld auf sich laden, um des eigenen Vorteils willen, anderen Leid ersparen, das sind die Stummen des Himmels.“

Jean Paul wurde nicht viel gelesen. Aber diejenigen, die ihn lasen – wurden Schriftsteller. Das ist wie mit dem Bananen-Album von Velvet Underground. Einer der größten Flops der Hippie-Ära – jedoch, „die 700, die in Amerika die Startauflage kauften, gründeten eine Band“, so wird erzählt.

Und so schrieb Spielhagen 1894 am Ende einer Schaffenskrise das Hohelied der Sehnsucht – einen seiner gelungensten Romane.

Es geht um Eleonore Ritter und Baron Ulrich von Randow. Sie lernen sich auf Norderney kennen. Sie sind Bade-Gäste in Zeiten, als Massentourismus noch nicht erfunden war. Es gibt also auch in Kurorten noch einsame Wege und ebensolche Cafés. Man trifft sich und treibt brave, unverbindliche Konversation. e.wolfJedoch hat diese von Beginn an den Touch der kleinen Besonderheiten. Man beginnt sich zu freuen, wenn man sich wiedersieht. Und man beginnt von beiden Seiten dem Zufall nachzuhelfen, damit dies auch ein drittes und viertes Mal gelingt. Es knistert!

Lies das im Frühling! Mitverlieben garantiert! Ich las das 1981 im Herbst – aber es war der Frühling meines Lebens!

Beide kommen sich verbal näher. Geschwister im Geiste. Dann reist man ab – in unterschiedliche Richtung. Eleonore nach Berlin, wo sie eine Stelle als Lehrerin oder Gesellschafterin sucht. Letzteres tritt ein – aber ihr neuer Arbeitsplatz führt sie im Sommer nach Pommern, wo sie somit Nachbarin ihrer Norderney-Bekanntschaft wird.

Das Baron Randow verheiratet ist und Kinder hat, hatte er ihr nicht verschwiegen. Er hat auch seine Familienumstände nicht beklagt, sondern durchaus die Rolle seiner Frau gelobt – nur erweckt Spielhagen beim Leser das Gefühl, dass jene Eleonore Ritter das perfektere Match gewesen wäre.

Es knistert heftiger. Bei Treffs, die nun beide eigentlich vermeiden wollen…

Man muss nicht nach Norderney, um …. Manch einem begegnet seine Eleonore auch am Arbeitsplatz. Die Gespräche lassen den Gleichklang der Seelen erahnen. Das Umfeld wird Nebensache. Hatten die Kollegen schon Wetten laufen, wie die Gutsherren bei Spielhagen: Na? Wann passierts?

Man kennt das. Auch in Werkhallen oder Büros. Es begegnet einem. Aber es muss sich nicht buchstabengetreu so abspielen wie im Roman.

Hertha von Randow oder Eleonore Ritter, Chiffren für Namen aus deiner eigenen Biografie – hundert Jahre später. Gute Bücher bleiben aktuell.  Anfang der 2000er hatte ich das ZVAB für mich entdeckt, mit seinem damaligen Spielhagenüberangebot zu kleinen Preisen: 2000, 2001, 2002 – Leserausch. Parallelwelt. Gott sei Dank. Keine Fehler begangen. Keine Patchwork-Stückelei veranstaltet. Nur die „Stummen des Himmels“ zum zweiten Mal gelesen. Medizin – die half.

In letzter Zeit las ich mehr Heyse. Aber der Thron gebührt Spielhagen. Unstrittig.

Die alten Männer und der Frühling

„Quisisana“ von Friedrich Spielhagen – ein Leseerlebnis.

Draußen lenzt es gewaltig. Die Tauben brüten schon. Frühlingsgefühle. Turtelgelüste…

Alt und gesetzt greift man zum Buch. Nach meiner Bruchlandung mit Courths-Mahler neulich geh ich auf Nummer Sicher: Spielhagen! Der Übervater! Er soll mir den Lenz retten!

Also: Greif dir den Band, den du am gründlichsten vergessen hast – er wird dir wie neu sein!

Yepp! „Quisisana“ (1880). Erstlektüre um 2000 herum. Das ist lange genug her. Es ist der Band, der „nur so mitgelesen“ wurde, weil einige andere damals besser, ausgefeilter, größer angelegt wirkten, in meinem Spielhagensommer, in dem ich das ZVAB abräumte.

Damals war ich 40; und diesmal folglich nicht. Das macht in Sachen Eindruck einen gewaltigen Unterschied!

Inzwischen bin ich nicht mehr nur der Mitträumer, sondern mehr und mehr zum „Profiler“ geworden.

Warum schüttet da ein 50jähriger dem Leser dermaßen detailliert sein Herz aus? Der ist doch verheiratet; Familienvater; wohlhabend und respektiert! Und schielt mit seiner Hauptfigur hier nach der „verbotenen Frucht“? Ein Vorzeit-Nabokow? Das Objekt der Begierde ist hier zwar keine Lolita, jedoch der Altersunterschied – immens.

Für die anderen Romane mag gelten: Niemals Fiktion und Autor gleichsetzen – jedoch hier sind der Übereinstimmungen gar zuviele!

„Dies ist ein Hilfeschrei! Es gibt mich immer noch! Es ist noch nicht vorbei! Dies ist ein Hilfeschrei!“ (Tocotronic)

Spielhagen hat schließlich auch nicht vorhersehen können, wieviele Jahre er noch hat. Zu seiner Zeit wäre ein Ableben -um die 55- normal gewesen.

Es ist einer der sogenannten „Kleinen Romane“; andere sagen auch „Novelle“, aber das ist wurschd. Den Unterschied machen eh nur wir und niemand sonst auf der Welt.

Ein Gutshaus in Thüringen, ein Sommer, ein rekonvaleszenter Gast von 50 Jahren und 215 Seiten Liebes-Verwicklungen.

Spielhagen verlegt seine Romane normalerweise nach Pommern oder Berlin, in seine beiden Heimaten. Jedoch auch Thüringen kann er. Besser als Heyse, weil bei dem immer das Münchner Umland um die Ecke guckt und keinerlei Thüringen-Anmutung entsteht, wenn er Konflikte dort hin verlegt. Spielhagen selbst jedoch hat reichlich eigenen biografischen Thüringenhintergrund und er ist in der Lage, tief zu empfinden. So gelingt ihm auch, in wenigen Sätzen oder der Namenswahl von Örtlichkeiten und Personen das typische Zeitkolorit zu skizzieren, so dass es sitzt: Dort, wo immer 3 Städte und 12 Dörfer ein „Fürstentum“ sind, da ist „der Hof“ allgegenwärtig. Thüringen 1880. Das zerhackte Land der Zaunkönige.

„Quisisana“ wiederum ist ein Hotel auf Capri, dort „wo die Wunden heilen“, und wo die Hauptfigur Dr. Bertram eigentlich hinwill, um da den Winter zu verbringen. Thüringen war nur als Zwischenstopp gedacht, weil da ein sehr wohlhabender Studienfreund wohnt. Dessen Angetraute, eine geborene Hildegard von Unkenrode (herrlicher Name!), ist von thüringischem verarmtem Adel und leidet unter der Mesalliance. Sie führt „ein großes Haus“, um „Hof zu halten“ und den Makel ihrer Verbürgerlichung zu kompensieren. Ohne es zu ahnen oder wissen zu wollen, ruiniert sie damit ihren eigentlich schwer reichen Mann.

Die beiden haben eine Tochter. Erna. Das einzige Kind. Man hat sich lange nicht gesehen. Jahre gingen ins Land. Nun ist das Kind 18 und „erblüht“ und so fangen die Verwicklungen an. Onkel Bertrams Onkel-Gefühle haben sich verflüchtigt. Es „lenzt“ in ihm. Er kämpft mit sich und dem Altersunterschied.

Vor 20 Jahren hätte er fast Lydie von Aschhof, die Pensionatsfreundin Hildegards, heiraten wollen, wenn er da schon wer gewesen wär. Mangels beruflicher Erfolge unterblieb das. Die Braut wollte nicht „ewig“ warten, um nicht am Ende als alte Jungfer zu versauern; verlobte sich prompt mit einem alten Grafen, der jedoch noch vor der Hochzeit starb, sodass das Schicksal der „alten Jungfer“ nun erst recht drohte.

Bertram selbst hat angeblich jene Schwärmerei von damals nie überwunden; ja wäre sogar fast daran zugrunde gegangen, dass jene Fee sich gar so schnell mit jenem alten Hippedildrich trösten konnte. So blieb er lebenslang unliiert. Nun steht er zwischen verblühtem Schwarm von einst und erblühtem Patenkind und muss sich irgendwie beherrschen.

Das Buch ist hochinteressant, wenn man bissel biografischen Hintergrund zum Autor hat; bzw. wenn so dies und das aus der eigenen Biografie dazu passt.

Spielhagen verzahnt hier 5 Schicksale aufs feinste. Von allen erfährt man Vergangenheit und Zukunftspläne. Alle haben miteinander zu tun, wollen niemandem schaden, schaden aber doch (beinahe)…Schicksale; sehr gut miteinander verzahnt.

