„Des Reiches Krone“ (1870)
Gedankenspiele:
Es hat sein Geschmäckle, die Wiederbegegnung mit einem Text zu feiern, den man mit 15 mit Betroffenheit las und der einem 46 Jahre später wieder begegnet.
Was ging mir 1975 durch den Kopf, als ich das Büchlein für 4,50 M kaufte und nur die erste Novelle von dreien las, die es enthält? Was hat mich davon abgehalten, die andern beiden zu lesen, wo mir doch die erste sehr gefiel?
War es irgendeine Pflichtliteratur? Damals Ende 8. Klasse? Gar der Storm’sche „Schimmelreiter“?
War es eine Karl-May-Massenborgung, die bald wieder zurückgegeben werden sollte?
Ich weiß es nicht mehr.
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Fest steht, dass ich durch diese Novelle erfuhr, dass Konstantinopel und somit Byzanz erst 1453 unterging.
Dass Jahre zuvor in den Hussitenkriegen, diese nicht zum Zwecke des ehrlichen Predigens von Gottes Wort durch die Gegend zogen, sondern um Rache zu nehmen für die Hinrichtung von Jan Hus 1415 in Konstanz. (Nur kamen sie nie dorthin. Sie zogen lieber kreuz und quer durchs beuteverheißende Sachsen bis rauf nach Danzig. (Die dachten also damals schon wie George W. Bush.)
Naumburg an der Saale feiert alljährlich im Juni umfangreich ein Kirschfest. Prokop der Hussite soll die Stadt einst belagert haben. (Fake-News eines phantasievollen Schneiders aus dem 18.Jahrhundert) Ein Lehrer ging mit einem Mädchen-Chor im Büßergewand ins Lager der Hussiten. Der Kindergesang soll diese so gerührt haben, dass sie auf die Bäume kletterten, die Kinder mit Kirschen bewirteten und die Stadt nicht „berannten“. Hussiten standen also in eher mildem Licht.
Bei Raabe wird gegen sie gekämpft. Perspektivwechsel lernen – das hatte was!
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Doch der Reihe nach:
Raabes Novelle hat eine Rahmung. Der Ich-Erzähler, ein alter Nürnberger Patrizier, schreibt 1453 in seinem ehemaligen Kinderzimmer seine Memoiren und holt somit alle die aus dem Totenreich zurück, die ihm einst wichtig waren und leider jung verstorben sind. Die Glocken läuten allüberall, während er schreibt, denn die Nachricht vom Fall Konstantinopels traf gerade ein. Er aber erinnert sich an ganz andere Kämpfe und Erlebnisse aus seiner Jungmännerzeit, damals in den 20ern – eben jene Hussitenkriege.
Raabe schildert die Situation des alten Weisen da, so saturiert, aber erschöpft vom Leben; so vereinsamt im Elternhaus, dessen „Wohnräume den Spinnen und den Mägden überlassen“ bleiben, da ihm seine alte Dachstube mit dem Ausblick in den Garten reicht; dass du dich als Leser jeden Alters automatisch identifizierst, wenn du in deiner Kindheit reichlich Altstadtflair aufgesogen hast, so wie ich.
Die verblüffend grünen Hinterhöfe, die du innerhalb des ehemaligen Stadtmauerringes gar nicht vermutest, wenn du dort Klassenkameraden besuchst! Diese Laubengänge entlang der Nebengelasse, die mal Remisen oder Werkstätten waren. Die vielen, vielen buntverglasten Oberlichter der Fenster, die leider, leider der 90er Jahre Renovierung vielfach zum Opfer fielen!
Diese Geborgenheit, die dich umfängt, wenn du hinter Butzenscheiben auf uralten Dielen mit deinen Kumpels noch mit Bleisoldaten „von früher!“ (Sensation!) oder mit Lineolsoldaten (noch seltener!) spielst! Aus den Bücherschränken der Väter grüßt alter Buchbestand in Goldschnitt und Leder! Du wünscht dir automatisch nichts so sehr, wie in diesem Ambiente altwerden zu können.
Es kam anders.
„Nehmt und lest!“ ist als Mehrfachmahnung in die Novelle eingewoben.
Das Wiederlesen der „Reichskrone“ geschah tatsächlich im selben Zimmer wie damals ’75!
