
Heyses Schlussstein
Ist!
Das!
Stark!
Da wollte einer den Buchmarkt nochmal so richtig rocken, aber keiner hat’s gehört. Die zeitgenössischen Literaturgeschichten schweigen das Werk tot, wie zuvor schon „gegen den Strom“.
Heyse schrieb 1910 mit -für DIE Zeit- sensationellen 80 Jahren seinen letzten Roman – und es ist ein toller Schlussakkord geworden! Auch wenn „gegen den Strom“ sein eigentliches „Vermächtnis-Album“ bleibt – aber da war noch was offen!
„Für wie moralisch integer haltet ihr unsere Zeit, liebe Leute?!“, fragt er und liefert die Antwort mit: Nicht mehr meine Zeit; aber eure eigentlich auch nicht! Ihr seid nicht in der Lage, das ins Bessere zu drehen! Das 20.Jahrhundert wird kein leichtes!
Der Titel mag manchen abstoßen.
Er gemahnt zunächst an das berühmte Botticelli-Gemälde, meint aber die Entstehung einer der vielen Coverversionen, die um 1900 entstanden und heute alle ein bisschen wie die Schlafzimmerbilder vom Trödler nebenan wirken. Die Maler alter Schule waren in der Bredouille. Heyse springt ihnen bei. Der Liebhaber von Zentauren und Illias-Bebilderung bleibt vom Impressionismus unbeeindruckt.
Etwas ähnliches hat Heyse mit seiner Novelle von der „Irdischen und himmlischen Liebe“ schon mal geboten. Damals stand ein alter Tizian als Namensgeber Pate. Auch dieser Titel las sich gewöhnungsbedürftig, doch auch diese Novelle gehört unbestreitbar zu seinen Hits.
In der „Geburt der Venus“ erhältst du eine hauchzart erzählte, anheimelnd tolle Liebesgeschichte. Hier kriegt er dich genauso wie mit „dem verlorenen Sohn“ und den „Moralischen Unmöglichkeiten“.
„Es gibt moralische Unmöglichkeiten, die einer solchen Eheschließung nun mal im Wege stehen.“, sagt der sympathische Vater des träumerischen Malers. Zufall? Berechneter Wiedererkennungseffekt?
Das Vater-Sohn-Gespräch, aus dem der Satz stammt, ist eins der vielen kleinen Highlights des Werkes. Wenn der Sohn die dem Vater entgangene Karriere lebt, dann ist das Topverhältnis sattelfest. Beide verachten elitär die spießbürgerliche Meute. Und trotzdem bedrohen die Spielregeln des „blöden Haufens“ das Familienglück.
Heyse thematisiert die völlig überholte Heiratsetikette seiner Zeit, die uns heutigen Lesern eigenartig kurdisch/arabisch vorkommt. Und die Duelle waren unsere Spielart von Ehrenmord. Wobei eher die Männer zu schaden kamen.
Das erbärmliche Schicksal der Hanna illustriert zeittypische Umstände und führt somit dem Leser vor Augen wie prüde und somit folgerichtig frivol verdorben ein Zeitgeist ist, der die Erschaffung erotischer Kunst sofort in den Dreck zieht. Wenn Heyse hier 1910 mit Moralkriegern seiner Zeit abrechnet, dann hinterlässt das so einen überraschend aktuellen Nachhall.
Herrlich beschrieben, wie Trude, die Pastorentochter, den Fanatismus ihres Vaters unterläuft und damit zeigt, wo Heuchelei für den gesunden Menschenverstand überlebensnotwendig ist: Im Pfarrhaus.
Ja, wieder ein böser Pastor, wie in „Crone Stäudlin“, wie in „Moralische Unmöglichkeiten“.
Ja, wieder so ein aristokratisches Aschenputtel wie die Traud in „Irdische und himmlische Liebe“.
Ja, wieder so ein verpeilter Professor Chlodwig, wie dort, diesmal als aussichtsreicher Maler.
Und wieder so ein Dr. Berndt, als zynischer Kommentator und helfender Freund, der wiederum mehr Durchblick hat, als die Hauptfigur.
Heyse variiert die „Irdische und himmlische Liebe“ hier zum Roman. Er zeigt, dass ihm zum Ende hin bewusstwurde, dass das sein bester Plot war.
Der Zweitaufguss alter Ideen kann schief gehen. Ihm gelingt er! Jedenfalls bei mir trifft er ins Schwarze. Wie Yes mit „Yes-Album“ und „Fragile“, wie Pink Floyd mit „Dark Side…“ und „Wish you…“, wie Nazareth mit ihrem Debut und der „expect no mercy“.