Diese Verzahnung erinnert an Wishbone Ash. Ihre Double Leads galten als einzigartig. Call and response – einander steigernd. Detailversessener als selbst die Allman Brothers! Zwei Hauptfiguren paritätisch mit Vorgeschichte auszustatten und 3 Nebenfiguren ebenfalls fast gleichwertig, das ist literarisches Phönix‘en, Pilgrimage‘n, F.U.B.B.en, wenn du dich auskennst … 1880 hatten sie ja noch keine Plattenspieler. Die Ärmsten!

Heyse-Lese-Erinnerungen stellen sich ein.

Überhaupt scheint mir „Quisisana“ Spielhagens heyseschste Novelle zu sein. Die Capri-Anspielung; die Figurenkonstellation der 5 nahezu gleichberechtigten Handlungsträger. Die kluge 18jährige Fee… Die überbordende Sinnlichkeit an sich… (Natürlich verliebt man sich mit. Noch dazu – im Frühjahr!) Eine von den 5en ist eine russische Fürstin. Noch junge Witwe. Emanzipiert. Reise- und abenteuerlustig. Sie erinnert an Heyses „Glück von Rothenburg“. Leider ist „Quisisana“ das ältere Werk! Andersrum hätte es soooo gut gepasst:

Jene Fürstin aus Heyses Novelle wäscht ihrem kleinbürgerlichen Verehrer aus Rothenburg den Kopf und lässt ihn bei Weib und Kind zurück – dann fährt sie ein paar Stationen weiter nach Thüringen, um hier im Spielhagenschloss eine Ehe zu stiften…

Tja. Aber die heysesche Fürstin erblickte das Licht der Welt erst ein Jahr NACH „Quisisana“. Sapperlot!

Leider schleichen sich auch heysesche Schlampereien ein, für die Spielhagen normalerweise nicht steht:

Erna: – Es verwundert, dass Spielhagen diesen proletarischen Namen wählte. Die Mutter eine ehemalige „Beinahe Hof-Dame“ und die Tochter eine Erna? Spielhagen liebt „sprechende Namen“. Schon klar. Erna kommt von Ernst. Und ernst ist sie durchaus. Trotzdem klingt der Name eher nach „drittem Hinterhof und 12 Kindern im Rinnstein“ als nach „Schloss und Herkunft“.

Schlimmer noch Dr. Bertram: Auch er hat einen Namensmakel. Denn er heißt einfach „Herr Dr. Bertram“ bzw. für Erna „Onkel Bertram“. Da fehlt was! Er hat entweder keinen Vor- oder keinen Nachnamen. Oder aber einen sehr schrulligen Vater, der den Vornamen gleich dem Familiennamen wählte: Dr. Bertram Bertram.

Außerdem ist Dr. Bertram herzkrank und braucht einen Hausarzt, auf den er hört. Mediziner also ist er nicht! Welchen Beruf er hat, erfährt man nicht, nur dass eine Buchveröffentlichung ihm einst Ruhm und Wohlstand eintrug. Ergänzt durch ein überraschendes Erbe. Ein bissel erinnert das sogar an die mysteriöse Sammlung im „Drama von Glossow“. Dort blieb auch zuviel im Ungefähren, was „Butter bei die Fische“ gewesen wäre, wenn es dastünde.

Andererseits war dieses Buch für Spielhagen sicher ein schwieriges. Er ist 50, als er es schreibt. Genau wie Onkel Bertram. Mit 50 sticht im Allgemeinen nochmal der Hafer; vor der Gruft. Finales Aufbäumen. Ich kann bestätigen, dass es mir ganz ähnlich ging.

Heute hört man dann Deep Purples „Perpenticular“ und sieht bei „Rosi‘s Cantina“ Marty Robbins „Feleena“ auf dem Tisch tanzen und dann geht es wieder. Bissel Phantasie muss man schon haben. Das erspart, sich zum Goethe in Marienbad zu machen. Ian Gillan sei Dank!

Eine Chance, die Spielhagen nicht zu Gebote stand. Sein Biograph und seine eigenen Erinnerungen geben Schlüsselmomente preis: Er hatte mal so einen schönen Sommer als Gast in einem thüringischen Landschloss, als er „noch nichts war“. Er lernte dort eine Hedda kennen; Pensionatsgefährtin der Gastgeberin; es „matchte“; alle bekamen das mit. Die Gastgeberin aber nahm ihn bei Seite und bat ihn freundlich: „…das tunlichst zu unterlassen. Wer wollen Sie Hedda sein? Sie hat besseres verdient, als ein Leben in Armut und Unsicherheit.“ Spielhagen sah das seufzend ein. Sein großer Erstlingserfolg als Romanautor geschah Jahre später. Er heiratete – aber keine Hedda. Eine junge Witwe mit zwei Kindern. Und adoptierte. Dann kam Kind Nr. 3 und wurde Hedda getauft. Da wob ein unerfülltes Kapitel fort… Wie glücklich war die Ehe Spielhagen?

„Es muss in Ihrer Seele ein verborgenes Etwas sein, das an Ihrem Leben nagt, ein tiefer, dunkler Unterstrom von Gram und Leid. Habe ich recht?…“ (fragt der Hausarzt Bertram/Spielhagen am Ende)

Die Hedda-Ähnlichkeiten sind in seinen Romanen Legion. Nur wer eine tiefe unerfüllte Leidenschaft mit sich herumträgt, kann solche Frauenfiguren erschaffen, wie all diese Ediths, Eleonores, Paulas… und wo die erste Kontaktaufnahme passiert, ist auch nahezu immer ein herrschaftlicher Park nicht weit. Dass einmal ein Romanheld eine Frau mit Kindern ehelicht, oder es wenigstens erwägt – passiert hingegen nicht.

Er setzt also mit der Eröffnung des Romans hier seinem Hedda-Sommer ein Denkmal. Aber in welcher Form?! Die große Lydie-Liebe, das lange Leiden danach, werden ausführlich reflektiert. Dann aber sitzt Bertram „seiner“ Lydie 20 Jahre später gegenüber an der großen Tafel der Gastgeber und erkennt in der „affektierten, grell geschminkten, dürren Ruine“ die Fee von einst nicht wieder. Unvermählt geblieben wurde sie die „komische Alte“ bei Hofe in der Residenz. Ein paar Buchseiten später erfahren wir, dass sie 38 ist!

Wenn seine echte Hedda dieses Buch einst in die Finger bekam – – – oh Gott, die Arme!

Der Fuchs und die Trauben? Spielhagen so kleinlich? Oder hart berichtend über reale Wandlungen? Wo bleibt die Selbstkritik?

Will sich Spielhagen hier von einem Trauma befreien? Passiert ihm das nur aus Laxheit? Hat es zuvor ein spätes Wiedersehen gegeben, das alte Narben aufriss? Oder will er einfach seine Ehe retten, weil ihm seine Frau auf eine heimliche Korrespondenz mit der Namensgeberin der Tochter kam und eine Szene machte?

quisisana 1880

Spielhagen lässt auf „Quisisana“ den umfangreicheren Roman „Angela“ folgen: In erster Linie der Roman einer Ehekrise.

Lydie jedenfalls hat allen Magnetismus ihrer jungen Jahre eingebüßt. Nur fehlt, wenn sie nun als so kurioses Hascherl bloßgestellt wird, der selbstkritische Satz Bertrams:

Welch ein Depp muss ICH vor 20 Jahren gewesen sein, all diese Defizite nicht kommen zu sehen! Wie hätt‘ ich mich mit der gelangweilt oder pausenlos fremdgeschämt!

Auf der Erna-Seite hingegen läuft es anders: Die wird zur interessanten Schönheit verklärt. Was auch wieder an Unwahrscheinlichkeit grenzt. Es gibt schöne Frauen und interessante Frauen. Beides in einer? Hm. Bertram wird wieder Teen.

„Verliebte Jungs sind irgendwie wie Kinder. Je verliebter – je blinder.“ (Purple Schulz)

Jedoch kämpft er mit sich und weiß, die Notbremse zu ziehen. Spielhagen war lange Jahre Goetheverehrer und kennt die peinliche Vorgeschichte der „Marienbader Elegien“ genauestens! Und so lässt sein Alter Ego Bertram der Jugend ihren Lauf. Die schöne Erna wird heiraten, jedoch nicht ihn. Ihre Freundin Agathe – „die wie sie ebenfalls zur Jungfrau herangewachsen war, obwohl man von ihr nicht sagen konnte, dass sie durch diese Metamorphose gewonnen hätte“ – freut sich für sie.

Heyse hebt bisweilen auch kluge Frauen auf den Thron, die nicht das „Potential“ zur Titelbildschönheit haben. Spielhagen erschafft für sie lediglich die Rolle „des Mädchens, das die Taschen hält“ (Demmler). Er lässt sie kameradschaftlich bemitleiden.

