RAABE lesen! (4)

„Else von der Tanne“(1865)

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Else von der Tanne ist Novelle Nr.2 aus jenem Reichskronebüchlein, das mir 1975 ins Netz ging.

Gelesen habe ich sie damals nicht. Mag am Titel gelegen haben.

„Theo von Tanne“ war ein unter Schülern gefürchteter Name.

Aber in der 8. Klasse hatten wir ja noch kein Effi-Trauma. Da muss es andere Gründe gegeben haben. Eventuell las ich seinerzeit die erste Seite an: Ein Dorfprediger schreibt…. „Oach! Lass’n schreiben.“

Somit datiert mein Erstkontakt mit diesem Inhalt auf 2021 und da fiel mir beim Lesen schon so einiges auf und ein.

Der Plot ist diesmal ein gar nicht komplizierter: Baue eine Idylle auf und zerstöre sie gründlich!

(Leg dir Haggard auf, wenn du sie liest.)

Im „Elend“ (die Talsenke heißt wirklich so) am Harz bekommen wir ein mehrfach geplündertes Restdorf vorgestellt; durch den Pastor der über einer Neujahrspredigt grübelt, die es dies‘ Jahr in sich haben soll, denn er will seiner „Herde“ die Leviten lesen!

Er ist das letzte Oberhaupt, das da geblieben ist, bei ihnen, als die Welt über Deutschland unterging. Von Rügen über Brandenburg-Thüringen-Franken- Pfalz zog sich ein breiter Korridor des Todes, in dem 30 Jahre lang mehrfach hin und her gezogen-geplündert und gemordet wurde.else 4

Pfarrer und Dorf wurden bereits dreimal Opfer derartiger Überfälle, als eines Tages ein bewaffneter bärtiger Hüne mit 4 Hunden, Eselkarren und kleinem Mädchen auftauchte und sich oberhalb des Ortes an der großen Tanne im Wald ein Lager bereitete.

Er redete mit niemandem und begehrte nichts. Also staunte man nur und ließ ihn machen.

Eines Tages kam er allein herunter in den Ort, setzte sich Pfeife rauchend vor’s Pfarrhaus und wartete bis der Hausherr erschien. In perfektem Latein bat der Fremde um Unterstützung. Somit gab er Bildung zu erkennen und vergrößerte den Abstand zu den gaffenden Bauern. Eine Freude für den Pastor, in Zukunft einen Ansprechpartner seines Niveaus zu haben. Der Fremde bat, ihm zu helfen, ein festes Hüttchen zu errichten, oben am Wald für den Winter. Der Pfarrer möge doch die Bauern veranlassen, tätig zu werden.

Die Hütte entstand. Aber die Bauern sahen nun auch eine Menge rätselhaftes Zeug vom Eselskarren in die Hütte wandern, dessen Zweck sie sich nicht erklären konnten.

Die Gerätschaften, die Bücher, die abweisende Abgeschiedenheit, und dazu der seltsame Magnetismus, der auf den Pfarrer wirkte, da er fast täglich bei dem Fremden verkehrte…

„Unser Pfarrer ist verhext!“

Die Fremde wurde zur Gefahr erklärt.

Er war eigentlich nur ein gebildeter Domschullehrer, der 1631 das Magdeburgmassaker überlebt hatte, als Tilly nach einjähriger Belagerung sein Heer eine Woche plündern ließ. Der wortkarge traumatisierte Davongekommene wollte nie wieder in Ortschaften leben, die das Räubervolk ja regelmäßig anzogen – und richtig! – bei der vierten Brandschatzung des Dorfes blieb das Haus an der Tanne im Wald unentdeckt.

else 1Die Jahre gingen hin in einer Art Burgfrieden zwischen Dorf und Tannenhütte. Das kleine Mädchen wurde eine hübsche Jungfrau, die wie ihr Vater eher mit den Bäumen und Tieren sprach, denn mit der Dorfbevölkerung.

„Seht die Hexe!“ murmelte das Dorf immer lauter.

Aber noch fürchteten sie die Muskete des Vaters.

Raabe gab Else, der Tochter,  im letzten Drittel ein Reh an die Seite, was an „Brüderchen und Schwesterchen“ erinnert. Wald. Geruhsame Einsamkeit. Baldige Errettung in Aussicht stellend… Aber der Autor bleibt in der Dramenschiene.else 3

Eines schönen Tages geschah die Katastrophe: Die Sonderlinge von der Tanne besuchten einen Gottesdienst – was böse Folgen hatte. Verletzt liegt Else von nun an in der Hütte.

