Im Jenseits 2

Frau von Suttner wandte sich Wilhelm Raabe zu und führte ihn ebenfalls auf die Seite.

„Wo jeetz’ der ahne fuord is und i den oandern net frong möcht, seins so lieb und erklärns mer den Gruund für diese Misshellichke-iten zwischan dem Spielhagen und dem Freytag. Wann derahne net guckt, schleudert der aandre Bliitze, doas es eine Oart hoat, woas kommerda tun?“

„Nichts, Gnädige Frau. Das ist, wie es ist. Bis in alle Ewigkeit.“

„Na. Sanns ned so faaad. Sie wissen mehr?”

„Ich schlage vor, dass wir’s uns für diese Geschichte etwas gemütlich machen.“

Im Jenseits kann man, wie auf Knopfdruck, durch bloßes Erinnern, die Wunschumgebung um sich her erzeugen, die man momentan mag oder für angemessen hält. Raabe sorgte somit spontan für einen großbürgerlichen Salon der vorletzten Jahrhundertwende mit zwei bequemen Fauteuils vor einem Kamin; Beistelltisch mit Weinflasche und Gläsern. Das Einschenken erübrigte sich, denn während er sich genüsslich an einen herben Weißen erinnerte, der prompt in seinem Glas erschien, füllte das ihre ein roter Bordeaux…

 

„Zum Wohl gnädige Frau.“

„Zum Wohle, der Herr.“

„Ja, also der alte Streit unser aller Vorreiter begab sich ungefähr so: Der Gustav, er ist ja nicht anwesend, also duze ich ihn hier jetzt mal der Einfachheit halber…“

Zustimmendes Nicken aus dem anderen Sessel.

„…schrieb sein „Soll und Haben“ und landete damit 1855 mit knappen 40 Jahren einen schon relativ späten Erstlingserfolg in prekärer privater Situation. Es war Nachmärz, unsere Klasse hatte sich in all ihrer Servilität 1848 mal wieder bis auf die Knochen blamiert und Friedrich Wilhelm dem Dauerredner die Kaiserkrone angeboten. Das schmähliche Ende der Paulskirchen-Haarspalterei ist bekannt. Die Biedermeiermutlosigkeit kam zurück. Die Schlafmützen wurden wieder tiefer über die Ohren gezogen. Man suchte Trost. Bürgerliche Glanzstücke. Aber woher nehmen?

Zum einen gebar diese Zeit der eingezogenen Schwänze diesen abstrusen Goethe-Kult, auf den unsere Generation so willig hereinfiel: Der Geheimrat ohne Fehl und Tadel. Erst hier auf der anderen Seite der Welt erkannten einige Herrschaften aus unseren Kreisen, welchen sprichwörtlichen Bock sie da als Gärtner vorgesetzt bekamen.“

„Huch! Sie erschrecken mich?!“

„Nun, Verehrteste, das wäre allein ein abendfüllendes Thema, lassen wir es für heute dabei bewenden. Spielhagen und ich sind von unserer irdischen Weimaritis jedenfalls geheilt.“

 

Wieder ein zustimmendes Nicken von der Gegenseite: „Einverstoandn, foahrns’fuord, bittschön.“

 „Nun, da erscheint dieses Buch und enthält die Karriere eines Kaufmannes im Vormärzlichen Deutschland. So brav und bieder erzählt, so frei von jedem Makel, dass es einem bei heutiger Lektüre grausen kann. So makellos aber die Hauptfigur ist, so real und fehlermachend sind die anderen Personen geschaffen. Alle. Die Guten haben böse- und die Bösen haben sympathische Momente. Einschließlich des Veitel Itzig, des Spekulanten. Der jüdische Spielgefährte, der den negativen Gegenentwurf zu Wohlfahrts Werdegang lebt.“

„A böser Jud als Hauptstrolch. Jessas, jetzt wird mir auf einmal klar, was Karlchen vorhin g’meint hat.“

„Sie kennen „Soll und Haben“ selbst?“

„Ja natürlich. Stand ja in jedem Bücherschrank zu unsrer Zeit. Wie der Spielhagen eben auch. Bei meinem Vater vis-a-vis. Die g’herrn zamm’ wie Strump un’ Laatsch, hoad dor Baapa immer g’soagd.“

„Herrlich. Sollte man den beiden demnächst mal unter die Nase reiben.“ Er machte eine kleine Pause, um einen Schluck zu trinken und dann den Faden wieder aufzunehmen:

