Wenn du heute zum Beispiel nach Seebruck fährst, weil du an den Chiemsee willst und weil du vielleicht gehört hast, dass man von da auf die Inseln übersetzen kann, auf deren einer ein unvollendet gebliebenes zweites Versailles steht: Herrenchiemsee genannt, dann erwartet dich zwar ein beeindruckend großes „Binnenmeer“ mit beneidenswert schattigem PKW-Parkplatz und Segeljachthafen; Häusern so adrett, wie eben dem Reißbrett eines histophilen Architekten entsprungen (falls es sowas gibt und die nicht in Gänze heute auf diesen Führerbunkerbaustil stehen aka Kanzleramt Berlin) aber was dich eben NICHT erwarte,t ist die Aura der Jahrhunderte.
Wie ein übergroßer leerer Bluescreen liegt die Wasserfläche vor dir, die Alpen als „blaue Berge“ fast ganz in Luft aufgelöst.
Es ist heiß im Juli 2018. Extrem für deutsche Verhältnisse. So fällt es leicht, auf die Suche nach der (vermutlich überlaufenen) Anlegestelle für die Touri-Fähren zu verzichten. In Massen zur Insel, mit eventuell ins Rund gebrüllten Informationen zum „Keenig“ und seinen Tagträumen vom „Königreich der Künste und der Phantasie“ und wieder zurück, verschwitzt, dehydrierend, lauwarme Selter aus dem Auto puzzelnd oder tödlich lange Sekunden zählend, bis der Kellner irgendeiner Stampa ein großes Tonic oder eine Rhabarberschorle serviert… Nä!
Romantischer als auf den PALMIN-Bildern würden eventuelle Fotos eh nicht aussehen. Eher wie eine nachgestellte Revolution: Volksmassen vor dem Schloss. Und Abendrot ist 12:00 Uhr mittags ja auch nicht zu erwarten. Also beziehen wir ein lauschiges Plätzchen am Strand in Ortseingangsnähe, versuchen uns in Tierfotografie mangels anderer Objekte und die Gedanken gehen via Leseerinnerungen und TV- Eindrücken auf die Reise.
Felix Dahn wurde mein Literaturpapst als ich 12 war. Mit 23 wurde er vom Thron gestoßen, weil ich Spielhagen entdeckte. Aber Vizepapst darf er ruhig bleiben. Ich hatte zunächst die in der DDR viel gelesenen beiden Bände „Herniu und der blinde Asni“ und „Herniu und Armin“ von Ludwig Renn gelesen und war begeistert. Also packte mir Vater eines Abends einen unansehnlichen dicken Wälzer auf den Tisch. Roter Lederrücken, graue Deckel, 900 Seiten; keine Bilder, alte Schrift.
„Wenn dir Herniu gefallen hat, dann guck mal hier rein.“
„Ein Kampf um Rom“ beginnt gleich ganz düster mit einer Verschwörung von 4 Helden, die ihr Volk retten wollen, da sie wissen, dass der greise Überkönig Theoderich bald das Zeitliche wird segnen müssen und kein geeigneter Nachfolger zur Stelle ist, um die schwierige Lage der Ostgoten in Italien meistern zu können. Die Düsternis packt mich mit der Erinnerung an die Rom-Hefte des MOSAIKs, die ich noch nicht selbst besaß, aber kurz zuvor im Krankenhaus kennengelernt hatte, mit voller Wucht. Einer der vier ist der alte Waffenmeister Hildebrandt. Seine Namensvettern geistern ja reichlich durch andere germanische Heldensagen…. Ich las mich fest, verschlang das Buch und glaubte jedes Wort.

Ohne Worte.
Felix Dahn war in München geboren und aufgewachsen. Seine Kindheit war schwierig, denn er war privilegiertes Künstlerkind von Hofschauspielern, die jedoch aus Hamburg an den Hof im Süden gelockt wurden und somit Protestanten waren. Im stockkatholischen Raum ein Makel gleich nach Aussatz. Der junge phantasievolle, lernbegierige Religionsbastard war quasi zum Einzelgängertum verdammt und erschuf sich im romantischen Garten der elterlichen Villa bereits seine Scheinwelten. Geschichtsprofessur war somit eine Frage der Zeit, verbunden mit der Flucht aus Bayern nach Königsberg. In der Hoffnung nun im Schoße der eigenen Glaubensgemeinschaft angesehener arbeiten zu können, musste er erleben, dass er mitnichten an einen Ort der Freigeisterei gelangt war. Königsberg ging zwar mit Immanuel-Kant-Ruf hausieren, jedoch war das das einzige progressive Aushängeschild der dortigen Universität. Und wer sich in Kants Bio oberflächlich auskennt, der weiß auch, dass Kants Karriere beinahe gar nicht zustande gekommen wäre, hätte es nicht jenen ketzerischen Friedrich II. gegeben, den Philosophen auf dem Thron, der den „Heiden Kant“ in Ehren an der Uni wiederbestallen ließ, als ihn die Alma Mater bereits zum hausierenden Wanderlehrer degradiert hatte. Es war ein Ort des geistigen Drills, nicht des freien Gedankenfluges. Dahn wechselte nach Breslau und blieb dort. Schlesien(katholisch) aber zum evangelischen Preußen gehörend, gleichzeitig aber wegen der österreichischen Tradition zuvor sich angenehm unpreußisch gebend, ließ ihn Ähnlichkeiten zu Bayern empfinden, nur mit dem Unterschied, nun der herrschenden Staatskonfession anzugehören.