Und die Lektüre ging ihre ganz eigenen Wege.
Vater nun gestorben, sein Deutschlandfunkradiogeplapper ist verstummt. Hund und Bruder fehlten. Mutter werkelt im Erdgeschoss.
Nun war ICH tatsächlich der Alte oben in seiner Kindermansarde!
Es klingelt. Aber es ist nicht Udo, der mich zur Radtour abholt oder Christian mit einem Plattenbeutel unterm Arm.
Es ist Bofrost. Mutter geht schon zur Tür. Ich kann also weiter grübeln.
Bücherschrank und Lampe sind noch die Alten. Die Liege wurde inzwischen mal erneuert, steht aber an selber Stelle.
Auf dem Bücherschrank fehlt die Bierbüchsenpyramide. DAS Relikt der frühen 70er, das damals so ziemlich jeder hier herum hatte. Jörgi’s Vater hatte sogar eine im Wohnzimmer auf dem Bücherbord.
Allerdings nur bestehend aus 3x DAB und 3x Dortmunder Union, weil es die nunmal im Intershop gab.
Meine war bunter; zusammengekaupelt für doppelte Mosaiks, Bleisoldaten, Kaugummibilder…
Als der Jupiter einzog (das große Spulentonband), wanderte die Pyramide frei von Wehmut in den Müll. DIE Mode war vorbei. Der Musikaltar brauchte Platz! Inzwischen ist auch er dahin.
Raabe beschreibt, wie der Alte da in der Dachkammer nichts mehr besitzt, was er den „reinigenden Flammen“ opfern könnte, da ein Mönch dies gerade marktschreierisch von allen Gläubigen verlangt, damit Gottes Zorn gemildert werde und die Türken nicht auch noch bis Nürnberg kommen.
Du weißt dank MOSAIK und einiger Kreuzritterromane:
Das griechische Kaisertum in Nöten! Byzanz hatte nicht erst 1453 Schwierigkeiten. Sein Abwärtstrend setzte mit den Kreuzzügen am Ende des 11. Jahrhunderts ein. Die Sarazenen drückten aus dem Osten, die katholischen Ritterheere kamen aus dem Westen. Ursprünglich kamen sie „zu Hilfe“, aber sie entpuppten sich zusehens als Belastung. Sie waren vor allem scharf auf Hafenstädte, als Stützpunkte für die Versorgung ihrer Kreuzfahrerstaaten. Ein Kreuzfahrerheer eroberte und plünderte zwischenzeitlich die Hauptstadt Konstantinopel, bevor der Orient darüber hinwegmarschierte….
Und gegen die aktuellen Assoziationen kannst du dich nicht wehren:
Manchmal erdrückt einen die Aktualität solch alter Texte geradezu.
Die Hagia Sophia bekam Minarette. Und das war mal die „Engelsburg“ der griechisch-orthodoxen Kirche!
Dass Raabe gerade diesen Zeitraum für seine Novelle wählte, ist typisch für ihn. Er hätte populärere Kriege nehmen können: Den 30jährigen oder den 7jährigen, die schulbuchkompatiblen. Nein. Er nimmt einen „unterbelichteten“ Zeitraum – der bereits durch Andeutungen Schlaglichter erzeugt und dich NACHDENKEN lässt:
Das ehrlos-wehrlose 15. Jahrhundert im Vergleich zum ebensolchen nach-napoleonischen Deutschen Bund der Raabe-Zeit. König Sigismund, der wortbrüchige Zauderer, der Krisenmanager mit mäßigem Erfolg, der immerhin die Hohenzollern von Nürnberg nach Brandenburg brachte – und ein Hohenzoller, der zaudernd unentschlossen nun 1870 von Bismarck in Richtung Einheitsvollendung geschubst wurde. Die Entsprechungen des 21.Jahrhunderts zu finden, überlasse ich dem Leser….
Der Alte in seiner Kinderstube erzählt seine Jugenderlebnisse, die damit begannen, dass er bereits als Säugling einen ebensolchen Adoptivbruder aus verarmt ausgestorbener Adelsfamilie an die Seite gelegt bekam, mit dem er gemeinsam aufwuchs. Junker Michel Groland von Laufenholz. Das Adelsgeschlecht hatte im Dahinscheiden letzte Besitzungen an den Vater vermacht, weshalb er sich genötigt sah, das letzte Küken des verwaisten Nestes zu hegen und zu pflegen.
