Alle Jahre wieder überkommt es mich. Da muss ich Weißkohleintopf kochen.
Nee, das ist nicht nouvelle cuisine, auch nicht niveau cuisine – sondern ganz ordinäre Barbarenküche. Die Familie hebt die Zähne und flieht. Die Küche gehört mir.
1. Das Rezept:
– halber Kopf Weißkohl klein geschnitten;
– ein Bund Suppengrün desgleichen (außer dem Schnippgummi natürlich)
– all das in einen Topf mit Wasser und zum Kochen bringen
– dann auf kleiner Flamme ca. 15 Minuten köcheln;
– Pfeffer nach Laune drauf;
– ein Drittel einer ungarischen Salami in Würfel häckseln und leicht verspätet einrühren;
– umrühren und abschmecken.
Schmeckt am besten, wenn die Zutaten noch bissfest und nicht zerkocht sind.
2. Die Motivation:
Wie komme ich auf dieses abwegige Verlangen? Die einen wollen „shades of grey“ erleben, die andern Weißkohleintopf essen. Lehr mich die Menschen kennen!
Zu Ostzeiten gab es mal so einen „Best of Gartenlaube“ Schmöker, der natürlich anders hieß, aber ein Konzentrat aus gefühlten hundert Jahren „Gartenlaube“-Zeitung enthielt.
Darinnen ein längerer Artikel über „Volksgesundheit“ durch Weißkohl-Kaffeeersatz, Kohlrübenschnitzel und – – – Weißkohleintopf! Kohlrübenwinterzeit, I.Weltkrieg.
Daraus entstand spontan der Einfall, das nachzuahmen, weil im Konsum in der winterlichen Gemüseecke mal wieder nur die Auswahl zwischen Rot- und Weißkohlköpfen die Lage um 1916 nachempfinden ließ. (Na gut. Ein paar Gläser Rote Beete mögen da auch noch zwischen Kuba-Orangen und Rhabarberstangen rumgelegen haben. Die lassen wir jetzt mal weg.)
Beim Nachempfindenwollen stellt sich Inkonsequenz ein: Ich wollte kochen wie 1916, aber verzichtete nie auf Fleischbeilage. Da mir die extra Vorkocherei des Suppenfleisches aber zu umständlich erschien, kam mir der Gedanke mit den Wurstbauteilen. Auch konnte ich leider zu keiner Zeit meine Frau dazu überreden, sich a) die zeittypische Hochsteckfrisur zuzulegen, noch b) sich überhaupt in irgendeiner Form an dem Projekt zu beteiligen.
Solcherhand unbeweibt entsteht die Chance, sich die Nahrungsmittelerschaffung (dank Küchen-Blaster) musikalisch zu untermalen, was 1916 ja auch noch nicht ging. Stilistische Kompromissfindung erübrigt sich aufgrund des weiblichen Fluchtreflexes ob des Rezeptes zusätzlich. Die Musikauswahl hat selbstredend nichts mit Operettenzeug oder vaterländischem Gesangsvereinsliedgut zu tun, sondern ist eher im postpresleyanischen Erbe verwurzelt.
In diesem Jahr nun geriet „Love me in black“(1998) von unser aller 80er/90er-Jahreschwarm DORO Pesch in den Player.
Die Herdplatte erzeugte Temperatur im Topf und die CD eine Rallye der Assoziationen:
3. Der philosophische Part
Weißkohleintopf. Wiedereinmal. Wohlschmeckender als Graupen- oder Kartoffelsuppe. Nicht so gut wie Brühnudeln. Ingwer-Brotsuppe ist ein Sonderfall. Heimeliger Duft der 60er-Jahre-Küche. Sowohl im Kindergarten, als auch zu Hause gings beim Essen sparsam zu.
Weißkohleintopf. Lecker riechend, auch wenn die Family das Gegenteil behauptet; lecker schmeckend, auch wenn die Family sich demonstrativ was andres kocht. Leider ungefähr so nahrhaft, wie das Betrachten eines Rumpsteakbildbandes.
