Das Grübeln der alten Männer

Da war mal ein Interview:

„Frank, warum klingt die Musik der Mothers so scheußlich?“
„Kein Akkord kann scheußlich genug sein, um die Scheußlichkeit unseres Systems auszudrücken.“ (Zappa ca. 1968)

Zeitchen verging.

Ein großes Zeitchen!

Da erschien zunächst diese CD, die von fast niemandem wahrgenommen wurde und die somit keine Wellen schlug: Robbie Robertson „Wie ich ein Genießer mit Durchblick wurde“ und auf dieser sowieso genialen Platte befindet sich ein Song, der besonders aufhorchen lässt: Es geht darum, welcher Selbsttäuschung und Selbstbeweihräucherung die progressiven Hippiekünstler unterlagen, die glaubten, mit dem Ende des Vietnamkrieges würde nun ein neuer goldener Tag heraufziehen – aber UNSERE NACHT HATTE GERADE ERST BEGONNEN. Ein lohnender Denkansatz.

Dann erschien da dieser Song „Einfache Menschen“, in dem in noch grelleren Bildern als zuvor im unselig missverstandenen „Rocking in the free world“ beschrieben wird, was da schief geht in Gods own country:

…da steht einer am Fenster,
raucht ne dicke Zigarre;
Villa, Jacht, Privatbahn
und in der Hand eine Knarre.
Er dealte mit Waffen
für den Underground,
armierte die Leute,
denen er heut’ misstraut…“

Und dann gibt es noch Ian Hunters Warnung vor den „Kleingeistern“.

Treppen aus Beton
geben nicht nach.
Sie verlangen Respekt,
du empfindest die Schmach.

Alte Mauern
stürzen herab,
auf verwirrte Köpfe .
Bereiten das Grab.

Väter verschwunden, Mütter geschafft
Die Krüppel und die Irren – alle gestraft

Es scheint als habe
Nichts wirklich mehr Zweck
Die Reichen werden reicher
Und arm bleibt im Dreck.

Die Häuser verlassen,
die Strassen sind tot
uns aber befehligt
nur der nächste Idiot.

Wiedermal läuten die Glocken für eine bessere Zeit
Doch ich ahne oder weiß: Die kommen wieder nicht weit

Irgendwann kam was abhanden
Weiß nicht genau was oder wann
Die Youngsters fühlen sich funky.
Die glauben noch dran.

Es kommt auf wirklich
Gar nichts mehr an
Alles stagniert
Huch: der nächste ist dran.

Ehrerbietig tönts wieder: ER würde uns retten.
Ich hör’s und ich denke: Werd lieber nicht mehr drauf wetten.

Die Hälfte aller Wähler geht nicht mehr wählen, und wird ohnehin gern aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Wenn man von Schule spricht, meint man Gymnasium. Berufswahl bedeutet Universität. Die anderen 50 % der Gesellschaft sitzen „geplagt von Sozialneid“ in ihren Wohnsilos und solange man die Kriminalitätsstatistik fälschen kann, besteht kein Handlungsbedarf.

Chris de Burgh dachte auf seiner „Hands of man“ CD (2014) über die Schlacht von Agincourt nach: Dem normalen Europäer eher nicht geläufig. Sie wurde 1415  geschlagen. England gegen Frankreich.
England ist bis heute stolz auf diesen damaligen Sieg. Der erste Sieg der Langbogenschützen! Wunderwaffe damals? Pfeil und Bogen waren schon lange bekannt, aber lediglich Jagdwerkzeuge. Ferntötung galt als unritterlich. Bis Agincourt. Hurra – ein Sieg. Aber bereits am Ende des 100jährigen Krieges. Indem England letztlich unterlag. Jeanne d’Arc. Einer Frau. Einem bisher nicht ernst genommenen Feind. 2016 durchaus ein interpretierbares Gleichnis.

In die Kerbe der trotzigen Rückzugsgesänge reiht sich auch Rod Stewart ein. I’ll always find my way back home. Das Zitat am Ende des Songs stammt aus einer Churchillrede zu Beginn des II.Weltkrieges. Ein weiteres Agincourt für England. Siegermacht 1945! In einem zusammenbrechenden Kolonialreich.

Mystisch düster dräut uns 2016 schließlich Bowie herein: Blackstar.

Er steckt uns eine einsam brennende Kerze auf. In der Villa von Ormen. Heute noch ein Erdgasfeld vor Norwegen. Bald schon das letzte Refugium der Menschheit? Hier ist noch Atmosphäre. Oder ist das eine künstlich geschützte Dunstglocke unter dem Meeresspiegel? Das Video lädt ein, den Kadaver von Major Tom zu finden, den niemand mehr zuordnen kann, weil niemand mehr den Ausgangssong kennt, der ihm einst Leben verlieh. Die Augen sind uns verbunden. Künstliche aufgesetzte Pupillen erlauben uns begrenztes Sehen. Bloß keine Zusammenhänge checken! Ein paar Unbedarfte zucken im Sound.

