Spielhagen „Ein neuer Pharao“ (1890)
Schon wieder ein Monolog über eine alte Schwarte? Wer braucht denn sowas?
Vermutlich niemand heutzutage mehr.
Aber das Niederschreiben von Leseeindrücken festigt sie. Manches Licht geht erst beim Darüber Schreiben auf!
Und wenn das dann im Blog steht, vergisst sich das nicht so leicht wieder – und ich kann selber hier „nachschlagen“, wenn das nächste Werk vom gleichen/ähnlichen Autor ansteht.
Denn all die alten Ideenklau-Entdeckungen sind Lesers Freude.
Jedenfalls seh ich das so.
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Es ist nun gut einen Monat her, dass ich „Ein neuer Pharao“ von Spielhagen las. Zum ersten Mal. Es ist also eine neue Bekanntschaft für mich. Und es ist eine schwierige. Das Gelesene geht in mir um. Kommt nicht zur Ruhe. Fehlversuch reiht sich an Fehlversuch, den Eindrücken schreibend gerecht zu werden.
Kennst du so janusköpfige Bücher, die in einem furchtbar stümperhaft zusammengetackerten Plot einen philosophischen Tiefgang vom feinsten präsentieren? Der Autor ringt dermaßen um „letzte Weisheiten“, dass die Kraft oder die Ausdauer, oder einfach nur die Lust fehlt, auch die Handlungsfabel so zu entwickeln, dass es fetzt.
- Da gab es in meiner Lesebiografie „Den Nachtzug nach Lissabon“, der mir immer als erster einfällt. Auf den passt das perfekt.
- Raabes „Die Leute aus dem Wald“. Ich schrieb damals, als ich unter dem Eindruck dieses Werkes stand: Ein Steinbruch der Gedanken und Assoziationen.
- Heyses „Über allen Gipfeln“ gehört auch dazu.
Jammerschade, weil man als Leser die Schwächen merkt und sich automatisch wünscht: Aaaaaach! Warum haste jetzt nicht beschrieben, wie…?! Wo bleibt das Motiv für diese Aktion?! Einer, der so aufwächst, reagiert doch später nicht sooooo! Wenn die so selbstlos Almosen verteilt, wovon lebt sie selbst? Usw.
Spielhagens „Pharao“ ist einerseits ein Werk der Unlust. Aber auch eine harte, treffende Zeitbilanz. Und auf der dritten Ebene zeigt sich ein ratloser Autor, der mit seinen eigenen Seismographen hadert, die ihn bis hier her -in sein 60. Lebensjahr- geführt haben.
Hier ringt einer mit sich, der weiß, wie sehr er zwischen allen Stühlen sitzt, dem aber die freiwerdenden Sitzplätze hier und da nicht gefallen. – Oh! Das kenn‘ ich sooooo gut!
(Watt is‘, wennste nürjendswo dazupass‘!)
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1. Biographischer Hintergrund:
Spielhagen wurde 1829 geboren und erlebte seinen Durchbruch 1861, also relativ spät. Sein Erfolg, der ihn ganz nach oben trug und zum meistgelesenen poetischen Realisten seiner Zeit machte, hielt ungefährdet bis ca.1880 an. Die 80er Jahre des Kaiserreiches sind innenpolitisch eine Zeit der Stagnation. (Alter Kaiser im Weiter-so-Modus macht was alter Kanzler will.) Bismarck reagiert auf Zeitläufe, aber auch ihm kommt das Gespür abhanden, das ihn in den 60ern trug. Reaktionärer Konservativismus macht sich breit, wie in der DDR unter der Ägide der „Alten Männer von Wandlitz“.
Spielhagen wird angefeindet, weil er die Reichstagsreden des kritischen Liberalen Eduard Lasker in Abendgesellschaften der Berliner Schickeria, bestehend vorwiegend aus Aristokraten, verteidigt; weil der Hofprediger Stöcker medial gegen ihn Front macht, er sei ein „Judenfreund“ und ein neuer Antisemitismus kurz aber deutlich in der „Besseren Gesellschaft“ Berlins en Voge ist, bis Kronprinz Friedrich Wilhelm demonstrativ mit Hofstaat und in Uniform die Synagoge besucht und Stöcker in die Wüste schickt. Aber die böse Idee ist in der Welt. Stöcker gab das Stichwort in Preußen. Das Gerede vom verderblichen Einfluss der Juden hat die Salons erreicht.