Und das Sahnehäubchen an der ganzen Geschichte ist, dass dieser Schlusspunkt einer großen Laufbahn mit Spielhagens „Opfer“ von 1901 zu korrespondieren scheint, was ja auch in dessen Fall fast ein Schlusspunkt war.
Heyse, mit einer Kunstauffassung von gestern und Moralvorstellungen von morgen, Kind seiner Zeit, präsentiert die Themen jener Ära zeittypisch: Allweil realistisch, aber umhüllt mit Schmauchspuren vergehender Romantik, die sich „klassisch“ gibt und somit Gefahr läuft, nur als kitschig verlacht zu werden. Der notwendige Gegenpol zu Fontane und Mann.
In Zeiten, wo dir Historiensurrogate in Form von Fernsehfilm und -serie vorgaukeln, dass unsere Altvorderen einst unsere heutigen Zustände herbeigesehnt hätten, sind Heyse, Spielhagen & Co. notwendige Kronzeugen, dass dem nie so war.
Sicher ließe sich auch im Falle der „Venus“ das eine oder andere missglückte Detail aufrechnen. Es ist wiederum ein „Thüringen“, das eigentlich eher München und sein Umland ist. Für die Inspiration zum Titelgebenden Kunstwerk via Kletterpartie auf einsamer griechischer Insel hätte sich sicher was Besseres finden lassen, als ein angeblich reales Erweckungserlebnis. Aber geschenkt. Nach 10 Seiten kippligen Einstiegs, der kurz die Gefahr einer zweiten „Crone Stäudlin“ am Horizont erscheinen lässt, erzählt sich hier ein mitreißender Erzähler seine Lebenserfahrungen im „blöden Haufen“ vom Hals und schmeißt die Türe zu.
Auf dem Titel steht „Roman“. Es ist tatsächlich eine Novelle. Zwei moralstrenge Heilige werden – sie durch ihre Not, er durch die Gottheit – zu etwas von ihrer Umgebung als unmoralisch erachteten gezwungen. (Dass Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Kunstmetropole das Aktmodelstehen als unmoralisch galt, müssen wir so hinnehmen. Ich glaub es nicht.)
Dass der Held auf einer griechischen Insel die Geburt der Göttin erlebt, ist sehr schön. (Aber warum sagt er, der die Odyssee im Original liest, nicht Aphrodite?)
Dann findet er den Einfluß seiner Cousine auf seine Schwester „unheilvoll“, weil sie ihr Hedda Gabler zu lesen gab! „Liebes Herz, was hast du für abenteuerliche Vorstellungen von der Freiheit! Hat Trude das jetzt so beliebte Modewort aller unverstandenen Weiblein vorgesungen, daß man sich „ausleben“ müsse? Glaube mir, kleine Schwärmerin, viele haben die Freiheit nur dazu, sich unglücklich zu machen.“ Und so schickt er sie zurück in den Familienknast!
Ich hatte kurz die Hoffnung, dass Marcel sich entwickelt. Dass er bei seinen Eltern auszieht und eigene Meinungen entwickelt. Dass ihn seine Venus verführt – wenn er schon zu doof dazu ist – und ihn zu einem Mann macht. Das wäre ein Roman!
Aber nee, Hanna ist so streng wie er.
(Wirklich „spielhagensch“ ist, dass Hanna das in einer Försterei aufgewachsene leibliche Kind eines Grafen ist.)
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Ja, so ähnlich hatte ich das schon von dir erwartet. 🙂
Dass man die Aktmalerei als letztlich pfui-pfui-pfui ansah, glaub ich ohne jede Einschränkung. Spießbürgertum, Biedermeier-Erbe. Anständige Kirchgänger, die ihre Dienstmägde vernaschen.
Dass er eher von Venus als von Aphrodite spricht, ist zeittypisch. Wegen Botticelli und wegen der Amputierten von Milo. Auch Spielhagen hatte ja so eine Meterkopie als Stehrümchen in seinem Arbeitszimmer stehen.
Der Familienknast der Dagoberts ist gemessen an Pastor Schwager noch ein offener Vollzug. Schwagers Haushalt erinnert ans „Weiße Band“. Allerdings ist Trude gewitzter im Beschaffen der verbotenen Literatur.
Die Unmöglichkeit einer legalen Ehe zwischen Hanna und Marcel wird gründlich genug erläutert.
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