Das Jahr vergeht, es wird Winter. Die Wochen bis zum Jahresende fliegen dahin – man munkelt von Frieden, unterschrieben da irgendwo in Osnabrück. Der Pfarrer will in seiner Neujahrspredigt auf diese Hoffnung eingehen, aber auch Abrechnen mit seiner abergläubigen Gemeinde. Er ist hinundher gerissen zwischen Hass auf diese stupiden, brutalen Lumpen, die seinen Freunden soviel angetan hatten, und Verständnis dafür, dass bei diesen Umständen, wie sie in Deutschland nun einmal die Überlebenden prägten, nichts anderes erwartet werden kann.

Da erscheint im tiefsten Schneegestöber die alte Dorf-Irre und prophezeit den baldigen Tod der Else – er möge eilen, wegen der Sakramente!

Er eilt. Und nocheinmal ereignen sich seltsame Dinge in jener Sturmnacht am Ende des 30jährigen Krieges im Harz…die Neujahrspredigt fällt aus… die Gemeinde wird am Neujahrstag ihren Prediger suchen gehen…

Nehmt und lest.

Die Geschichte hat 3 Gesichter.

  1. Sie ist düster und spannend erzählt. Das führt den jugendlichen Leser eventuell auf die Abenteuerschiene: Wird Elses Vater rechtzeitig schießen? Greift der Pfarrer auch noch zur Waffe? Kommt ein dritter Retter? Wer bestraft die Täter?

Eventuell steigt er selbst in den Plot ein, als imaginärer Retter der Fee aus dem Walde…

  1. Dem historisch interessierten Leser mag es heute unter Umständen so scheinen, als gäbe es geschichtlich nichts als das Thema NS und Holocaust. Die Regale „Geschichte“ in den noch rudimentär vorhandenen Buchläden sind oft arg monothematisch bestückt. Gerät er dann an Raabes „Else“ merkt er eventuell: So singulär wie jene katastrophale Fehlentwicklung des 20. Jahrhunderts scheint, ist sie gar nicht! Raabes Pfarrer bringt Ursache und Folge von stupider, grausamer Enthemmung zusammen. Die Fehlprägungen des Kriegserlebnisses, des Elends Erduldens im Verein mit jenem Bildungsmanko der Zeit ergeben eben diese Folgen.

Und wer I.Weltkrieg, Kohlrübenwinter und Spanische Grippe zusammenbringt mit Versailler Vertrag und Inflation‘23 in der „ach so tollen“ Weimarer Republik, der findet zurück auf einen Erkenntnispfad, der früher mal gewusst wurde: „Schlangenei“ (Ingmar Bergmann)  und „Spinnennetz“(Bernhard Wicki): Hitler fand ein vorgeprägtes Volk vor, vom Erlöserwahn befallen, Volksgemeinschaft vermissend, freiwillig in der Herde sich aufgebend, mitmordend, weil man ja siegte, solange man siegte.

Es ist dieselbe Struktur der „Volksseele“, die Raabe 1865 treffend veranschaulicht, und die eben nicht mit dem Westfälischen Frieden verschwand, sondern ab 1933 real dieselben geistigen Abläufe zeigt.

Erst bestaunt man den Fremden – dann baut man ihm eine Hütte – Kontakt fehlt, kennen lernt man sich nicht – dann belauert man sich – dann vernichtet man ihn (eine Zeit lang) – und hinterher will die Kirche eine Bußpredigt halten, die nicht zustande kommt…

  1. Der nicht historisch interessierte Leser wiederum ist trotzdem in der Lage, hier zu erkennen, welch Problem es darstellt, für eine gebildete Minderheit in einer ungebildeten Mehrheit zu bestehen. Ein bissel Smalltalk mag ja gehen, aber…

Die Dummheit ist immer in der Mehrheit und zahlst du ihr ihre Frotzelei mit gleicher Münze zurück, dann solltest du auch Arnold Schwarzeneggers Arme haben, um deinen Argumenten Nachdruck verleihen zu können.

„Sie haldn mich wohl für blöde?!“ baut sich der dicke Maurer vor mir auf, der mir gerade erklärt hat, wie er MEINE Arbeit machen würde.

„Äh – ja klar?!“ (denke ich wenigstens tapfer, mangels Muskelmasse und Muskete).

Ich treffe hin und wieder meinen Hausarzt im 15 km entfernten Ort bei edeka. Wir nicken kurz und jeder schiebt woanders hin. Ich bin aus demselben Grund da, wie er.

Wir hätten edeka und Lidl vor Ort. Aber da droht eben plauzig-blöde Ansprache – vom Plebs.

Raabe lesen – hilft!

Sein Pfarrer hat meine Sympathie.

Ein Gedanke zu “RAABE lesen! (4)

  1. Kaum blättere ich in meinem Stach, wiederlese ne Kafka Geschichte und laufe das Donauufer ab, da hebt der Bluedgeon schon die nächste Raabe Geschichte aus: Else von der Tanne. Großartig. Düster, ohne Sülze, ein tolles Raabestück. Du hast mit allem recht, was Du schreibst, vor allem mit Deiner Aufforderung: Raabe lesen!

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