Auch hatte er Bayern nicht im Hass verlassen, sondern aus karrieristischer Klugheit. Was ihm ermöglichte, nahezu alle Urlaube „daheim“ im Münchner Umland zu verbringen. Er war nun ein gestandener Mann, ein Herr Professor, in späteren Jahren sogar ein Mann mit Vergangenheit, da er Theresa von Droste-Hülshoff heiratete, was in deren Familie eine Mesalliance und somit ein Skandal war. Sein wachsender Ruf als Autor kittete jedoch diese Kluft auf schönste, da er künstlerisches Potential aber keinen Adel einbrachte, während sie wiederum aus dem Hause der berühmten Tante Anette stammend, von Geblüt aber ohne eigene literarische Talente war und nun immerhin bei einigen Spätwerken als Ko-Autorin firmieren durfte.

Samtliche Werke Poetischen Inhalts (1905)
Seinen sogenannten „kleinen Romanen“ stellt er gern ein Kapitel voran, in dem er über eine Gegenwartswanderung berichtet, bei der er auf römische oder germanische Hinterlassenschaften stößt, also setzt er sich dem Zeitgeschmack des 19.Jahrhunderts entsprechend auf einer Waldlichtung nieder und grübelt über die Tonscherbe, die verstümmelte Marmorinschrift nach und schläft ein. Im Traum entrollt sich dann das Rätsel des Fundes: Um das Jahr 384 nach Christus, zu Zeiten des Kaisers Kannixus II. befand sich hier, wo heute hunderjährige Eichen und Buchen ihre Wipfel breiten eine römische Siedlung…
So auch in „Vom Chiemgau“, einer Erzählung über eine der letzten Awarenschlachten, die deren Vordringen nach Mitteleuropa beendete. Er liegt als junger Mann im Boot. (Tamara Danz Feeling stellt sich beim Leser ein – „Liegen wir im Boot“ Horst Krüger Band 1975) das Boot wiederum liegt im Schilf am Ufer gegenüber der See-Insel, die früher mal ein germanisches Heiligtum war. Später christlich überformt durch einen Klosterbau. Er beginnt zu grübeln, wie das wohl gewesen sein muss, als hier das Christentum noch jung und die Lage gefährlich war. Er greift ins flache Uferwasser und lässt die Hand am Grund hinundher irren, bis sie etwas greift, was sich nicht nach Kiesel anfühlt. Er bringt seinen Fund ans Tageslicht und hält ein eigenartig geformtes Stück Eisen in der Hand: Von ein paar Rostkrusten befreit entpuppt es sich als Awarenpferd-Hufeisen.
Es entwickelt sich nun eine packende Geschichte über unausgegorene Verhältnisse zwischen Heiden-und Christentum, zwischen Odalingen, die die Furchenzieher verachten, während wieder die freien Bauern die Arroganz der Odalinge zum Teufel wünschen. Thing-Eklat. Ein Bürgerkrieg steht kurz bevor, ein fanatisierter wandernder Mönch will den Heidenkult der Insel schänden, da kommen die Awaren…
- Heiß. Nirgends Schilf, von meinem Standort nicht einmal ne Insel. Nur Bluescreen für die Phantasie.
Der 12jährige von einst ist älter geworden. Mit 22 erwarb er günstig die „gesammelten Werke poetischen Inhalts“ seines literarischen Vizegottes und hielt sie seither in Ehren. Jedes Wort wird längst nicht mehr geglaubt. Das Figurenensemble sind pathetisch sprechende, schablonierteTypen, keine Charaktere. Manche Kampfhandlung ist ähnlich heldisch übertrieben geschildert, wie Nahkampfszenen bei „Rambo“ oder in Russenfilmen. Die Treue halte ich den Schmökern trotzdem. Sie erzeugen ein Bild der Völkerwanderungsepoche und des frühen Mittelalters, wie es trotz allen Kitsches eben doch gewesen sein könnte.
Die Awaren sind wie Hunnen zuvor und Mongolen später eine asiatische Reitervolkplage des frühen Mittelalters gewesen.