“Do you like it, like it like that…“ (Track 1) lässt noch an die gerade entschwundene Familie denken, aber der Sound lenkt schon über zu Remarque. Der bei „You’re my machine gun! Brutal and effective!“ (Track 2) vollends seinen Auftritt hat. Ich weiß, Doro meint das anders. Aber ich schnipsle hier das Alltagsgericht des I.Weltkriegs. Deshalb spielt der Text keine Rolle. Taktaktaktaktak …MG-Nester im Schlamm…. „Im Westen nichts NEUES“! Zeitloser Titel, der Talmi von Substanz trennt. Remarques Buch ist stark. Die Verfilmung von 1930 nicht minder! Paul Bäumer, Kat & Tjaden schauen gierig in den Topf. Leseerinnerungen aus der Knabenzeitung „Der Gute Kamerad“ werden wach. Band 28 hält die Euphorie der ersten Kriegswochen fest, in (angeblich echten) Feldpostbriefen von einberufenen Junglehrern an ihre Schüler … aber dann – siehe „Gartenlaube“ – gabs zu Hause jahrelang nur Kohlrübenfutter ohne Fleisch und Vitamine…Kein Wunder, dass die alle rachitisch wurden! Bleich hockten sie in ihren Hinterhöfen und die Grippewelle 1918 raffte sie dahin wie ihre Erzeuger draußen das Giftgas. Es ist etwas anderes, das alles nur zu lesen, oder selbst zu schmecken und zu fühlen, wie kurz der Sättigungseffekt derartiger Gerichte ist. Dabei ist in meiner Variante wenigstens noch Wurst!
Track 3 („Love me in black“) erzeugt die Assoziation „Kriegerwitwe“ – und diese nicht nur als alte Oma, wie man sie selber noch in den 60ern erlebte, sondern als „frisch gebackene“ gerade erst vermählte Mit20erin…Blue Öyster Cult reimten drauf’nen Antwortsong: „I like to see you in black, because it shows your husband is dead!“ Na bitte. Klingt doch nach sich anbahnendem Happyend.
„Tausendmal gelebt, tausendmal geliebt“ jedoch macht deutlich, dass es nicht dazu kam. Statt dessen werden tausendmal die gleichen Fehler gemacht…Die Menschheit hat es nun mal nicht. Wir lernens nicht. Ich schon, aber man will ja immer Teil einer Gemeinschaft sein. Nur — die Masse switscht – schwups – mal eben schnell in Blitzkriegsnostalgie, wenn’s gebraucht wird. Hindukusch und so. Ich nicht. Da ist mir Prora im Weg. Als Marineinfanterie wird unser Schrutz-Regiment von damals heute dargestellt. Unterm Teppich bleibt: Personalbestand vorbestraft, teil-tauglich, mit fragwürdigem Klassenstandpunkt oder künstlerischen Berufswünschen verkorkst, armiert mit ausgemusterter russischer Kampftechnik. Gut zu verheizen in den ersten Stunden des Ernstfalls. Der nie kam.
Die nächste „Terrorvision“ (Track 6) aber kommt bestimmt…. Spätestens mit dem nächsten Ami-Präsidenten: Trump, Bush III. oder eine amerikanische Flinten-Uschi.
Umrühren, Pfeffer drauf….
Terrorvision….“Krieg gegen den Terror“… in all den Kaiserzeitschwarten über Afrika, die ich gelesen habe, hieß das ursprünglich „Krieg gegen den Sklavenhandel“. Heraus kam die Totalversklavung Afrikas. Die nächste Super-Phrase wurde „Kampf gegen eine Welt von Feinden“, die 3 weitere Schimären gebar: Versailler Vertrag, Völkerbund, Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Kurden und Armenier können ein Lied von singen. Und nicht nur die. Eine schwer verdauliche Suppe wurde da auf dem Höllenfeuer angerührt.
Ich rühre in meiner. Wieviele Antikriegs-Romane, -filme,-songs kenne ich eigentlich inzwischen?
„Militär wird abgeschafft
Das wär ein geiles Ding!
Wenn Krieg ist steign die Staats-Chefs
Selber in den Ring!“ (Lindenberg)
Uns Udo. Naiv. Klar. Weltfremd auch. Trotzdem wär’s die wünschenswerteste Variante.
„Alle Soldaten wolln nach Haus“ Reinhard Mey. Selbe Kerbe.
Guttenberg machts möglich. Nachdem ein Pfeiferauchender Rentner „Deutschland am Hindukusch verteidigen“ wollte. Dass so ein Satz mal aus dem Willy Brandt Haus kommt, wurde olle Willy auch nicht an der Wiege gesungen.
Die Wurst muss in die Suppe…Es geht ja immer um die Wurst… also Handelsvorteile… Köhler hat’s bestätigt und musste weg. Das gab’s auch schon mal. Mehrfach.
