Troll – der Bär

„Ich fahr of K. un’denn Klenn’n nemm ich mieht.“, sprach Großmutter und so geschah es dann auch. K. war ein Kurort zwei Bahnstationen entfernt von N.
Er fuhr gern mit nach K., denn er wusste: Ritterburg-Ruine oder Zoo würden zum Ziel werden, auch wenn zunächst Gesundheitstechnisch ein Spaziergang an der Sole-Berieselungsanlage das eigentliche Ziel hätte sein sollen, wegen der Lungenstärkung. Jedoch manchmal war der Weg am Gradierwerk gesperrt und manchmal disponierte Großmutter nach Ankunft in K. einfach um.

Die erste Station in K. war immer das Café „Aufwärts“: „Ein Eis mit Früchten für denn Klenn’n und a Melange für miech.“, orderte sie als Frau von Welt mit Hut und ohne sich lange mit der Speisekarte aufzuhalten.
Kellner-Reaktion: „Hä?“
Sie wieder: „Eisbecher mit Obst, hammse?! Mir bringse a Tippl Kaffee und eine Portion Schlagobers – halt Schlagsahne, wie mor hierzulande sogd.“
Kellner nickend ab…
Wenn das Bestellte dann auf dem Tisch stand, schmiss sie sich zwei Löffel Schlagsahne in den Kaffee, lehnte sich zurück und war – glücklich.
Beim ersten Mal fragte er, irritiert von der überschäumenden Tasse: „Was machstn da?“
„Ahne Melaansch! Bei uns zu Hause hoste kunnt so was bestell’n, aber hier wissense neh was guttis.“ Schlürf.
Er war nicht völlig überzeugt, weil das Zwischenergebnis nach dem Abtrinken irgendwie schleimig aussah, aber inzwischen bevorzugt er seinen Kaffee selber so.

Die zweite Station war meistens der kleine Tierpark des Ortes, denn die Ritterburg lag zu weit abseits. Im Tierpark war das Ritual ebenfalls ein unspektakulär festgelegtes. Großmutters Anziehungspunkt waren die Rhesusaffen. Die bekam er jedes Mal erklärt. Sie ließen ihn trotzdem kalt. Interessanter waren die freilaufenden Störche, denn die verloren ab und an mal eine große Feder und genau auf diese Beute hatte er es abgesehen! Aber neben der Hoffnung lauerte auch die Gefahr:

Freilaufende Pfauen!

„Geh ok nee zu dicht! Die spring dir of de Schulter und hacken dir die Schädeldecke kaputt.“
„Großmutter! Ich hab doch keine Decke übern Kopp!“
Rumms! Großmutter hatte schnell die Faust geballt und ihm die Fingerknöchel unsanft von oben in den Skalp gerammt.
„Aua!“
„Was da weh tutt, is die Schädeldecke.“
Ihre Lehrmethoden waren effektiv.

Und wenn jetzt so ein Pfau auf ihn zustakste, war es auf alle Fälle besser, hinter Großmutter zu stehen. Würde sich das Gruselvieh an ihr vergreifen wollen, läge es im Handumdrehen auf ihrem Schoß und würde gerupft. Die Gänserupfende Großmutter hatte er selbst neulich in der Küche sitzen sehen.

War die Gefahr vorbei, ging er zum Bärenkäfig. DAS war SEINE Attraktion. Das jämmerlich kleine Gehege mit der großen in den Fußboden eingelassenen Bärenbadewanne und Troll und Anka, den Braunbären, die zwei Jahrzehnte hier im Kreis gingen, sich ab und an hinsetzten, um mit den Vordertatzen zu betteln.
Bären haben keine Mimik heißt es. Quatsch mit Soße!
Er sah ihn doch, den gequälten Blick! Zwischen ihm und Troll bestand so was, wie ein Vertrauensverhältnis.
In den Kindergartenjahren waren die Bären „echte Teddys“. Seit der 2.Klasse war er Dakota! Ein Sohn der Großen Bärin! Auch wenn man das wegen der Brille und dem Scheiß-Fassonschnitt jetzt nicht sah. Troll sah man den Grizzly ja auch nicht an. Sie verstanden sich ohne Worte. „Hol mich hier raus.“ sagten die Augen des Bären unmissverständlich.
Der Kleine hielt allen Ernstes Ausschau; schlich um den Rundbau herum, sah hinter der Absperrung die Tür für die Tierpfleger: Riegel mit Vorhängeschloss… Schade. Da war nichts zu machen.
Insgeheim auch irgendwie gut so, denn was würden die Eltern sagen, wenn er Troll wirklich mit nach Hause brächte? Und wie würde der sich mit dem Hund vertragen?