Auch wenn sich Hungaria heute lieber über die Hunnen definiert, weil König Etzel/Attila irgendwo in der Puszta seine „Hauptstadt“ gehabt haben soll, sind die heutigen Ungarn doch eher Nachkommen der Awaren, die sich mit Stämmen des Umlandes vermischend in der Gegend hinter dem Balaton hielten.
Und so musste ich doch in mich hineingrinsen, als wir am letzten Abend in einer Gaststätte landeten, wo uns Chefe und junge, sehr attraktive Kellnerin mit stark „uhngorischem Ohkzent“ ansprachen. Wenn das der Dahn wüsste: Nun sind die Awaren doch fast bis zum Chiemsee vorgedrungen. Wenn auch in Hot Pants!
Und wenn die junge hübsche Magyarin passend zum Wetter noch gesungen hätte: „Sonne brännt häiß und durstick ist das Land …“ 🙂
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Tja………da sachsde watt! Man kann nicht alles haben.
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Es gab säääähr viel Schnitzel oben und unten…
Ich mag so gern, wie Du das schreibst, werde es noch paar mal lesen, steht schon wieder so viel drin, auch zwischen den Zeilen, wollte schon sagen, meiomei, dieser Felix Dahn, mein Vater hat den Kampf um Rom auch förmlich gefressen, wie kannst du das nur aushalten…aber dann kamen so Geschichten von den sehr interessanten Awaren und dem Chiemsee, hmmmh, da tät es mich doch tatsächlich auch hinziehen, zu diesen Geschichten…auf den Inseln gibt es sehr alte Spuren, leider auch welche aus der Nazizeit…aber ich als keltophiler Mensch bin um den Chiemsee herum oft auf Spurensuche, die Herreninsel ist sehr interessant, aber wie du ja schon gemerkt hast, wird man im Sommer von der Masse geschoben und Du landest unweigerlich irgendwann im Schloß vom König, nicht „Kinni“, gell, mein Lieber, bei uns heißts Keenig, aber am liebsten ist uns, wenn jemand einfach König sagt, dann macht er nix falsch sprachregionsmäßig, you know?
Eigentlich solltet Ihr ja ein Fotoprojekt machen, aber da haben wir uns wohl so kompliziert ausgedrückt, daß Euch das nicht interessiert hat, schad, aber ich hoffe doch, daß es ein nächstes Mal gibt im Herbst oder Winter, da sind wir nicht ganz so überflutet vom Touristengewurle! Die Fotos von dir sind auch sehr gut geworden finde ich!
Pfiati, bis boid amoi!
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Verwirrungverwirrung.Als ich in Naumburg noch „Kinnich“ sagte, hast du mich doch verbessert und auf „Kinni“ gebracht? Also das erste i weg und eher wie e sprechen und nach hinten raus doch auf ein angedeutetes g gehen? „Kenni(g/ch)“?
Ja, der Dahn ist schon ein guter! Und fleißiger. Muss geschrieben haben wie am Fließband. Und ohne Computer. Zu den 25 Bänden poetischen Inhalts kommen ja nocheinmal ähnlich viele Bände historische Abhandlungen über germanisches Recht und die Genealogie der germanischen Könige. Dann starb er 1912. Dann kamen die Nazis und haben sein Werk missbraucht. Und danach kamen die Schwätzer, die alles in einen Topf warfen und unsere gesamte Vorgeschichte den Nazis überließen.
Als ich vor ein paar Jahren schwer begeistert aus dem Kino kam und eben „Braveheart“ gesehen hatte, da wurde ich schmerzlich dran erinnert, dass wohl niemals ein ähnlich guter Film über Geiserich, Witichis, Totila, Teja, Ebroin, Fredigundis….gedreht werden wird.
(In den frühen 60ern wurde „Kampf um Rom“ zwar westdeutsch verfilmt; aber unansehbar scheußlich; das zählt nicht.)
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Mann, Mann, Mann, da gibts noch Arbeit … also Mr. Blu, Du bist ja schon ein ganz netter Kerl und mitunter blitzgescheit, aber in der Erspürung der dialektisierten Feinheiten in der Sprache der alpenländischen Provinzen da hapert es ganz gewaltig! Und vor allem beim König, da glaub ich, heißt´s Nachsitzen! Bei uns, also da, wo Du vor kurzem tanzmäßig kaum zu bremsen warst, da heißt er „Keenig“, also das „e“ wird langgezogen gesprochen, so wie bei der „Breezn“, oder bei den Beeren, aber die heißen selbstverständlich „Biarl“ … aber das sind dann schon die höheren Weihen, damit müssen wir noch ein wenig warten, jetzt packma mal den Keenig, gell! Wir schaffen das!
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Jawoll!
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