Berthold Auerbach stirbt. Spielhagen gibt in „am Wege“ Einblicke in seine lange Freundschaft mit ihm. Auerbach ist in den 80ern bereits ein Vergessener. Er war Bestseller Autor in den 50ern und 60ern. Und er ist Jude. Spielhagen verwaltet seinen Nachlass. Auch das trägt ihm Naserümpfen hinter vorgehaltenen Fächern ein.
Spielhagen bekommt ein Reichstagsmandat der Liberalen angeboten – und lehnt ab. Auch auf dieser Seite ist man enttäuscht und schüttelt die Köpfe.
Spielhagen äußert sich in einem Essay gegen die Todesstrafe: Als alle Gazetten Zeter und Mordio schreien, weil ein Attentat auf den spanischen König misslang und nun der Prozess gegen die Täter die Schlagzeilen bestimmt.
Wenn der Dichter die Attentäter schonen will, dann ist er selber einer!
Nu wird er auch noch zum „Anarchisten“ gestempelt!
Wenn du solchen Mist über dich in den Zeitungen liest, die Einladungen zu den Abendgesellschaften weniger werden, sich die Besucher deiner eigenen Abende dezimieren mit furchtbar dürftigen Ausreden, wenn dich Leute auf der Straße anfangen zu übersehen, die dir bisher mit lautem „Hallo“ aufdringlich auf die Pelle rückten – dann kommt dir schonmal die Galle hoch!
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2. Der historische Zeitgeist
Und wenn dann vollends dein Hoffnungsträger Kaiser Friedrich III. nach nur 99 Tagen Regentschaft 1888 das Zeitliche segnet und sein missratener Sprössling an die Macht kommt, der noch gestriger regieren will als der Opa, dann spricht es aus dir:
„Da war ein neuer Pharao, der wusste nichts von Joseph…“
Der Satz muss irgendwo in so „Bibel-Nebenschriften“, dem „anderen“ Buch Mose stehen. Spielhagen fand ihn passend und machte daraus einen Buchtitel. Er umging so die Malaise der Majestätsbeleidigung, die seinerzeit noch unter (Haft-)Strafe stand.
In einer Zeit, in der es keine Hoffnung auf Veränderung zum Guten gibt, kann man nur hoffen, dass da irgendwo bereits ein Joseph herumtischlert, der eine Maria freien wird – und diese gebärt dann (unbefleckt oder nicht) einen Messias, der endlich eine neue Idee bereitstellt!
Sind das eventuell Bebel oder Liebknecht? Spielhagen ringt mit der neuen Kraft „Sozialdemokratie“, er findet ihre Ansprüche berechtigt, er zweifelt aber an ihren Vertretern, die zu plump-, zu hetzerisch zu „jakobinisch“ auftreten und sobald sie in besseren Verhältnissen landen -neureich geworden- die alten Ideale selbst verraten. So erzeugt er im „Pharao“ die Figur des verstoßenen Sohnes Hartmut Ilicius, der die Partei als Trittbrett benutzte, um „schaumschlagend“ nach „oben“ zu gelangen; und auch sonst den typischen Hazzardeur abgibt: Durch Skrupellosigkeit zum Licht; wie einst sein Vater, der ihn verleugnet.
(Ilium -Eingeweide ->Triebmenschen. Oder aber „illegitim“ bzw. „ill“ krank/verdorben. Passt alles auf die gesamte Familie im Roman.)
Womit wir beim Ideengehalt des Buches angelangt sind:
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3. Der philosophische Steinbruch
Normalerweise offeriert uns FS in seinen Werken einen Protagonisten als irrende, suchende Lichtgestalt, deren moralische Überlegenheit erst entsteht. Der Leser geht diese Entwicklung mit. Hier nun ist die Lichtgestalt ein alter Mann.
Obwohl FS die Zeitumstände von 1890 ohrfeigen will, verlegt er die Handlung ins Jahr 1878 zurück, die Zeit der beiden Kaiser-Wilhelm-Attentate, die im Roman auch eine Rolle spielen und die Auslöser des Sozialistengesetzes werden. FS will zeigen, wie all das anfing, was 1890 plagt:
Das Schwadronieren, die Denkfaulheit, die Hohlheit und somit Zukunftslosigkeit des bestehenden Reiches.