Jedes Mal schlich er so um den Käfig, und jedes Mal schob er die große Rettungsaktion auf, nicht ohne sich per Gedankenübertragung bei Troll dafür zu entschuldigen, während Großmutter in der Nähe auf einer Bank saß und auf einem Stofftaschentuch geschälte Grüne Gurke und hartgekochtes Ei bereithielt.
„Was märst da an den Bären rimm, warste scho bei den Rhesusaffm?“ So ganz war Großmutter eben doch nicht „Unschida“.

Wenn er da so halb am Absperrgitter hochgeklettert stand und Blickkontakt zu Troll suchte, verschwand die Welt:

Troll&AnkaTroll und er streunten durch den Wald, befreiten Rehe und Hasen aus Fallen und machten am Rande mancher Lichtung Rast, um auf den röhrenden Hirsch zu warten, der nun mal auf jede richtige Lichtung gehört. Der kleine Dakota verstand die Sprache der Tiere und wenn Troll ihm dann sanft die Tatze auf die Schulter legte, sollte das heißen: „Danke, dass du mich da rausgeholt hast.“
Und wenn dann plötzlich im Wald „die Großen“ aus der 4. Klasse auftauchten und ihn verdreschen wollten, stiegen sie von den Rädern ab, weil sie den Bären im Gebüsch übersahen. Ein Pfiff von ihm und Troll stand auf den Hinterpfoten an seiner Seite! Ein einziger Brummton reichte – und der kleine Dakota genoss die Flucht seiner Feinde, die ihre Fahrräder im Stich ließen und sich in Luft auflösten…
Oft, wenn die Träume soweit gediehen waren, kam wieder so ein Pfau daher und der große Krieger rettete sich in Richtung Großmutterbank. Pfauen konnten einem aber auch alles versau’n!

Bären waren demgegenüber viel ungefährlicher!

Eines Tages las Mutti aus der Zeitung vor, dass da etwas ganz Furchtbares im Zoo in K. geschehen sein soll: Ein Pfau sei auf den Sims des Bärenkäfigs geflogen und Troll hat durch die Stäbe gelangt und sich eine Sonderration Geflügel genehmigt. Die Besucher seien geschockt gewesen. Der kleine Dakota wusste: „Das hat er für mich getan. Troll hat mir die Schädeldecke gerettet!“
Aber da war auch der Schreck: Wird dem Bären jetzt Tollwut unterstellt, wie einem Hund, der mal irgendwo daneben gebissen hat? Wird er am Ende sogar eingeschläfert?
„I wo“, beruhigte Vati: „Das ist doch für Bären ein ganz normales Verhalten. Der Pfau war schuld.“
Eben! Selten war er mit Vater so dermaßen vollständig einer Meinung.

Mit 15 war er lang schon kein Dakota mehr, obwohl nun endlich die Haare die richtige Länge gehabt hätten. Jetzt war er eher so was wie der 5. Mann von Slade. Und im Zoo in K. ist er seit 2 Jahren auch nicht mehr gewesen.011blogbild
Da hockte er eines Tages bei Mario vor der Musiktruhe, um dessen Reinhard Mey Live-Album „20 Uhr“ aufzunehmen. Westplatte! Heiligtum! Darf immer nur auf dem Plattenspieler des Besitzers laufen!
Bis dahin kannte er nur die Blödelsongs a la „Annabelle“, „die Schlacht am kalten Büffet“ und „den Mörder, der immer der Gärtner ist“. Hier lernte er jetzt den ernsthaften Mey kennen.
Die Aufnahme geschah per Mikrophon, weil das Truhenunikum aus den 50ern stammte und keinen Diodenkabelausgang hatte. Also musste geschwiegen werden. Mario hielt das Mikro vor den Lautsprecher. Er selbst behielt die Kassette im Blick, um bei Bandsalat sofort reagieren zu können – und dann kam das letzte Lied der ersten Plattenseite („Der alte Bär ist tot und sein Käfig leer“) und da wurden ihm die Augen feucht, denn er kam sich plötzlich so verdammt treulos vor. Ja, er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, ob Troll noch lebte und in K. immer noch im Kreis ging…

11 Gedanken zu “Troll – der Bär

  1. Man möchte meinen, das Leben sei ungerecht. Warum blieben mir solche Grossmütter vorenthalten?
    Ist es vielleicht ein gerechter Ausgleich, dass ich den passenden Ausgang hatte, und man dementsprechend verkabelt und munter drauf losdiskutierend Tonaufnahmen machen konnte.

    Klasse Beitrag btw.!

    Gefällt 1 Person

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