Was noch zu sagen wär: Das lange Gespräch zwischen Bertram und dem Medizinalrat am Ende des Buches enthält viele versteckte Botschaften über die Befindlichkeit des alternden Bestseller-Autors Spielhagen. Es ist eine Art Bestandsaufnahme, Zwischenbilanz oder Lebensbeichte. – „Vermutlich passiert es bald.“, scheinen diese Seiten sagen zu wollen. Er will aufräumen. – Aber er hat noch 32 Jahre.

Alles in allem schreibt hier ein kluger Mann mit unerfülltem Herzen.

Aber vielleicht war ja auch nur Frühling.

„In Rosis Cantina tanzt heute Feleena

So barfuß und braun auf dem Tisch

Mond und Sterne sie lauschen

Wie die Pulse drin rauschen

Doch Feleena bleibt lange noch frisch.“

So the Music is the healer.

Brechtology

aus gegebenem Anlass:

„Hinter der Trommel marschieren die Kälber.

Das Fell für die Trommel liefern sie selber.“ (B. Brecht)

Da kommen einem so Assoziationen ein:

„Scheiß auf den Ruf! Sie schachert nun!

Noch leben ihre Kinder.

Der Glaub‘ an Sieg ist opportun,

doch glauben ihn die Rinder.“ (von mir; frei nach Brecht)

Das eigentliche Lied der Mutter Courage ist auch nicht übel.

Nur veränderts die Welt nicht. Leider.

Die Hedwig und ich

Navalny ist tot. Seine Frau sprach auf der Sicherheitskonferenz anlässlich dieses Ereignisses. Die Frau von Assange war dort nicht zu Gast. Schön, dass es den Medien dieser Tage auffällt, dass es diesen „Fall“ ja auch noch gibt. – Lassen wir das. Es kümmert keinen. Leider.

Ich floh vor derlei Themen in den Kitsch und – Bauchlandung.

Tja, also heute mal was ganz anderes.

Eine Rezi zu einem Buch, dass ich nicht zuende gelesen habe.

Passiert sicherlich nicht allzu oft. Aber ich muss nun auch diesen Ballast aus dem Haus und aus dem Kopf kriegen! Und da gibt es einiges aufzuräumen.

Es handelt sich um „Das Drama von Glossow“ (1919) von Hedwig Courths-Mahler. (Nachkriegsausgabe Engel-Verlag München; ohne Jahrgang. Vermute so späte 60er.)

Eigentlich wollte ich die Dame feiern. Sie kommt aus Nebra, also aus der Heimat; und Berühmtheiten aus der eigenen Region sind nun mal als „verehrungswürdig“ gesetzt! Punkt!

Aber neeeee. Es ging nicht auf.

Die Frau hat aus materieller Not um 1900 herum das Schreiben angefangen, Erfolg gehabt, mehr geschrieben, wieder Erfolg gehabt, noch mehr geschrieben.

Aber es bleibt, wie alle Literaturpäpste verlautbaren, die Lieschen Müller Perspektive auf ein Leben, wie es so nicht ist.

Zahllose Mägde mögen sich mit diesen Bänden am Ende ihrer langen Arbeitstage getröstet haben, wenn sie erschöpft ihre Dachkammern oder Schlafverschläge in der Küche aufsuchten und nicht einschlafen konnten, weil vielleicht noch ein zudringlicher Hausherr abzuwehren wäre. Aber vielleicht wurde dieser ganz naiv und unerfahren sogar herbeigesehnt – um selber die „Gnädige“ werden zu können.

Ein paar Sprechstundenhilfen von Zahnärzten geht es heute noch so.

Ich stieß auf den Namen Courths-Mahler mit 14, als die Verfilmungen in der ARD die Sonntage versüßten. Die waren rundweg gelungen! Ich gestehe sogar, das DVD Set gekauft zu haben, soviel Begeisterung hat sich erhalten! Und das Wiedersehen nach rund 50 Jahren zeigte, was deutsche Filmkunst an zeitgemäßer Ausstattung einst draufhatte. Der verfilmte Kitsch der Hedwig Courths-Mahler wirkt gegenüber heutigem Klischeefernsehen wie wohltuender Realismus. Einzig die Haarpracht der männlichen Schauspieler gälte es zu kritisieren.

Die sehen durch die Bank aus, wie Sparkassenangestellte der Ära Brandt. Die haben Piefkeschnitt und Katerbart gescheut. Was wiederum im Nachhinein kein Fehler ist, denn es würde auch heute noch schwerfallen, Barone mit gezwirbeltem Horst-Lichter-Schnauzer als durchsetzungsstarke „Herren des Hauses“ ernstzunehmen, obwohl skalptechnisch der kahle Preußen-Piefke leider wieder Renaissance erfuhr. So rum betrachtet wirken nun jene „Sparkassenangestellten“ von 1974 nahezu „hippiesk“! Alles dreht sich.

Früher, in den 70ern, fragten Radiomoderatoren bisweilen: „Mögen Sie Kitsch?“ Und dann sendeten sie gewöhnlich eine anheimelnde Sendung musikalischer Kuriositäten. Bert Kaempfert schmeichelt sich ins Ohr, die Tokens trällern „Wimmoweh“, Charles Asnavour lästert „Du lässt dich geh’n!“, die Winnetou-Melodie erklingt, Satchmos „Brave Husar“ usw. Easy Listening. Gemütlichkeit erzeugend. Ich mochte Kitsch. Der „röhrende Hirsch“ in Tante Hedis Room war eben dauerhaft geschmacksbildend eingeschlagen. Ich mag Kitsch immer noch. Mir ist bewusst, dass der King in seiner Las-Vegas-Phase hochgradig „Kitsch“ ist. Marty Robbins nicht zu vergessen! Na und?

Aber Courths-Mahler lesen?

Hab mich jetzt wochenlang geplagt, um bis auf Seite 80 vorzudringen. Bis Seite 350 würde mein Exemplar eigentlich gehen.

Aber es geht einfach zuviel daneben. Ich halte das Buch Jahrzehnte zu spät in der Hand. Mit 18-19 Jahren hätt‘ ich es eventuell geschafft. Mit Mitte 20 auch noch. Der (spät)pubertäre Widerstandsleser in mir, hätte es mit der geballten Literaturkritik aufnehmen wollen!

Wie bei Karl May! Rufmord! Nehmt das:

„Kritiker sind Eunuchen, die wollen – aber nicht können.“ (IC Falkenberg)

Recht hat er irgendwie.

Aber Karl Krauss hat eben auch recht:

„Das ungewisseste Urteil ist das des Snobs! Das Buch, das er empfiehlt, könnte gut sein!“

Und Literaturprofessoren sind in der Regel Snobs wie aus dem Bilderbuch! Jedenfalls solange sie am Katheder stehen.

Wenn bornierte Hochschulgermanisten über Trivialliteratur die Nase rümpfen, dann wirkt das mitunter provozierend lächerlich, weil sie so tun, als seien sie von Kindesbeinen an mit Trakl, Böll und Goethe aufgewachsen.

Borniertheit macht Schule – Musikrezensenten meiner Generation ahmen derlei Vorbilder nach; gerieren sich bisweilen ebenfalls, als hätten sie in der Sandkiste bereits „Lucky Man“ von Emerson Lake and Palmer gesungen und das faschistoide „Alle meine Entchen“ strikt abgelehnt!

Und da in mir noch allerhand vom alten Widerspruchsgeist übrig ist, hätt‘ ich nun gern eine Courths-Mahler-Laudatio verfasst: Die Poetin von der Unstrut! Die Fontanessa! So ungefähr.

Aber ach – schon auf den ersten Seiten: Baron von Gerlach auf Gerlachsheim… reitet mit seinem Begleiter einen halsbrecherischen Hochgebirgspass hinab, um schneller „ans Meer“ zu gelangen als die übrige Jagdgesellschaft. Mädchen und Kartographie! Ein totsicherer Spaß im Geo-Unterricht aller Generationen!

Gerlach auf Gerlachsheim. Das ist so scheiße erfunden, dass es wehtut. Warum nicht „von Lehmann“, Erbauer des St. Lehmann-Palais von Knistermeckelfingen (am Meer). Ächz!

Das Gut Glossow neben Gerlachsheim liegt in einer Art Dornröschenschlaf. Das Herrenhaus ist verriegelt und verrammelt. Der Park wächst langsam zu. Aber ein treuer, uneigennütziger Gutsverwalter überwacht die Mehrung der Gutseinkünfte für eine entfernt beim Vormund lebende Vollwaise. Ob da Ackerbau oder Viehzucht unter seiner Reitpeitsche gedeihen, wird nicht erläutert.

Die von Glossows sind tot. Baron von Glossow ertappte einst seine holde, schöne Frau in den Armen eines anderen. Er schoss prompt, glaubte beide tot und erschoss nun sich. Allerdings hatte er nur seine Frau wirklich getroffen. Der Nebenbuhler hingegen genas von schwerer Wunde und schwieg seit her über die Umstände der Missetat.

Verwalter und alle sonstigen Untergebenen stellten der toten Gnädigen tadellosen Leumund aus – aber „diese Leute“ fragt ja keiner.