Da brennt dieses einsame Licht. Auch am Tage der Exekution. Wenn Frauen niederknien und trotzdem strahlen. Denn nun ist der Tote ein Märtyrer. Wer ist das?

Als er starb ist etwas verrutscht. Der Sinn kam abhanden. Jemand anderes nahm seinen Platz ein. Wie lange kann jemand lügen, indem er große Reden schwingt?

Und weiter in sprechenden Bildern: 3 Vogelscheuchen am Kreuz. Golgatha. Jesus erlöste uns durch seinen Tod? Die Scheuchen sind bekleidet. Aus den Rissen der Lumpen quillt Stroh. Gedroschenes Stroh. Der Phrasensalat der Heilslehren. Jemand nimmt ihren Platz ein. Ein Mädchen bringt den Schädel von Major Tom. Die nächste Heilslehre zur Bemäntelung alter Fehler. Andere Mädchen beten ihn an und recken die Fäuste. Männer sind keine mehr da.

(Kennt Bowie Pirincci?)

Da brennt ein verborgenes Licht in der Villa von Ormen…

15 Gedanken zu “Das Grübeln der alten Männer

  1. Werter Bludgeon,
    inzwischen habe ich diesen Text kwasi drölfzigmal gelesen und er pingpongt mich immer noch zwischen Applaus und Einspruch hinundher. Zumal ich kein Videogucker bin. Könnte ich gerade nachholen, aber in der Zeit schreibe ich Ihnen lieber von meiner Pingpongigkeit. Sie wissen schon, statt Sternchen…
    Herzliche Sonntagsabendgrüße, Ihre Frau Knobloch.

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      • Nicht widersprechen könnte ich, aber einhaksprechen. Dafür müßte ich wirklich die Bilder sehen, die Sie hier einflechteten. Klar, daß ein paar fettsattgierige unsere Geschicke lenken (wollen), doch genauso klar sehe ich unser ureigenes Potenzial. Wenn es denn ausgeschöpft werden würde.
        Einhaksprechend macht mich auch Ihre Überschrift, sind Ihre Musikerzitate die benannten grübelnden alten Männer? Warum haben sie nicht mehr getan als Ruhm einzusacken und dennoch weiterzugrübeln (Ohjeh, das war ein kecker Fensterrauslehner gegenüber einem Musikkenner!)

        Sie sehen, ich habe vielzuviel Pingpongfragen für heute Abend, überhaupt sprengt sowas den klickerdiklackenden Austausch, beim nochmaligen Lesen lachlaute ich erneut über den phrasenquellenden Strohmann Pirinçci.

        Herzlichst, die Ihre, sterntalerig nun.

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      • Die Herren betreiben im Alter eben auf niveauvolle Art melancholische Nabelschau. Wohin die Reise der Welt geht, wissense nich‘. Wir ja ooch nich. Wohin ihre eigene geht, dass die Gruft näher kommt, schon. Ein bißchen Restsorge um die Nachkommen bleibt trotz allem wach. Und ganz viel Ärger darüber, dass die eigenen Jugendideale nicht aufgegangen sind und dass sich ihr Metier – niveauvolle Rockmusik – so überlebt hat. Zu ihrer Zeit war Aufbruch. Jetzt ist Stagnation.
        Die sehen das so ungefähr wie der alte Goethe, der über die Romantiker den Kopf geschüttelt hat. Oder wie Spielhagen, der 1890 bereits vor Wilhelm II und dessen politischer Unfähigkeit gewarnt hat. Bewegungen haben die beiden auch keine mehr angeführt.
        Ich werf ihnen das nicht vor. Jede Generation hat ihre Zeit. Meine hat gelernt, den etwas älteren Barden an den Lippen zu hängen und nun bin ich froh, dass immernoch welche von denen übrig sind, und ich damit noch so leidlich weitermachen kann, wo doch ich selbst schon die kaiserzeitliche Lebenserwartungsgrenze überschreite.

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      • Mein lieber Bludgeon und nein, das ist keine Floskel;
        wieder zeigt uns das Universum mit einem Wimpernschlag, wie vergänglich alles ist. Heute ist mir das Diskutieren vergangen, Traurigkeit hat den Platz eingenommen.
        Ich hinterlege zugeneigte Grüße und lese gleich noch Ihren Nachruf.
        Herzlichst, Ihre Frau Knobloch.