Vater hatte schwer damit zu schaffen, erfahren zu müssen, was es heißt, „solch Adlerbrut“ aufziehen zu wollen. Der angenommene Sohn entpuppt sich also als Träger ganz anderer Erbanlagen als der eigene. Den stört das aber keineswegs, hat er doch einen Abenteuer erzeugenden Spielgefährten an ihm.
Aber da sind auch noch die kleine Gespielin Mechthild Grosse, die soviel jünger war und tatsächlich große Charakterstärke bewies als junge Frau. Und der Hauslehrer Theodoros Antoniades, der Flüchtling von Chios, welches schon 30 Jahre vor Konstantinopel verloren ging. Der war nun bis Nürnberg gekommen, geblieben und verdiente sich ein wenig Lebensunterhalt mit Griechisch- und Philosophie-Stunden für die Patriziersöhne. Der Bezug zu ihm ward enger als zum eigenen Vater, wie sich zeigen sollte.
Bei jenen Griechischstunden im Gartenpavillion machte sich die unterschiedliche Veranlagung des Brüderpaares besonders deutlich bemerkbar. Nimmersatt bildungssüchtig der eine, stets gelangweilt, aber gutwillig dabeisitzend der andere! Das ging immer solange, bis Klein-Mechthild in den Büschen aufkreuzte. Dann packte Michel die Kleine, wischte mit dem Ellbogen die Pergamente vom Tisch und ließ sie tanzen.
Das niedliche Nachbarskind wollte niemand vergraulen und so waren die Griechisch-Lektionen an manchen Tagen recht kurz. Die Albereien zwischen Mechthild und dem Junker ohne Land entwickelten sich mit der Zeit zu einem engen Vertrauensverhältnis, so dass für alle Außenstehenden absehbar war, dass das früher oder später wohl in einer Ehe enden würde.
Zuvor aber hatte sich die Zeit entschlossen, ihre Kinder hart zu prüfen.
Die Reichsinsignien (Krone, Zepter, Reichsapfel und Heilige Lanze) waren in Gefahr, von den Hussiten erobert zu werden! Sie lagerten seit Karl IV. auf dem Karlstein in Böhmen. König Sigismund, dessen Wortbruch von Konstanz diese Gefahr bekanntlich erst erzeugt hatte, sah sich gezwungen, mit Heeresmacht diese zusätzliche Schande, die an seinem Namen kleben würde bis in alle Ewigkeit, abzuwenden.
Die Kirchen also predigten den Kreuzzug wider die Hussiten. Die Frauen darin hören das und Mechthild vergattert ihre beiden Verehrer, sich mit dem Schwerte „als Kerle“ zu beweisen. Also ziehen beide mit Sigismund’s Heer und helfen die Reichskleinodien zu retten.
Bei deren Anblick nach siegreicher Schlacht murmelt Junker Michel „Nun da diese wieder fest in unserer Hand sind, will ich mir meine Krone holen!“ Der Patrizier versteht und nickt. Dann trennen sich ihre Wege. Der Bürgersohn wird mit dem Gros des Heeres entlassen. Eine kleine Elitetruppe, zu der auch Michel zählt, der glaubt, noch eine Schippe Ruhm mehr zu brauchen, um heiratsfähig zu sein, bleibt beisammen und soll die geretteten Heiligtümer auf eine Burg nahe Budapest bringen. Dort scheinen sie Sigismund am sichersten.
Ihr Wiedersehen 2 Jahre später sollte ganz anders aussehen, als erhofft. Kein rauschender Heereseinmarsch in Nürnberg mit klingendem Spiel und Königspomp, kein rauschendes Hochzeitsfest von Mechthild und Michel. Ja, es fehlte in jenen zwei Jahren jegliche Nachricht von Sigismunds Truppe.
Der Memoirenschreiber erinnert sich eines Boten, der ihn eines Tages zum Siechenhaus vor der Stadt bestellt. Die Mater Leprosum wünsche ihn zu sehen, es sei dringend.