Alles, was interessant gewesen wäre, wird nicht erklärt. Alle Figuren verhalten sich wie Kinder, die „Erwachsen sein“ spielen, also märchenhaft schlau oder dumm, damit die nächste Verwicklungsstufe reibungslos und überraschungsarm gezündet werden kann.

Die 10jährige Tochter Sanna von Glossow durchleidet nun ein Rapunzel-, Aschenbrödel-, Schneewittchen-Schicksal in Personalunion bei ihrem Vormund in Franken und geht schließlich als Frau von Gerlach aus allzu simpel gestrickten Wirren siegreich hervor. Jedenfalls sag ich das voraus.

Damit das aufgeht, ist Sanna, die abgeschirmte, bös bewachte, freudlos und freundlos aufwachsende, dann mit 21 umsichtig und klug. Dazu anmutig und brav. – Eine schöne, widerstandsfähige Kampfhenne oder aber ein naives Mälei wären wesentlich wahrscheinlicher gewesen. Und auch interessanter für den weiteren Ablauf.

Ihr Vormund, der weltfremde Professor Sanau, der ihr auf Geheiß seiner bösartigen Schwester die Jugend zur Hölle machte, wird von ihr nach zehnjähriger Pein freundlich zur Rede gestellt, erkennt seinen Fehler, entschuldigt sich und vertraut ihr sofort. Und sie nimmt die Entschuldigung an. Das Schaf! Die böse Tante kann ihn sofort wieder umdrehen.

Er widmet seine Zeit und einen Großteil seines Geldes einer „wissenschaftlichen Sammlung“. Knochen? Fossile? Völkerkundliche Relikte aus den Kolonien? Orden? Münzen? Man erfährt es nicht. Er hat auch nie Vorlesungen zu halten oder Studentenbesuch.

Sanna wird schließlich Frau von Gerlach. Gerlachsheim und Glossow werden zusammengeschmissen, also ist der Reichtum für kommende Generationen gesichert. Zuvor wird der Ruf ihrer Eltern posthum wiederhergestellt, denn jener ehemals schwerverletzte Strolch beichtet alt geworden auf dem Sterbebett, dass er Frau von Glossow gegen ihren Willen verführen wollte, als Herr von Glossow hinzutrat und keine Erklärung abwartete. Peng! Amen. Jedenfalls scheint es mir darauf hinauszulaufen.

Im Stillen hatte ich gehofft, Frau Courths-Mahler möge sich irgendwie zwischen Spielhagen, Heyse, Wolzogen einreihen lassen – aber nein. Die Unterschiede sind zu gewaltig. Jedenfalls, wenn ich allein von diesem Werk ausgehe. Aber eventuell ist „Das Drama von Glossow“ ja ihr „Open your eyes- Album“? Yes-Fans wissen, wovon ich spreche. Dann hieße es also ihr „Close to the edge“ noch zu finden?!

Mildernde Umstände möchte ich im Angedenken an die gelungenen Verfilmungen nämlich trotz aller Lesepein walten lassen: „Das Drama von Glossow“ stammt aus dem Krisenjahr 1919; als Frau Courths-Mahler stattliche elf 300-Seiter hervorbrachte. Sie schrieb wie am Fließband, weil schon da die Verelendung und die beginnende Inflation zuschlugen. Vermutlich hat auch sie durch das Zeichnen von Kriegsanleihen seit 1914 eigene Ersparnisse „in den Sand“ gesetzt und sah sich gezwungen – auszugleichen.

Von den 5 verfilmten Romanen stammen 4 aus früherer Zeit, als sie pro Jahr höchstens 5 Romane schrieb. Eventuell versuche ich es in ein paar Jahren nochmal mit „Bettelprinzess“ oder „Griseldis“, den beeindruckendsten beiden. Es heißt nicht umsonst: Das Buch ist IMMER besser als der Film! Also pfleg‘ ich treu ein Hoffnungspflänzchen. Sie ist schließlich aus Nebra!

Heyse „Das Ewigmenschliche & Ein Familienhaus“ (1910)

Heyse, der dreiundneunzigste… Er lässt mich halt nicht los.

Diesmal also: „Das Ewigmenschliche & Ein Familienhaus“ von 1910.IMG_20240117_152127bb

200 Seiten das erste, 70 Seiten das zweite Geschichtlein. Nicht Roman und nicht recht Novelle, denn überraschend ist da nix.

Warum schreibt einer mit 80 Jahren nach seiner letzten Glanzleistung („Erschaffung der Venus“) 1910 noch so ein Buch?

Ein Werk der inneren Verunsicherung. Ein Plot, der nicht trägt. Ein Zweitwerk hinten dran gepappt, was bei allen Schwächen doch noch etwas flüssiger erzählt daherkommt, als die 200 Seiten zuvor.

JETZT! – haben ihn die Scharfmacher der Literaturgazetten da, wo sie ihn haben wollen. Selffullfilling Prophecy! Seit zwei Jahrzehnten sprechen sie ihm Gestaltungskraft, Phantasie, Talent ab. Auf DIESES Werk trifft das zu.

Und das Schlimmste ist: Er traut ihm selber nicht! Warum veröffentlicht er’s dann?

Zu Beginn stellt er die Chose so dar, als habe da jemand „einem bekannten Dichter“ ein Manuskript gesandt, mit der Bitte um Durchsicht, Einschätzung und eventuelle Weitergabe an einen Verleger. Also „will sagen“: Das Kommende ist nicht von mir!

Zusätzlich verleugnet er sich so halb hinter „einem bekannten Dichter“.

Er will nicht der sein, der das schrieb und auch nicht so richtig der, der das Geschreibsel für Wert befand und weitergereicht hat. Und so bekommt auch das zweite Stück den Charakter eine Entschuldigungsversuches.

Soweit die ersten Eindrücke beim Lesen.

In einer zweiten Grübelrunde jedoch stellt sich das Ganze etwas günstiger dar:

Es hat so kritische Ansätze, die gefallen. Er lässt die Hauptfigur grübeln über das schnelle Vergehen des Ruhmes von Geibel und Auerbach; 1910 zwei „Stars von gestern“. Prompt musste ich an die Konsalik- und Hohlbein-Pyramiden bei Karstadt 1990 denken. Wo sind sie hin. Selbst Grass ist „vorbei“.

Max Stirner bekommt sein Fett weg, wie Nietzsche in „Über allen Gipfeln“. Das war vermutlich Heyses Hauptanliegen. Wer diesen Verführern folgt, wird selber einer – und vertut sein Dasein!

Er verkündet in einem zweiten Vorwort zudem, dass das Manuskript von einem stammt, der einsah, dass es zum Schriftsteller nicht reicht. Trotzdem hofft er nun aber seine Lebensgeschichte der Nachwelt zu erhalten. Dazu passt, dass das Ganze abgefasst ist, wie das Werk eines Anfängers mit großer Ambition. Also Inhalt und Form im Einklang. Mithin eben doch wieder Gestaltungskraftbeweis.

Interessant ist aber eher nicht, was sich da als Märchen für Erwachsene entrollt, sondern die essayistischen Beigaben, die grüblerischen Monologe über Kunstbetrachtung. Wann ist man Künstler; wann Dilettant? Wie kommt man als „Dutzendmensch“ im öden Brotberuf klar, wenn man doch eigentlich hoch hinauswollte? Warum lassen sich scheue, aber anständige Menschen von großspurigen Blendern so leicht beeindrucken? Was sind die Reize der Provinz gegenüber der Metropole? Eigentlich also steckt „viel drin“.

Darüber hinaus jedoch:

Handlungsabläufe vorhersehbar, die Charaktere Schablonen; manche Episoden seltsam flinke Glattgeherei … keine Spur des Meisterpsychologen von einst.

Ein paar spezielle Auffälligkeiten unter Heysekennern (kleiner Scherz):Bild (2)

1.Eine gut erzogene, sich aber eingesperrt fühlende Cousine des Ich-Erzählers wird verführt, brennt schwanger durch, taucht als erfolgreiche Tingeltangelsängerin wieder auf, macht Karriere als Operettensängerin, während ihr unverheirateter Cousin nun das Kind adoptiert, „weil ihn das glücklich macht“ und sie es dann nicht mehr sehen muss, da es dem Verführer ähnelt. Hm. In „Mei Bübsche“ (1905) findet sich der Kern dieser Episode deutlich besser zusammengezurrt.

Hinzu kommt: Er brachte den Verführer einst ins Haus. Und niemand wirft ihm das hinterher vor. Er kannte die Veranlagung jenes Hallodris und schwieg. Und hinterher hat er auch keinerlei Schuldkomplex deshalb. Der Tugendbold!

2.Die junge Lehrerin im Plot ist eine blasse Kopie der starken „Tante Lene“(1906) aus der „Victoria regia“-Sammlung.

3.Der Schuft im Stück ist der Wiedergänger des noch ungeläuterten Erk von Friesen aus „Über allen Gipfeln“.