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  2. „2016 durchaus ein interpretierbares Gleichnis.“
    Da musste ich durchaus eine Weile überlegen.
    Dachte ich doch zuerst: Mutti als Heilige Johanna. Was soll denn DAS? Glaubt er, irgend jemand unterschätzt noch diese Frau, weil Sie FRAU ist? Oder irgend jemand unterschätzt unser reiches und daher einflussreiches Land, weil die Galionsfigur weiblich ist?
    Dann ist mir jedoch die Idee vom Trojanischen Pferd gekommen. Also weg von Mutti, hin zu einer neuen Pervertierung der Perversion menschlicher Schutzschilde, weil Abschottung vor den wenigen Falschen Unmenschlichkeit gegen die vielen Richtigen wäre. Womit ich dann doch wieder irgendwie bei Mutti wäre. Bisher war sie immer so angenehm berechenbar; immer auf der Seite des Kapitals, für das sich zuverlässig immer alles gerechnet hat. Warum sollte es diesmal anders sein?

    Was das Bowie-Video, welches ich nur aus Ihrer Beschreibung kenne (youtube hat mich nicht mehr lieb, weil ich die Bedingungen der Goorgel nicht akzeptieren will), betrifft, halte ich das Bild, dass am Ende nur noch Frauen übrig bleiben, für sentimentalen Kitsch. Moderne Kriege sind Kriege gegen die Zivilbevölkerung. Und Gewalt gegen Frauen hat sich längst als probable Waffe erwiesen, nicht zuletzt wohl, weil sie so schön das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet…

    Und abschließend, gänzlich frei von Ironie, herzlichen Dank. Wo, wenn nicht hier, hätte ich jemals erfahren, dass Rod Stewart Churchill zitiert?

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    • You are completely on the woodway. Go back to „start“ and try again. 🙂
      Jeanne d’Arc war zwar Frau, aber auch „erleuchtet“ also fanatisiert. Kürzen wir die Weiblichkeit doch einfach mal weg, because Bludgeon is no Weiberfeind, erhalten wir eine Randgruppengefahr, die niemand ernst nimmt, bevor sie über ihn kommt.
      Da sich das Phänomen seit 1415 nun aber zig Mal wiederholt hat, sollten Politiker (die ja für sowas bezahlt werden) die nötige Zeit zum Überlegen aufbringen, rechtzeitig zu sehen, aus welcher Ecke es das nächste Mal kommt und deshalb rechtzeitig gegensteuern können.

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  3. Woodway? Lag vielleicht an der Tages- /Nachtzeit. Schlafwandelnd verfehlt man leicht mal den Weg.

    Randgruppen erfüllen eine gesellschaftliche Funktion, die Politiker für sich zu nutzen wissen. Eine wirklich integrierende Randgruppenarbeit wird nie mehrheitsfähig sein, da sie diese Randgruppen auflösen würde, welche aber zumindest unser Gesellschaftsystem,als underdogs braucht. Und unsere Wirtschaft zur Ausbeutung u.s.w. Und die Armeen für die Drecksarbeit.

    Aufschlussreich ist ja immer wieder die Frage: „Wem nutzt die Situation?“ Auch in diesem Fall.

    Lieber Bludgeon, ich weiß, dass Sie kein Weiberfeind sind, möchte aber doch gern mal (mit eingezogenem Kopfe) fragen, ob denn zu Jeanne d Arcs Zeiten Frauen eine Randgruppe waren?

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    • In Ritterrüstung und mit göttlichem Erweckungserlebnis? Aber EXTREM!
      Dass eine Frau das Heer anführt, war bekannt und wurde zunächst verspottet. Nach dem ersten Sieg schon nicht mehr.
      Münzer- Lenin – Hitler – hatten Anfangserfolge, werden (nach mehr oder weniger langer Zeit) besiegt, reißen aber auch immer die Sieger mit. Weiter in Arabien …

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  4. Über Agincourt las ich grad kürzlich bei Tuchman, Ferner Spiegel. Fernwirkende Tötungwaffe Langbogen als Fortschritt gegenüber dem ritterlichen Mann-zu-Mann-Blödsinn. Das zieht sich als durchaus kompatibler Widerspruch bis heute durch die westliche Zivilisation – der Westernheld und die Flächenbombardements sind beide akzeptiert, hauptsächlich Töten, damit: „das Gute siegt“.

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    • Und der Blödsinn der Flächenbombardements hat den geheuchelten Zweck: „Die Zivilbevölkerung des Feindstaates wird das bekämpfte Regime abschütteln.“(Churchill, Harris) schon via Solingen, Dessau, Dresden 44/45 NICHT erreicht, ebensowenig wie in Vietnam – und nu? Bomben auf Arabien! Das wird helfen? Dem Bruttoinlandsprodukt Europas sicherlich.
      „The torture never stopps!“ (wieder Zappa)

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