„Ja, sie sagen es. Er beschrieb das vor48er Judenbild Ostelbiens. Nicht emanzipiert, verschrieen, negativ und zeitlich kontextual richtig. Dann fiel es Jahrzehnte später denen in die Hände, die „wenig lesen und nichts verstehen“ wie Kollege Storm vorhin so herzerfrischend lospolterte und fertig war die Bibel des neuen Antisemitismus. Dann kam der Braunauer und seine Kamarilla und nun gilt der arme Gustav manchen Halbgebildeten, die mitunter erschreckend zahlreich sind, als Hitlers Vordenker. Aber wir schweifen ab. Zurück zu Spielhagen:

Der las, wie wir alle zu der Zeit, „Soll und Haben“. Das erste anspruchsvolle Prosawerk in zumutbarem Umfang. Und der irrlichterte, wie wir alle, durch ein halbes Dutzend abgebrochener Karrieren, hatte auch bereits als glückloser Novellendichter herumgestümpert und bekam nun durch DIESE Lektüre den entscheidenden Kick, seine „Problematischen Naturen“ zu schreiben.“

 

Hier klatschte Raabe einmal in die Hände: „Bämm! Und fertig war die Sensation!“

 

„Die waren mir immer zu dick.“, warf Frau von Suttner ein, „ Ich hoab mir da lieber die kleineren Romane genehmigt. Aber schön war’n sie oalle. Herzensgut geschrieben. So viel Mitgefühl für uns arme Fraunspersonen fand man nicht oft.“

„Stimmt. Mir sind ihre Geschlechtsgenossinnen ein ewig Rätsel geblieben, weshalb ich lieber den männlichen Schicksalsacker pflügte.“

Beide nahmen einen Schluck und prosteten sich zu.

Raabe setzte fort:

 „Die „Naturen“ schlugen 1861 ein wie eine Kartätsche in den Hühnerstall. Ein paar Landjunkervereine wollten das Buch gar verbieten lassen. Andererseits: Nietzsche und der spätere Kaiser Friedrich III. empfahlen es weiter. Wieder andere setzten zum Enthüllungsversuch an und gründeten Listen: Wer in Vorpommern ist wer im Buch? Der Adalbert von Oldenburg als Fürst von Puttbus ist noch relativ einfach zu erahnen gewesen, aber wer ist Melitta? Wer der sagenhaft-dämliche von Cloten? Es soll eine Baronin gegeben haben, die bei Einkäufen in Stralsund mehrfach mit „Frau von Berkow“ oder gleich als „Melitta?“ angesprochen worden war. Sie soll strahlend errötet sein, was man als Eingeständnis nahm, ohne dass sich die Dame jemals erklärte.“

 

„Hat Herr Spielhagen das Geheimnis wenigstens hier oben jemals gelüftet?“

„Wie man’s nimmt. Herr Dr. Hans Henning, sein Biograph schilderte, dass das Verhältnis Oswald-Melitta dem echten Leben anempfunden sei, weil Spielhagen in jungen Jahren als Hauslehrer in Leipzig, (allerdings in nichtadliger, aber großbürgerlicher Familie) sich ähnlich in die Mutter seines ersten Zöglings verliebt haben soll. Woher Henning diese Informationen nun wiederum hat, behält er für sich.“

„Ja und wie passt nun der Freytag-Zwist dahinein in die Melange?“

„Gustl sieht, wie die „Naturen“ durch die Decke gehen und jeder Einzelheiten aus dem Buch nacherzählt oder gar wörtlich zitieren kann. Andererseits erlebt er, dass er selbst zwar hofiert wird, als der Schöpfer der Bibel des aufstrebenden Bürgerfleißes. Bemerkt aber, dass SEIN Buch zwar viel gekauft, aber selten gelesen wurde. Wann immer er auf Inhaltliches anspielt – verständnislose Blicke oder allgemeine Verunsicherung.“

„Ich weiß. Der Baahpa hoad verlangt, dass ich’s les. Ich hoattes irgendwann auch durch. Aber es war schwer. Mit der Zeit kam ich rein, aber der Spielhagen war oallweil bekömmlicher.“

„Absolut. Nur gibt es tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden Büchern im Grundriss. Der große Unterschied ist die lebensechte Nähe zum Alltag wirklicher Menschen bei Spielhagen. Ein gewisser Fast-Naturalismus, auch wenn der Friedrich das nicht gerne hört. Das unterscheidet ihn ja auch derb vom Fontane. Bei Freytag verliebt sich der Anton Wohlfahrt in die Komtesse von Rothsattel. Der Oswald Stein hat sich in Melitta von Berkow verguckt. Bei Freytag kommt kein Mitleiden beim Leser auf. Bei Spielhagen — aber absolut!“

„Ich hoab Tränen vergossen, als ich die „Stummen des Himmels“ g’lesn hoab.“

„Interessant. DAS Buch nun wiederum kenne ich nicht. Aber den Liebeshickhack: angezogen werden, sich abgestoßen fühlen, Verunsicherung, Sehnsucht, entsagen wollen, zueinanderfinden – Kuss! Darinnen war der Spielhagen Meister. Fast immer die Kurve vor dem Kitsch gekriegt. MEINE Hochachtung hatter.“

Ein leises Zustimmungsseufzen antwortet aus dem anderen Sessel.