Heyse ist also dem Folgezwang erlegen, wie Rockstars nach einer Hit-LP: Was ihm im Venus-Roman gelang (Zweitverwertung einer früheren Novelle); sollte hier schnell nochmal klappen – und führte zur Bruchlandung.

Zweifel beschlichen ihn mit Sicherheit bereits beim Schreiben. Jenes Tarnungsvorwort „des bekannten Dichters“ ist mMn ein nachträglich ersonnener Kniff, die Mängel der folgenden „Romnelle“ zu kaschieren.

„Das Ewigmenschliche“ hätte somit nicht sein müssen. Das beste Zitat findet sich auf der letzten Seite:

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Der lebenserfahrene Greis sieht das Schifflein „Deutschland“ unverfroren aufs Riff zusteuern. Er mahnt bescheiden, hilflos – ungehört. Er sah die Nietzsche-Auflagen steigen und die eigenen sinken. Kannte er die Friedenskongresse der Bertha von Suttner?

(Heute heißt es wieder, man müsse sich an Kriege gewöhnen. Wehrhaft werden! Der Russe kommt! Träume vom „Endsieg gegen Russland“ schießen wieder ins Kraut. Die Welt soll erneut neu aufgeteilt werden. Mir scheint, wir haben wieder 1910. Mit Laptop und Wärmepumpe.)

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In „Ein Familienhaus“ repariert ein alter Consul im Ruhestand ein bereits auseinanderbrechendes Verlöbnis zweier junger Leute. Sie Katholikin, er Protestant; ihre Mutter – die Jugendliebe des Consuls. Zum Schluss wohnen alle in derselben Villa.

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Das hätte eine letzte Meisternovelle werden können, wenn Heyse dem Beichtvater eine größere Rolle zugedacht hätte, stattdessen stellt er ihn zwar anfänglich als Hauptproblem „Vons Janze“ hin; lässt ihn im weiteren Handlungsverlauf aber einfach durch die Maschen fallen. Die noch in religiösen Grabenkriegen trainierte Umwelt, in Form von heuchlerischen Betschwestern, giftnatternden Nachbarinnen, pikierten Schulkameraden desgleichen.

Auch dieses Werklein ist also keins für die Bestenliste.

Und so findet sich der Band nun neben „Crone Stäudlin“, dem anderen missratenem Werk des Meisters.

Ins Horn seiner Kritiker stoße ich trotzdem nicht.

8 Romane; ca.180 Novellen; – da dürfen durchaus mal 2 Bände „daneben gehen“.

Literarische Weihnachtsgrübelei

Alle Jahre wieder zu(!) Weihnachten – drehen sich die Gedanken im Kreis um das „was war“ und das „was sein könnte“. So auch bei mir:

In dieser, unserer Zeit der buchlosen Wohnzimmer ergeht es mir so, wie dem Kind mit Downsyndrom in jenem Hollywood-Schinken aus den 90ern. Der erzählt vom aufopferungsvollen Kampf einer Mutter, die Beschulbarkeit ihres behinderten Kindes zu beweisen. Alle halten das für sinnlos. Ihr Mann verlässt sie. Sie aber sorgt dafür, dass ihr Kind entgegen allen Diagnosen, Lesen und Schreiben lernt.

Am Ende des Films liegt das Kind im Bett. Es hat gerade irgendeine Prüfung geschafft. Mama ist glücklich und beugt sich zum Gute-Nacht-Kuss herunter. Da fragt das Kind:

„Mama, warum bin ich so anders?“

Das betroffene Gesicht der Mutter ist die letzte Einstellung des Films. The End.

Anders sein. Davon sangen auch Pankow. Das gefiel damals vielen. Anno 87. Heute wüsste ich niemanden mehr, der im Gespräch darauf anspränge. Das Rad der Zeit drehte sich weiter und endete für viele meiner Alterskohorte auf den Elbwiesen bei der „Kaiser-Mania“. Immer wenn mir wieder einer diese „Entwicklung“ gesteht, fällt mir ein alter Westernhagen-Song ein: „Es tut weh, es tut so weh, wenn es zuende geht…“

Mit dem Kaffee-Pott in der Hand sitze ich im ehemaligen Arbeitszimmer, nunmehr der „Music Hall“ von Bludgeon House, zwischen den Boxen; Blick zum Bücherschrank – und proste meinen Helden zu: Wegen Euch bin ich so „anders“! Schade, dass wir uns nie begegnet sind.

Dank euch weiß ich, was läuft!

Und? Hoads woas broachd?!

In dem vielen Lese-Wust der Jahrzehnte stellt sich ab und an die Frage: Welche 10 Werke waren Türöffner irgendwohin? Welche 10 haben mich auf diesen Platz gehievt, auf dem ich nun bin?

Als Leseratte schrotest du viel weg; liest meterweise – von manchem Autor nahezu alles. Aber das sind meist nicht DIE großen Weiterbringer. Weiterbringer krallen sich ins Hirn. Inhalte, die sich auch nach Jahren noch wie von selbst in Erinnerung bringen. Sie wechseln im Laufe der Zeit ihr Gewand; schaffen Verbindung zu ganz anderen kulturellen Erfahrungen. Andere begegnen dir im Alltag 1:1.

Schauen wir mal, welche mir da so einkommen.

  1. 56427422Aller Anfang waren die Erlebnisse des kleinen Uti im „Land der Salzfelsen“. Gelesen in der 2. Klasse; nach Kinokenntnis der ersten 3 Gojko-Indianer-Filme. Den Uti, aus dem dann der Sat-okh wurde, bestaunt; jedoch auch begriffen, dass so ein Indianerschicksal in der Realität dann doch nichts für mich gewesen wäre. Das Buch begeisterte und erdete in einem. Ein Eindruck, der durch „Blauvogel“ später noch verstärkt wurde. Ich habe „Die Söhne der großen Bärin“ und den kompletten „Lederstrumpf“ gelesen, ohne in Selbstüberschätzung zu verfallen. Im Stillen blieb da diese Bremse im Kopf: Sei mal froh, dass andere Zeiten sind. Berufsleben später wird vermutlich langweilig sein, aber auch nicht so gefährlich.

  1. „Münchhausen“; alt und gediegen und sehr schön illustriert. Leider inzwischen aus den Beständen verschwunden; deshalb weiß ich nun nicht, ob es die Wolzogen-Fassung war, die sich im ZVAB finden lässt. Die Titelseite war auf jeden Fall eine andere. Jedoch war es das erste Buch, das ich in Frakturschrift las. Ca. 3. oder 4. Klasse. Da öffnete sich ein ganz verwuchertes Gartentürchen in ein Leseparadies! Denn all die antiquarischen Schmöker „für die reifere Jugend“ mit ihren anheimelnden Illustrationen, die mir so in die Finger gerieten, lehrten mich verstehen, dass es noch sehr viel mehr Sichtweisen gibt, als die, die im Geschichtsunterricht vermittelt werden. So folgten, mit heißen Ohren gelesen bald „Markgraf Gero“ vom Schreckenbach, „Seeteufel“ vom Luckner, Rehwalds „Walther von der Vogelweide“ und Reches „Kifanga“. Der Unterricht lehrte nur die Pleiten der Deutschen Geschichte. Er macht dich klein. Von den Erfolgen las ich selbst. Sie richteten auf.

  1. Aber ich las auch „Im Westen nichts Neues“ und somit stieg ich in die Antikriegsliteratur ein. „Duran – ein Pferd unterwegs“, „Der Weg zurück“, „Stalingrad“, „Irrfahrt“; „Werner Holt“… Bücher, die dich erden; die mir unsportlichem Kerlchen gestatteten, auf meinen GEIST stolz zu sein, wenn Ausdauer, Muskelkraft und Veranlagung zu stupidem Kadavergehorsam fehlen. Obwohl hernach die Frage im Raum stand: Was, wenn du wissend in die Scheiße musst? Wäre die Unfähigkeit, den höheren Zynismus der Macht zu durchschauen, nicht geradezu barmherzig?