Er staunt und folgt. Vor dem Hospital steht eine Bank. Darauf sitzen die Leiterin, die ihn hat laden lassen und ein Mann in einer Art geflickter Mönchskutte, die Kapuze tief im Gesicht. Der Erzähler erkennt ihn nicht.
Aber vor dem Mönch steckt ein Schwert in der Erde. DAS erkennt er!
Ein Blickkontakt mit der Mutter der Siechen, fragend, erschrocken – sie nickt traurig.
Er bricht zusammen.
Während er kniet und fassungslos seinen Bruder in der Kutte anstarrt, kommt die Mutter der Barmherzigkeit auf ihn zu, um ihm das Vermächtnis des Gezeichneten zu erklären:
Er hat es als einziger bis nach Hause geschafft. Nach dem die Reichskrone in Sicherheit war, wurden auf dem Rückmarsch alle krank. Nun will er im Siechenhaus in der Nähe von Mechthild sterben; diese aber soll nichts davon erfahren! Er möchte nur, dass sein Bruder von seiner Existenz hier draußen weiß, um hinterher das Begräbnis zu richten.
Diese Heimkehr so klamm heimlich und ohne, dass die Stadt Notiz nimmt…auch das hat was ganz Aktuelles: Erst in die Scheiße schicken und hinterher nicht mal Danke sagen. Weggucken. Wegducken! Die Realitäten stören unser Wolkenkuckucksheim!
Der verschonte Bruder darf nun nicht einmal herausschreien:
„Er ist da! Draußen im Siechenhaus! Seht ihn euch an!“
Betäubt und verwirrt taumelt der Erzähler heim, lässt sich von nun an bei Mechthild verleugnen, druckst herum, wenn sie ihn freundlich-fröhlich wie immer anspricht, sucht Rat bei seinem nun schon altersschwachen Griechischlehrer.
Als jedoch wieder ein Jahr später die Insignien nun auch in Budapest nicht mehr sicher scheinen und nach Nürnberg zurückverlegt werden, kommt Mechthilds große Stunde.
Ich verrat’s nicht.
Nehmt und lest!
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Nachtrag zur Form:
Raabe hätte einen Sidekick gebraucht.
Lennon/McCartney oder Jagger/Richard zusammen genial, auf Solopfaden isses dann auch immer nur die Hälfte oder sogar weniger.
Was hätte ein Spielhagen oder Heyse aus DIESEM Stoff gemacht! Du hättest heulend vor der letzten Buchseite gesessen! Der überrationale Autist Raabe bleibt sich treu – und kalt im Erzählen. Der Leser bekommt die Sentimentalität nicht, nach der dieser Stoff schreit.
Die Charakterzeichnung der Mechthild gelingt ihm besser als die der Regina Lottherin. Die Vatererfahrungen fließen hier im Ganzen ein, nicht nur für einen einzigen großen Auftritt, der in der Herrgotts Kanzlei sicherlich erst in der späten zweiten Auflage Einzug fand.
Andererseits bleibt er inkonsequent auf halber Strecke stehen, da er anfangs mehr als nur andeutet, das Mechthild des Reiches „eigentliche Krone“ ist, die tapfere charakterstarke Frau, deren Liebe alles überwindet. DIE sollst du ehren! Aber er führt diese Allegorie im weiteren Verlauf nichtrecht zu Ende. Der so perfekt geplante Schluss des Plots wird wieder nur im Telegrammstil kurz zu Ende gebracht, wie schon das verdient böse Ende des Oberstrolchs in der „Herrgotts Kanzlei“. Eventuell platzten beim Schreiben die Nachrichten von der Emser Depesche herein oder die Siegesmeldungen von Wörth und Spichern, weshalb er abschließend pathetisch wird:
Er lässt seinen Ich-Erzähler 1453 schreiben:
Des deutschen Reiches Krone lieget noch in Nürnberg; – wer wird sie wieder zu Ehren bringen in der Welt?
Vermutlich der Grund, weshalb diese Novelle in den sogenannten „ausgewählten“ Werken in Ost und West immer fehlt.
Wieder so ein frühes Ding, Schullektüre, um die ich mich bisher noch gar nicht gekümmert habe. Sehr interessant, Thema und Deine persönliche Perspektive, wie immer. Dank und ein schönes Wochenende!
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Echt? Schullektüre im Westen?
Die Reichskrone? Nanu?!
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