Er unterbricht um sich genüsslich eine Zigarre anzustecken: „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche?“

„Ach ich bitt Sie; nicht mehr in DIESEM Leben! Sie bilden sich den Geruch zwar ein, meine Nase und meine Kleider jedoch werden nicht mehr von ihm belästigt und das Thema Raucherlunge ist hier oben ja auch keins mehr…“, winkte Frau von Suttner generös ab.

„Und beklaut hammern später alle: der Heyse, der Storm und ich. Lesense mal Heyses Novelle „Im Grafenschloss“ und dazu das Kapitel aus den „Naturen“, wo Mutter Clausen dem Oswald die Geschichte seiner Herkunft erzählt. – Nur mal so nebenbei. Spielhagen weiß das und versteht sich trotzdem noch mit Heyse.“

Er zieht an der Zigarre und lehnt sich zurück:

„Der Gustav ist nun neidisch auf den Dauererfolg vom Spielhagen gewesen. Er selber hatte ja nun seine andere Art von Erfolg: Soll und Haben millionärisierte ihn. Außerdem erreichten noch „Die Ahnen“ und „Die verlorene Handschrift“ vorzeigbare Umsätze. Lassen wir mal die „Bilder aus deutscher Vergangenheit“ außen vor; ein Konglomerat mehr oder weniger langatmiger Geschichtsvorlesungen; da pfuschte er dem Leopold von Ranke ins Handwerk, ohne Historiker zu sein. Bilanz: Der eine also hatte nur 4 Erfolgswerke und der andere je nach Zählung auf jeden Fall zweistellig: 10 – oder 15 oder 18; wie Sie wollen. Ärgerlich auch, dass „die Ahnen“ zu Lebzeiten vom Gustav selbst, lediglich überschaubar erfolgreich waren; erst nach dem I.Weltkrieg posthum in Massenauflage immerwieder erschienen. Wieder leckten sich unsere Landsleute die Wunden und suchten das Heil in alter Glorie und wieder überlasen sie all die Ohrfeigen, die auch dieses Werk zu bieten hat, wenn man es richtig liest.“

„Gut, danke. Aber wie war des nun mit dem Hofratstitel?“

„Ja, die Wurzeln DIESES Übels liegen in der Zeit VOR dem Bucherfolg der beiden Streithähne: Freytag, Preuße durch und durch, verlebte sein Erdendasein jedoch eher außerhalb der Landesgrenzen seines Traumlandes, nämlich in Thüringen. Das erscheint zunächst wie ein Widerspruch. Das für die Einheit Deutschlands eintreten, jedoch Ehrungen eines kleinen Duodezfürsten akzeptieren, kommt einem zweiten gleich. Beides jedoch ist logisch erklärbar. Freytag war geradezu burschenschaftlich beseelt in der Zeit vor 48, als die Studenten-Corps noch Demagogen hießen und für die Einheit eintraten; und er versuchte sich relativ erfolgreich als Enthüllungsjournalist. Seine „Grenzboten“ war’n ein Knüller. Mit beiden Beinen sprang er da in Fettnäpfe und exponierte sich. Er war quasi aufrecht auf den Barrikaden im 48er Jahr, wenngleich auch nur vom Schreibtisch aus. Und er war ein früher Befürworter der kleindeutschen Lösung – ohne Österreich.“ Scheuer Blick zur Zuhörerin.

„Jaja“, seufzte Frau von Suttner, „unsere verhängnisvolle Vielvölkerverbandelung; ich weiß. Leider.“

„Er kam dahinter, dass die preußische Generalität 1853 sich schwer darüber beklagte, dass ihr oberster Dauerrhetoriker auf dem Thron so gaaar keine Lust zeigte, an der Seite Russlands in den Krim-Krieg einzusteigen. Freytag machte das publik: (Lieber ein ordensträchtiges Abenteuer auf der Krim, als die Probleme des eigenen Landes endlich in den Griff zu kriegen und die Einheit herzustellen!) und fand sich plötzlich in der Rolle, wie dieser junge Amerikaner jetzt da unten; ein gewisser Snowden. Er musste aus Preußen weg, floh aber nicht weit – nur bis Sachsen-Coburg-Gotha; weil er wusste, dass der dortige Herzog Lust verspürte, Gotha zum nächsten Weimar zu machen: einem Musen-Hort.