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  1. Felix Dahns „Kampf um Rom“ las ich mit 12 und 24 Jahren jeweils komplett und irgendwann in meinem 40ern noch einmal halb. Jedes Mal aus ganz anderer Perspektive. Ich sollte es demnächst noch einmal zur Hand nehmen und diesmal mehr auf Cethegus achten: Den letzten Römer. 80 Jahre beherrschten die Ostgoten Italien. Damals, im 6. Jahrhundert. Ungefähr 30 000 waffenfähige Germanen 2 oder 3 Millionen Italiener. Da springt der Denkturbo an, wie das möglich werden konnte. Das Weströmische Reich hat sich zuvor müde gesiegt, war unter den „Soldatenkaisern“ von einer politischen Fehlbesetzung in die nächste geraten und wollte sich seither Ruhe lediglich erkaufen, indem es sich ausplündern ließ. Seine Bewohner wurden wehrunwillig. Auch sie kauften sich frei; schickten statt ihrer Söhne Kolonen ins Heer; freigelassene Sklaven unterschiedlichster Herkunft. Die Kampfkraft sah dann dementsprechend aus; denn von Kriegspsychologie hatte man noch keine Ahnung. Schwarze Buchführung griff um sich. Ganze Legionen existierten nur noch in den Soldlisten der Heerführer oder bestanden lediglich aus einigen hundert Mann. Kurz: Rom versank in Passivität und Korruption. Da braucht es dann nicht mehr viel, dass der Koloss kippt, wenn die Barbaren kommen. Zwar würden die Italiener feiern, wenn die Goten verschwinden und sie selbst vorübergehend mit den Byzantinern wiedervereinigt werden würden. Aber sie würden alsbald merken, dass sie für Kaiser Justinian Byzantiner zweiter Klasse sind. Und somit ebenfalls wieder keine Hand rühren, wenn die Langobarden kommen. Tja. (…)

  1. Bis ich 19 war, musste der Lesestoff Action haben. Der Alltag erscheint einem Teen voller Tatendrang gar zu öd. Dann kam die Einberufung. In der Dampf-Druck-Reviere-Zeit des ersten Diensthalbjahres hatte ich mehr Action, als mir lieb war. Da fiel mir ein Fischertaschenbuch eines Kameraden in die Hände. Hermann Hesse „Drei Novellen“. Die erste war „Heumond“, die dritte „der Zyklon“ und die dazwischen hab ich vergessen. Der Eindruck der beiden anderen war gewaltig. Handlung fast null – aber voller spannender Selbstbetrachtung. Genau das brauchte ich jetzt. Die Handlungslosigkeit brachte „Ruhe“; ich konnte abtouren in einer Zeit der Hatz. Und Abschiednehmen von der Kindheit. So wie der Ich-Erzähler in „Heumond“ im Garten unter der Trauerweide saß und las, hatte ich oft daheim unterm Nussbaum gesessen und Dumas gelesen und mich von Besuchen stören lassen müssen wie er. (Ein so schöner, wie bei Hesse, war in meinem Falle leider nicht dabei.) …. Der „Zyklon“ beschreibt zunächst einen Typen, der sich nicht herantraut an seinen Schwarm. Die innere Schwüle entlädt sich dann äußerlich in einem Sturm, der unter anderem eine Platanenallee knickt, was seinen alten Schulweg so stark verändert, dass er nun Abschied nehmen kann, von der Stadt seiner Kindheit – und auch die Tage meiner Naumburg Aufenthalte schienen 1979 bereits gezählt. Die Kastanie am Knast, der markanteste Baum der Stadt, wurde gefällt. Das einzelnstehende Haus dahinter – abgerissen. Die Schlippe zwischen ihm und der Gefängnismauer war Geschichte. Der Salztorbereich sah nun völlig „nackig“ aus! – Ich wurde von dem Anblick im ersten Kompanieurlaub überrascht. Ich war auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause. Und dann stand ich da am Knast vor dem Stumpf und der Abrissfläche: „Wie bei Hesse!“ – Mehr von diesem Autor, der so ins Schwarze traf! Mehr solche Melancholie, egal von wem! Stefan Zweig, Sartre, Baldwin, Proust – nee, nich‘ übertreiben: Prousts „Combray“ war dann doch zuviel Tapetenbeschreibung und Vorhangsfalten-Analyse. Es flog nach wenigen Seiten auf die Seite.

  1. Bei der Fahne wurde ich auch im Rahmen unserer Regiments-Band-Dikussionsabende mit Strittmatters „Wundertäter III“ überrascht. Das brachte die Erkenntnis, dass dieser Strittmatter doch kein konformer Staatskasper ist, wie es die Kostproben seines Schaffens im Lesebuch so an sich hatten. Der war mehr als nur „Tinko“ und „Pony Pedro“! Da lockte einer gewaltig gegen den Stachel der Zensur, der sogar mal kurz Chef des Schriftstellerverbandes war?! Sollte man also doch ein paar DDR-Autoren antesten? Strittmatter war der Türöffner für Pieskes „Schnauzer“, für weitere Strittmatter-Werke, Stefan Heym, Alfred Wellm, Christoph Hein, Görlich und Neutsch. Wobei bei letzteren beiden die kastrierten Konflikte sauer aufstießen; der Kotau vor den Lektoren. Ein bissel Christa Wolf hab ich auch versucht, jedoch mit wenig Begeisterung gelesen. Hermann Kants „Die Summe“ erwies sich als schön frech. Aber wir schrieben bereits die Jahreszahl 89 in unsere Briefköpfe. – Alle die wären mir ohne Strittmatter eben nie passiert.

  1. Bücherwurm3bbEine weitere Fahne-Entdeckung war die Sowjetliteratur. Derselbe Tippgeber, der den „Wundertäter“ angeschleppt hatte, warf mir eines Tages eine „Romanzeitung“ aufs Bett und sprach: „Hier. Hab ich dummerweise doppelt. Lies bevor des wegschmeißt!“. Es handelte sich um Boris Wassiliews „Schießt nicht auf weiße Schwäne“. Ich las es – und halte es seither in Ehren! Eine sehr gute und sehr melancholische Meistererzählung über einen Menschen mit großer Seele, der nirgendwo hinpasst, weil er überall wegen Gutmütigkeit und Einfühlungsvermögen aneckt und rausfliegt. Hüte dich vor blauäugiger Gläubigkeit! Der Ehrliche ist der Dumme, dessen Scheitern mit einem Schulterzucken von den Mitmenschen schnell vergessen wird. „Vielleicht muss ja erst Kolka kommen…“ endet der Band. Und wenn du ihn gelesen hast, dann weißt du, dass das der perfekte Schluss für diese Erzählung ist. Von da an interessierten mich die modernen Russen. Tendrjakow wurde mein Star und Stichwortgeber in Geschichtsseminaren – „Begegnungen mit Nofretete“; kluge Konterbande zwischen Buchdeckeln „unserer Freunde“, von denen „wir ja lernen sollten“. Grins. Anatoli Kim’s „Eichhörnchen“ wurde MEIN Kultbuch. Erweiterung der Hermann Hesse Schiene. Die Rede ist von Individuen mit besonderen Gaben, die der Vermassung entgehen, sich jedoch nicht exponieren, um nicht scheitern zu müssen, wie der Waldhüter in den „weißen Schwänen“. Später stieß ich auf den ganz ähnlich gelagerten John Irving und seine intelligenten Bären. Aber Kim hatte ihm den Tiefsinn voraus.

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  1. Gleich nach der Fahne stand ich im Antiquariat vor zwei Bänden mit dem seltsamen Titel „Stumme des Himmels“. Ich kaufte das mit 21 Jahren voller Vorfreude auf Küstenkatastrophen, weil da auf den ersten Seiten zwei Frauen am Nordseestrand ertrinken. „Passt!“, dachte ich; Prora-Trauma im Hinterkopf. Ich wollte lesend meinen Fahneaggressionsstau ausleben. Aber es sollte anders kommen. Genau das Gegenteil trat ein. Ich entdeckte die Ostseeküste neu. Und ich fand meinen literarischen Hausgott Friedrich Spielhagen, den spannenderen Fontane. Den hatte mir die Schule komplett verschwiegen. Die „Illustrierte Literaturgeschichte“ handelte in in 2 Sätzen ab. So zerredete ihn mir niemand. Und der stammte nun ausgerechnet aus Stralsund und ließ die alten Gutsherrenzeiten auferstehen -als vergiftetes Idyll-; in denen sich kluge Einzelgänger mal mehr-, mal weniger gut entwickeln.

  1. Bleiben wir bei Fontane. Die „Effi Briest“ in der 11. oder 12. Klasse war ein literarischer Alptraum. Nie wieder Fontane! – somit die Konsequenz. Nur sollteste mit so einem Wahlspruch nicht Deutschlehrer werden. Zwar fiel die Mauer schon im 5. Dienstjahr und von Stund an gab es gewisse Gestaltungsfreiräume, was Pflichtliteratur zu sein hat; ein Fontane galt in Restpreußen jedoch allzeit als „gesetzt“! Viele Sträuße hab ich gegen meine Kolleginnen gefochten, im Interesse der Schüler, nicht ganz selbstlos, denn ich sah immer die drohenden Berge öder Effi-Aufsätze vor mir, die ich hätte korrigieren müssen. Bücherwurm4Es gelang! Meine Schule hat dank meiner in 30 Jahren NIE Effi Briest behandeln müssen. Meine Kolleginnen schienen reichlich Lebenszeit verplämpert zu haben mit Fontanelektüre. Und so brachten sie dann stets andere und bedeutend kürzere Werke des Stadtheiligen von Neuruppin ins Spiel. Mal „Mathilde Möhring“ (ein Drittel des Effi Umfanges und mehr interpretierbare Handlung), mal „Birnbaum“ (ähnlich zeitsparend dünn) und last not least „Frau Jenny Treibel“ relativ dick aber handlungsstark und voller verstecktem Witz! Wow! Fontane kann auch anders! Hanseatenwatschen (die „Hamburgerei“), Tabuverletzung, in dem er die Arbeit der SiPo Berlin schildert und Karikatur großbürgerlichen Lebens anhand der Abendgesellschaften im Hause Treibel. Frau Treibels Söhne tragen die Vornamen großer deutscher Polterköppe (Otto und Leopold) – und erweisen sich als dickliche Schlappschwänze und Erbsenzähler. Wie das Leben so spielt im spießigen Fabrikantenmilieu der Kaiserzeit. Phantastisch! Fontane – der Volker Pispers seiner Zeit! (Die meisten Verlage kennen das Buch selbst nicht und wählen deshalb als Titelbild traurige, verheulte Frauenportraits mit Wagenradhut. Also Effi-Trauma auch da! Eine passende Titelgestaltung zu finden, hat allerhand Guhgelei gekostet. 🙂 )