Im Mittelpunkt des Geschehens plagen sich ein paar junge Leute mit Liebesverirrungen und scheiternden Eheanbahnungen. „Heiratspolitik“ mal wieder. Nur als Vehikel. Das Interessante sind die Ränder des Geschehens.
Der besagte alte Mann, der die Moral an sich verkörpert, ist eine Randfigur. Wie die Moral realiter ja stets ein Schattendasein führt.
Er ist ein Baron von Alden, der 1848 Renegat- und somit revolutionär war; ein edler Denker, der 1849 nach Amerika emigrierte und nun 1878 unter falschem Namen (Schmidt/Smith) als Familien-Faktotum einer amerikanischen Millionärsfamilie mit dieser nach Berlin heimkehrt.
Er (=die Moral) war Hauslehrer der inzwischen erwachsenen Kinder des Millionärs Curtis, eines früheren Sklavenhändlers und Abenteurers. Sie benötigen ihn eigentlich nicht mehr; jedoch schleppt ihn die Familie eben so mit. Ein Bild von symbolischer Kraft.
Er (=die Moral) heiratete einst die falsche Frau, die seinen Ideen nicht gewachsen war.
Er (=die Moral) vertraute einst dem falschen Freund Ilicius; der ihm in Abwesenheit Frau und Vermögen nahm – und somit die Möglichkeit, selbstständig wirken zu können.
Somit klammert sich der Baron als personifizierte Moral an den kränkelnden Ralph Curtis, den Sohn des Millionärs, der, anders als sein skrupelloser Vater, die Anlagen zum Edelmenschen (dank Smith’scher Erziehung) zwar in sich trägt, jedoch eine Art Zeitlupentod stirbt. Ergo: Was Smith (= die Moral) erschuf, ist nicht lebensfähig in einem Umfeld der Trixer und Spekulanten.
Smith trifft zusätzlich auf den Hausarzt Dr. Brunn. Ebenfalls alter 48er, jedoch einer, der, geblendet von den Siegen, an das neue Deutschland glaubt; der noch auf Reformen hofft und selbst dafür im Reichstag kämpft. Interessant der Name: Brunn – nicht Brunnen oder Brunnenbauer. Brunn = halbfertig. Kein Quell der Erneuerung. Wird noch zuende gebaut? Ruiniert? Jedenfalls auf halbem Wege „steckengeblieben“.
Aber auch Smith ist kein Überflieger. Obwohl er Spielhagens alter Ego entspricht. Sein Scheitern ist Ausdruck spielhagenscher Selbstkritik: Passe ich noch dazu? Wo ist „Joseph“? Wie lange wird man noch ausharren müssen – bis sich was zum Guten ändert?
Das wird besonders deutlich, als er per längerem Monolog den schlitzohrigen Hartmut Ilicius „ins Gebet“ nimmt. Er sieht in ihm einen intelligenten jungen Mann und appelliert an ihn – zu vergeben, zu verzichten, durch ehrliche, auf sich gestellte Arbeit einen Neustart anzugehen. Ilicius hört zu, hält aus – und stellt nach seinem Abgang hinter der Tür nur fest:
Ich muss hier fort! In diesem Hause spinnen sie ja alle!
Wie oft werden solche Iliciusse vor mir gesessen haben? Einige haben’s mir gezeigt. (Immerhin: Fans gabs auch!)
Die Moral (Smith) hat nichts erreicht. Hartmut Ilicius scheitert zwar wenig später ebenfalls, jedoch sind da noch so viele andere schwadronierende, junge Leute übrig, über die FS beide Curtis-Kinder zu unterschiedlicher Zeit urteilen lässt:
„Schneidig. Adrett. Gepflegt. Aufgeschnappte Phrasen nachplappernd. Sich auf Papas Geld verlassend. Denken die irgendwann mal selbst?“
Hach. Alles so aktuell! Dieser Post könnte endlos werden. Drum brems‘ ich mich hier.
Andere Spielhagenromane sind perfekter ausgeführt, hier aber ist er weltanschaulich am brisantesten. Der Böll, der Grass, der Kehlmann seiner Zeit.