2015 ähnelt 1911; Flottenpolitik, Marokkokrisen, Schachern mit Kolonialbesitz… es kracht seit gut 10 Jahren schon probeweise mal hier mal da, noch schlichtet man geflissentlich. Bündnisfall? Nee, lieber noch nicht. Aber der Schlieffen-Plan liegt schon seit 1905 in der Schublade; eine Hand voll Leute träumt vom Maximalprofit und will verdienen … an Freund und Feind. Geld kennt keine Flaggen … Und die Kommissköppe räsonnieren martialisch auf Bestellung: Stahlbad, nichwahr! Tatsachn ins Auge sehn, nichwahr! Apropos Auge – Monokel fehlt, nichwahr!
Im Krieg wird scharf geschossen, im Krieg gibt es Verlust
Für ’nen richt’gen General ist jeder Friede Frust
Und auch uns’re Zukunft ist Vergangenheit
Der gute Mensch ist blöde, sei gescheit… (Westerhagen 1988)
Sarajevo, Gleiwitz, Golf von Tonking, Kiewer Maidan…hätte fast geklappt. Welche Nichtigkeit wird nächstes Mal den Ausschlag geben?
Der Volksesel braucht seine Möhre. Sonst trabt er nicht ins Feuer.
Ach verdammt! „Kiss me good bye“ (Track 8) – sicher gab es bessere Zeiten aber diese waren uns’re…alles was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht, — wie die historisch gewachsene Europakarte von 1914; wie der Beruf des Straßenbahnschaffners, Platzanweisers, Uhrmachers, Schallplattenverkäufers… wie die traditionellen Rezepte von Buchteln, Pflaumknödeln und Weißkohleintopf….
Kohlrübenwinter. Damals 4 endlose Jahre Mord. Die hat Syrien auch schon rum. Vietnam überstand 35! Wieviele werden es im Falle von Libyen und Syrien wohl werden? Ich rühre in der Suppe von 1916. Pupillen aus Möhrenscheibchen glotzen mich an. Kolonnen von Kriegsblinden stehen angetreten in den „Flandern fields“ bis zum Knöchel im Schlamm des „Felds der Ehre“ (Wie unvergänglich solche Phrasen sind!) … sollten sie die Heimat erreichen, werden sie schweigen und den Küchenbullen aus der Etappe das Reden überlassen, die vom Grabenkrieg erzählen werden, wie die Blinden von der Farbe …
Die Flashmanns aller Nationen drängen sich mit mehr oder weniger Ordenbehängter Plauze wie immer in die erste Reihe. Gabriel nimmt die Wahl an….jede Wahl…denn er hat keine … Maschmeyer hat Syrer aufgenommen! Snowden und Bradley (Chelsea) Manning wurden nach ganz hinten durchgereicht.
Art.20 GG? Lernt jedes Kind? Siehste doch, dass das nicht stimmt! Q.e.d.!
„Der Ehrliche ist der Dumme.“ (Ulli Wickert, Bestseller, 90er) Der würde heute mit Ulfkotte und Totenhöfer in einer Schublade landen. In den 90ern war er mit dem Traktätchen die reine Lichtgestalt.
Mal wieder umrühren.
Back to Rock! „Father! Give me just a sign, that I’ll survive!” (Track 10) Der Schrei der Lazarette! Wieviele Versehrte hätten sich damit identifizieren können, wenn sie es gekannt hätten? Manchmal wäre der Gnadenschuss barmherziger gewesen: Da war dieser stets besoffen durch die Gegend torkelnde Mann, den Opa immer freundlich grüßte. Mir wurde das mit 6 damals so erklärt: „Starr’ nicht so hin, da kommt wieder der Herr Kuschke“ „Opa, was hattn der im Gesicht?“ „Pst. Nachher. – Tach, Herr Kuschke! Auf’m Weg nach Hause? Legen se sich ma gleich hin.“ „Szu Befh’l, Herr Sch.! M-m-m-orgen bbbbbbin ich wieder nücht- (mpf)-ern.“ Als er weg war, folgte die Erklärung: „Der war Panzerfahrer im letzten Krieg. Der Panzer hat gebrannt. Und sein Gesicht auch. Das is’ kein Säufer. Der MUSS trinken. Du hast dir doch neulich den Finger verbrannt. Stell dir mal vor, das ganze Gesicht täte so weh. Und dann starren dich alle Leute so blöde an und du kannst nichts machen.“ Überleben kann grausam sein.