  1. HeymBleibt noch Stefan Heym „König David Bericht“. Es gab nicht viele Heym Werke in der DDR. Dieses jedoch immer wieder mal als Reclam-Bändchen. Eine bitterböse gewitzte Auseinandersetzung mit „Verbogener Geschichtsschreibung“. König David; der blutrünstige Herrscher im „Morgen“-Land will einem verrufenen, dissidentischen Historiker „eine Chance“ geben. Jener soll den Aufstieg und die bisherigen Regentenjahre des Königs in einem „Standartwerk“ verfassen und dafür Privilegien ernten. Der Historiker weiß um die zweifelhaften Umstände der Inthronisation, um all die Intrigen und Leichen am Wegesrand. Er steht nun zwischen „Ruf wahren“ und „Verlockung“. Zwischen „Gefahr“ und „Belohnung“. Er wetzt in diesem Dilemma seine Formulierungen „salomonisch“, entrinnt jedoch der Ungnade nicht. Der Leser merkt: Historiker hüte dich! Bleib Wissenschaftler! Werde nicht Agitator! – Aber auch „Denke dir’s, aber sag‘s nicht!“ Die BRD lobte damals den Mut des Autors. Sie hielt sich für demokratisch meinungsfrei und rieb sich im DLF die Hände über all die überdeutlichen Ohrfeigen gegenüber Zensur und „auf Linie Bringung“ in einem kleinkarierten System. Nun ja. Schau dir heutige Berichte von „Historikertagen“ an! „The Times, they are a changing“. Heute reibt sich die Schweiz via NZZ genüsslich die Hände über Gesamtdeutschlands Eindimensionalität. Sie könnte sich auf Stefan Heym berufen.

Das belesene Kind, das ich war, schaut in die Welt da draußen und wundert sich über die rasante, widerstandslose Abschaffung gesicherter Erkenntnisse. Stille. Sprichwörtlich der „Sound of silence“, der zwar von Paul Simon stammt, auf den mich jedoch erst so richtig Disturbed aufmerksam werden ließen.

Alles schläft. Nachtfahrt. Blindflug. Politische Schlafwandler und Schnäppchenjägerinnen am Ruder.

Weselsky geht in Rente. Dann ist auch die letzte kampfstarke Gewerkschaft tot.

„Der Kreis hat sich geschlossen, in unsern Herzen ist es nicht mehr heiß. „Wenn ein Fisch den Köder lockt“- Ich weiß, ich weiß, ich weiß.“ (Waggershausen)

Hoppla! Traktoren in Berlin! Tut sich was?

Auf ein friedvolles Weihnachtsfest und heiße Protesttage im Januar!

Ich hol mir noch‘n Kaffee.

Villa Falconeri

…und wieder’n Heyse.

Unter dem Titel „Villa Falconeri und andere Novellen“ verbergen sich im Urzustand der Zusammenstellung vier Novellen von 1887 und 88:

Villa Falconeri – Doris Sengebusch – Emerenz – Eine Märtyrerin der Phantasie

Weitere 4 Frauenschicksale der besonderen Art.

Aber diesmal ist einiges anders.

Ich brauchte für die nicht ganz 400 Seiten einen Monat. Es war also ein zähflüssiger Lesevorgang.

Lags an „der Schreibe“ des Autors? Lags an der Ablenkung durch thematische Aufreger „im Netz“? Oder am fortschreitenden Alter „des Rezipienten“? Gar an thematischer Übersättigung?

Ein bisschen von allem, am wenigsten am letzten Punkt. Denn Heyse lesen zieht dich in eine aufgeräumtere Zeit: Voller Ungerechtigkeiten, überholter Standesbarrieren, aber Familienleben war noch möglich. Man kannte sich aus im Regelwerk. Bürgerliche Existenzen schienen nicht im heutigen Maße gefährdet. Irgendwie eben doch „Gute alte Zeit“ (mit Wermutstropfen).

Muss ich die Klammeranspielung erklären? Ach, wurschd! Youngsters lesen hier eh keine mit.

Zur Einordnung:

Der „Falconeri-Band“ ist besser als die „Melusine-Sammlung“, die später entstand, aber auch deutlich weniger mitreißend als die „Victoria regia-Sensationen“ noch später. Die 5 Zeitgemälde aus letzterem können ihre Spitzenposition unangefochten behaupten.

heyseImmerhin: Die Titelgebende Novelle „Villa Falconeri“ offenbart ein Sensatiönchen für Kenner. Auf den zweiten Blick. Auf den ersten ist es zunächst eine recht ereignislose Angelegenheit mit heftigem „Bäm!“-Effekt am Ende.

Die abgelegene Villa wird bewohnt von einem alten, gesundheitlich angeschlagenen Kriegshelden, dem im italienischen Einigungskrieg eine österreichische Granate die Füße abriss. Dieser hat eine deutlich jüngere, schöne Frau, die sich langweilt, da er ihr nicht bietet, wonach ihr Geist verlangt. Sie soll schön bleiben, immer neue Kleider bestellen, häkeln, backen, spazieren gehen, um an die Luft zu kommen – „und der Kopf hat immer frei dabei“(Cäsar/Karussell).

Ein junger deutscher Philosophie-Professor verirrt sich in die Gegend und wird von beiden Ehepartnern gefeiert: Sie hat endlich einen Gesprächspartner und Literaturtippgeber; er hat nun ein Opfer, das seine Memoiren lektorieren soll. Er will als Kriegsveteran sein Vaterland mit seinen Erfahrungen beglücken, die noch junge Kriegsakademie benötigt Lehrstoff!

Es passieren die üblichen Heyse-Situationen: Knisternde Annäherungen, die ins Nichts führen. Jedoch fällt zuguterletzt dann doch ein verhängnisvoller Schuss.

Das ist zunächst nicht viel. Aber dann grübelst du eben doch, weshalb ausgerechnet diese blasse Geschichte dem Band den Namen gab. Die Falkentheorie!

Und schon reimen sich die Erkenntnispfennige zum Groschen!

Der noch relativ junge Heyse theoretisierte den Unterschied zwischen Novelle und Roman herbei, indem er sie aufstellte: Die Novelle lebt vom Überraschungsmoment, vom unvorhergesehenen Ende!

(Zum Beweis bezog er sich auf Casanova, der beschrieb, wie ein armer, aber glühender Liebhaber, der einen perfekt abgerichteten Jagdfalken hat, seine Fee zum abendlichen Rendevouz einlädt. Alle Welt schwärmt von seinem engen Verhältnis zu dem Tier und erklärt sich so das perfekte Zusammenspiel zwischen ihm und seinem Herrn. Da er nichts besitzt, brät er den Falken.)

Diese Idee trug ihm Ruhm ein. Von da an wurde er Bestandteil von Germanistikvorlesungen.

Der alternde Literaturstar, geheilt von mancher Lebensillusion, schrieb sich nun selbst eine Parabel auf den Leib:

Alternder „angeschossener“ Veteran mit viel zu junger, ihn überfordernder Frau, der er jedoch zu Dank verpflichtet ist, lebt ein privilegiertes – aber irgendwie doch unbefriedigendes – Leben; fern ab der Alltagskämpfe der Masse. Von Zeit zu Zeit lädt man sich junge Talente ins Haus. Sudermann, Wolzogen oder Ganghofer etwa; und hofft, dass diese die Ehre zu schätzen wissen und mit dem Weisen von München fachsimpeln über die Weltgeltung deutscher Literatur und die Nichtigkeit des Naturalismus. Und jeder junge Künstler, der in der Villa Heyse vorspricht, begegnet auch der fast 20 Jahre jüngeren Frau des Meisters. Die Konversation lockert sich von Mal zu Mal; gleich und gleich gesellt sich gern – – – die Herren kommen gerne wieder. „Läuft da was?“ Der alte Hausherr kann nicht mithalten bei all den Modewitzchen, die da gerissen werden. Sie albern, kichern – und er kichert mit, um zu retten, was zu retten ist. Er würde aber gerne schießen! Bäm! Allerhand los in der Villa des Falkentheoretikers.