Freytag schrieb dort das „Soll und Haben“ fertig, hatte Erfolg, wurde Coburgscher Hofrat und bald darauf in Preußen amnestiert. Spielhagen, getragen von der ersten Erfolgswelle seiner „Problematischen Naturen“, machte nun wiederum seinem Buchtitel alle Ehre, indem er frei von aller Sachkenntnis – sich selbst problematisch gebärdete und über den Gothaer Möchtegern-Goethe witzelte, der große Dramen lieber seziert als welche hervorzubringen, der somit auch niemals Geheimrat wird, sondern sich mit einem Hofschranzentitel zufrieden gibt. Und dergleichen mehr.“

„Oje. Da kann ich nuwieder Herrn Freytag sehr gut verstehn.“

„Ich durchaus auch. Deshalb versuchte ich in dieser Sache, wenigstens posthum hier oben mehrfach zu vermitteln. Vergebens. Das Tischtuch zwischen den beiden bleibt zerschnitten. Ohne Freytag, keine Inspiration für Spielhagen, ohne Spielhagen keine Motivation für uns andere. Diese beiden waren die entscheidenden Türöffner für die Romanschriftstellerei als ernst genommene Kunstform.“

im jenseits2b

„Mir raucht der Kopf“, lächelte Frau von Suttner kapitulierend, „aber als Wegbereiter müsstns doch noch den Gutzkow Karli darzunehm, net woahr?“

„Ja, der ist sauer auf uns alle.“

„Jessas!“

„Der war einen Tick zu früh und mit seinen „Rittern vom Geiste“ auch zu umfangreich. Gut, aber leider sehr erfolglos. Und auch er wirft dem Spielhagen vor, ihn beklaut zu haben.“

„Ach diese Neidhammelei allüberall. Grauslig.“

„Absolut, gnädige Frau. Lassen Sie uns den Abend nicht mit der Auflistung jener alten Kamellen ausklingen; ich schlage vor, für die letzten 2 oder 3 Gläser Wein die Richtung zu ändern und ein wenig musikalisch zu werden.“

„Gern. Mir schwillt jetz’scho’dor Kooopf von all ihren Informationen. Seien Sie bedankt.“

„Fensterln Sie ab und an auch auf neuzeitlicheren musikalischen Pfaden als bei Beethoven und Schumann?“

„Sie meinen Wagner und Orff?“

„Nein. Noch etwas weiter vor in Richtung Jetztzeit. Hören Sie mal das hier…“

Prompt erscheinen Lautsprecherboxen mit gedrechselten Einfassungen auf dem Kaminsims und es erklingt das Intro zu „Shine on you crazy diamond“; beide lauschen mit dem Weinglas in der Hand. Beim ersten Gilmour- Einsatz wiegt Frau von Suttner leicht das Haupt:

„Hübsch. Das hoad was Woalzahaftes.“

Raabe nickte zustimmend: „Und hinterher werden Sie noch die Geräusche jener Industrialisierung vernehmen, die unsere Zeiten so verunstaltet hat.“

„Vo’ wann stammt denn deees?“

„Schon aus dem 20. Jahrhundert, relativ weit hinten; nach den Kriegen.“

„Und was singen die jetz’?“

„Da muss ich passen. Englisch war nie mein Metier. Aber der Spielhagen hat sogar in Amerika reüssieren können und zumindest seine Gedichte auch selbst übertragen. Der hat mir die Titel der Stücke übersetzt:

  • Scheine weiter verrückter Diamant;

  • willkommen an der Maschine,

  • Zigarre gefällig,

  • ich wünschte, du wärst hier

  • und abschließend noch ein weiteres Mal: Scheine weiter verrückter Diamant, als großes Finale.“

„Doas ist schön. Wie eine Symphonie aufs 19.Jahrhundert.“

„Absolut. Gnädige Frau. Zum Wohl.“

3 Gedanken zu “Im Jenseits 2

  1. Und der Klang der Gläser leitete die Worte Spielhagens ein, der, aus einem purpurnen Samtvorhang hervortretend, hinter dem er sich, einer Kette von Umständen geschuldet, wie nur ein Romancier sie erschaffen kann, während des Austausches der beiden verborgen gehalten hatte – die Worte: „Ich glaube an den Weltgeist, den ewig gleichen, der sich hinter den ewig wechselnden Dingen verbirgt, …“

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  2. Pingback: Erinnerungen – Urlaub damals und heute – Frischer Wind | Teil 2 Einfach(es) Leben

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