Dazu Doro:
It’s just a long long way from home
and in my heart I can’t go on
lost on this battlefield of hope
I feel so lonely…
…wie die Kriegskrüppel beider Weltkriege; wie die leeren Gesichter hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager, in den Kolonnen der Kapitulierenden, ….aber endlich nicht mehr ballern müssen…jetzt hört er auf, der ewige Gleichschritt….für immer … denkste…; leere Gesichter auch der Vertriebenen … einmal wieder satt essen, wenigstens Weißkohleintopf…besser noch Brühnudeln….wird das je wieder sein….Wolfgang Borchert….“die lange lange Straße lang“….Sehnsucht nach was zum Essen, nach Schlaf, …. Heiner Müller …. „Das eiserne Kreuz“… Peng!…. und Weitermachen!
Kalter Krieg. Wohlstand, Wohlstand über alles! Übersättigung.
Der Sozialismus siegt … nicht…..Windhahnsyndrom….. in Wahrheit ist alles ganz anders…..
Gor-bi! Gor-bi! Die eine Seite gab auf, die andere konnte sich als Sieger fühlen. …das gilt meiner Meinung nach…ist das….sofort….Aber wie weiter ohne Feind? Ist ja zum Fürchten! Jelzin in die NATO? Nitschewo! Sagen Sie ihm das! Nastarowje!
Apropos: Her mit dem Becherovka. Prost. Auf Schwejk und Alois Nebel!
„Shoot the poison arrow to your heart…“(Track 12) Wohin mit unseren Knarren? Wohin mit den vielen Arbeitsplätzen, die wir der Russenangst verdanken? Wir müssen uns behelfen! Der Araber muss ran! Die Taliban gefährden die Welt! Ein paar Kameltreiber mit Granatwerfern? We workin’ on it…
Die weißen Tauben sind müde…und der Sänger tot.
Prost noch mal.
Manchmal fällt auf uns ein Frost und macht uns hart.
Und dann kommt es darauf an,
dass das Blut, das in uns fließt,
seine Wärme halten kann,
wenn’s sich eiskalt um uns schließt.
Manchmal fällt auf uns ein Frost und macht uns hart. (Renft 1974)
Herd aus. Musik aus. Hirn aus!
Es ist angerichtet.
Wann veröffentlichen Sie das ganz, ganz offiziell.
Ah…wird sich niemand dafür finden…
Meine Frau Mutter tat und tut in diese gruselige Suppe Kümmel und Suppenfleisch mit Fett.
Davor musste ich Sonnabends nach der Schule sitzen, bis ich aufgegessen hatte.
Irgendwann musste sie mal aus der Küche und ich, schwupps die Suppe in den Topf zurück und brav vom leeren Teller saß ich da, als zurück sie wieder war.
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Weißkohleintopf ist hier ein winterliches MUSS auf dem Tisch der Eintopfliebe. Mehrfach.
Immer mit ganz viel Kümmel. Dem echten, nicht dem flüssigen.
Und am besten mit Rippchen.
Schmeckt übrigens erst richtig nach dem zweiten Aufwärmen.
(Ach ja, und mindestens einmal im Jahr gibt es bei den Tonaris Wruckeneintopf, auch Kohlrübensuppe genannt. Hier wendet sich vermutlich der meiste Leser mit Grausen.)
Der kulinarische Kommentar gibt mir zudem Gelegenheit, ein wunderbares 2016 zu wünschen.
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Meine Fresse, Bludgeon, werden Sie Koch!
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😮
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Na, wenn Sie DAS aus einem Kohlkopf machen – würden Sie mit einem Ach-Gänge-Menü die Welt erklären.
(Bis dahin allerdings bin ich dankbar, bei Ihnen lesen statt essen zu dürfen…)
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8 Gänge soll das heißen
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O Mann! Da hast du uns die ganze Suppe unseres Jahrhunderts aufgetischt, die wir auslöffeln sollen, bis sie uns wieder zu den Ohren rauskommt. Junge, Junge, einfach genial.
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Also, spätestens ab heute haste nen Stein im Brett bei mir: Text wunderbar, Eintopf wunderbar, aber nur, wenn jaaaa nicht zerkocht! Aber der ÜberHammer is ja, daß Du Alois Nebel erwähnst, kennst Du den Film? Wenn nicht, unbedingt anschaun, bin ihm ein Jahr hinterhergerannt, endlich gesehen, ganz große Klasse! Servus, mach´s gut!
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Es lebe das Internet! Endlich jemand, der ebenfalls den Alois Nebel kennt und mag! Die Begeisterung ist ganz meinerseits. Bin auf das Comic gestoßen, dann auf den Film in einem Undergroundkino…. psst. Dazu schreib ich noch DER hat einen eigenen Post verdient.
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WOW! Ja! Endlich jemand, geht mir auch so, ja bittebitte schreib was, freu mich riesig drauf!
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