Um „Doris Sengbusch“ genießen zu können, hilft es, Kleinstädter zu sein und eventuell einen ebenso kleinen (ehemaligen) Kurort zu kennen, wie Bad Segeberg oder Bad Kösen. Eine wohlhabende Einsiedlerin im „Waldhaus“, schweres Schicksal inclusive, wird aufgeschreckt durch Baumaßnahmen des Kurortes. Ein Stück Wald muss weg. Ihr Schutzwall vor der Menschheit! Heyse gilt als Förderer von Frau Ebner-Eschenbach, die Meisterin extrem trauriger Novellen. Hier hat er wohl versucht, von seiner „Schülerin“ zu lernen. Hm. Naja. Bissel zu sehr „drüber“.

heyse sengebusch

„Emerenz“ ist mit 50 Seiten die kürzeste der vier – und die „memorabelste“. DIESES Mädchenschicksal reißt mit! Kein Wunder, dass sie als illustrierter Einzelband Massenauflage erreicht haben muss. Sie ist die gefühlt häufigste antiquarisch angebotene.  Heyse wagt sich hier Stellung zu beziehen zum Thema „Sozialdemokratisierung der Industriearbeiter“. Er kommt zu anderen Schlüssen als sein Zeitgenosse Spielhagen. Auch das Thema Bildungsnotstand für intelligente Mädchen spielt mit hinein. Aber bei allem Zeitkolorit damaliger Gegenwart wird das kein ödes Traktat. Er bleibt sich treu – und lässt es knistern… erweckt Hoffnungen… ermöglicht Identifikation; bis heute! Ich verbiete mir das Spoilern. Selber lesen! Lohnt sich! Klarer Fall für die „Hitliste“!

Bleibt „eine Märtyrerin der Phantasie“. Heyse als Jim Jarmusch. Überraschung durch Verbandelung von Dingen, die doch gar nichts miteinander zu tun hatten. Tolle „Episoden-Brücken“! Er greift im Titel eine frühere Novelle von sich auf „Ein Märtyrer der Phantasie“, erwähnt sie absichtsvoll im Text, liefert das weibliche Gegenstück und greift in der Endepisode obendrein die Schlusssequenz aus „Emerenz“ auf – um sie ins Positive zu drehen. Wie im „Melusine-Band“ wird der Leser nach drei Trauerspielen optimistisch gestimmt entlassen.

Es lohnt sich also, alle 4 in dieser Konstellation gelesen zu haben. Die Umsortierungen späterer Ausgaben „ausgewählter Novellen“ zerstören da viel.

Wolzogens „Thronfolger“

oder: Die Verwerfungen des Seins

Engelhorn; 1892

Der alte General von Treysa ist stinksauer. LIEBEND GERN WÜRDE ER in seinem Räuberzivil; der alten abgeschabten Joppe, der ausgebeulten Manchesterhose, die ewig dampfende Knaster-Pfeife im Mundwinkel, mit seinen Hunden durch Park und Forst stromern. Da, wo ihn keiner sieht; oder höchstens mal ein Fuhrknecht mehr oder weniger ehrerbietig grüßt. Stattdessen muss er mit Frau und Tochter nun in die Stadt – und da eventuell sogar eine Wohnung für den Winter mieten, denn es ist Ballsaison und Melanie ist Debütantin. – Das heißt für ihn: Alle Tage Anzug, enge Schuhe, keine Pfeife in der Öffentlichkeit und auf dem Ball „schöntun“ mit von Hinz und von Kunz: Himmel, Arsch, Kanonenrohr!

– – – !- – – Oh, wie ICH das verstehe! HERRLICH!

Und in Zeiten, wo Medien sich an Dekadenzerscheinungen delektieren, ohne diese als solche zu benennen, lässt es genüsslich schmunzeln, wenn man höfische Situationen, wie hier im „Thronfolger“, geschildert bekommt und interpretieren gelernt hat: Bussi-Bussi. Shake Hands hier, freundlich tun da, sofort lästern bei Gesprächspartnerwechsel… „Vernetzen“ heißt das jetzt. Wo bleibt denn bloß der Glööckler! Ach, der war ja damals noch nich‘!

Zeitlos.

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Der Zwergstaats-Adel, der hier karikiert wird, ist heute als Chiffre lesbar, für den Bonzen-Adel ohne „von“ – zu finden im Raumschiff „Genderscheiß“. (Der Gag musste jetzt mal sein.) Das betrifft sowohl volksferne Politiker, wie auch reformunwillige Intendanten leistungslos alimentierter Sender. Sie alle eint fortschreitender Byzantinismus, wovon die Bauvorhaben der Sendeanstalten und des Berliner Kanzleramtes Zeugnis ablegen.

„Der weiße Saal des großherzoglichen Schlosses erstrahlte im Glanze mehrerer hundert Wachskerzen.“

So beginnt der Roman. Mit Protz. Aber nach heutigen Verhältnissen geradezu bescheiden. Ab wann hatte sich eigentlich elektrisches Licht durchgesetzt? Neujahrsempfang bei Großherzogs. Und der Thronfolger ist der Harry Styles des Abends.

Kommt einem alles so vertraut vor.

In Wolzogens Roman gibt es einen alten, fetten Höfling, der der Mädchenbeschaffer für den Erbgroßherzog ist. (Nennen wir es den „Lindemann-Effekt“.)

Zynisch geschickt eingefädelt, dass jener Kammerherr eine „verwachsene“, kluge und anständige Tochter hat, die oben über der Wohnung, im Dachgeschoß, malt. Ergo: Anstand kann bei Hofe nur in verwachsener Form entstehen bzw. sich erhalten. Auch so ein treffendes Bild.

Damit dieses Atelier zum Sündendomizil werden kann, muss Töchterlein abgelenkt werden, um nicht zu stören.

Papa verordnet ihr also ein Bildungsprogramm zu abendlicher Stunde, indem er sie herausnimmt aus ihrem Freiraum da oben, herunterholt in sein Wohnzimmer und ihr Shakespeare vorliest, während oben in ihrem Atelier – ähem – „geturtelt“ wird. Klassische Bildung als Alibi. Missbrauch von Kunst. Fack ju, Willjemm!

Jedoch eigentlich geht es um Folgendes:

Der Thronfolger war 2 Jahre auf Reisen. Er kommt gereift zurück. Den Kopf voller neuer Ideen. Er möchte mit alten, sinnentleerten Ritualen brechen; ein liberaler Volkskaiser -herzog werden. Sein Berater ist ein Baron, der ein „Halbblut“ ist. Vater von Adel, aber Mutter Dorflehrers Tochter. Sie wurde nie „ehrlich gemacht“, aber immerhin der Sohn als Erbe „adoptiert“. Er empfindet den Makel seiner Herkunft tief. Das macht ihn zum Idealisten. Daher seine sozialdemokratischen Tagträume. Er lehrte auf Reisen den Thronfolger „sehen“. Er gab ihm ein Weltbild. Jedoch während er nun im Hochadel jenes Zwergstaates verkehrt, findet er sich wieder, in der ungewollten Rolle des Salonrevoluzzers, dessen Zitate lediglich als „pikant“ herum gereicht werden. Eigentlich will er da weg. Aber es gibt Anlässe, die wischen die bedeutenden revolutionären Anwandlungen für eine gewisse Zeit bei Seite.

Das große Wollen wird klein gerechnet. Sehr klein. Aus sehr privaten Gründen. Damals schon.

Das kennen Ossis aus Mauerzeiten. Wessis müssten draufkommen, wenn sie sich rückbesinnen, wieviel sie in Wahlkämpfen versprochen bekamen, und was schließlich wurde.

Die Macht hebt ab. Es fehlt der Kontakt zur Masse. Aus Unkenntnis erwächst Arroganz, die nur noch anweist – und sich über das Murren wundert.

Dieser Tage brauchen Berufspolitiker aller Couleur „wissenschaftliche Beratung“, weshalb die AfD erstarkt!?!

Wenn die Strukturen erstarren, haben sie sich überlebt.

Das Implodieren ist nur eine Frage der Zeit.

Wolzogen schildert das morbide Zaunkönigtum der Regenten des Reiches. Meint er Berlin und den dortigen jungen Kaiser der Ankündigungen? Der Leser mag dabei an den Hof von München, Weimar, Gotha, Meiningen, Braunschweig, Neustrelitz oder Schwerin denken (um nur die „wichtigsten“ Residenzen zu nennen). Überall tummeln sich Hofschranzen zuhauf. Das Volk muss sie luxuriös durchfüttern oder auswandern.

Hofft nicht auf den „Guten Großherzog“, der euch die Freiheit bringt! Er schafft es ja nicht einmal, die Frau zu freien, die er liebt, obwohl auch sie „von Adel“ ist!

An diesem Punkt bleibt der Autor stehen. Einer Revolution redet er NICHT das Wort. 1892 weiß er, dass „Mob an der Macht“ auch nicht die Lösung sein kann und die Pfeffersäcke des Mittelfeldes gieren nur nach Orden „von oben“ und einer Einladung zum Hofball. Der Schwester des Thronfolgers legt er eine treffende Analyse der bestehenden Verhältnisse in den Mund – und du denkst beim Lesen an „the Crown“ und die bemitleidenswerten Werdegänge von King Charles und Prinz Harry.

Was für ein modernes Buch!