Chris de Burgh? Ernsthaft? Von dir? Hähähähähä… So geht’s mir immer, wenn ich den ins Spiel bringe. „Jeder lebt doch in seiner Welt, wo nur er den ganzen Tag recht hat.“ (Juli Zeh/Unterleuten) Und die meisten kennen eben „Woman in red“ und machen den Deckel zu.
Wenn ICH den Namen Chris de Burgh höre, dann denke ich an:
“Hey boys tonight we getaway/ to the other side/ head for the wall/ we getaway…“
1982. Stillstand zwischen den Blöcken. 18. Breschnewjahr. 11. Honeckerjahr. Zweites Reaganjahr. Raketenstationierung. Machtvolle Machtlosigkeit in Krefeld und Bonn. Die NDW tobt durch den Äther. Brokdorf und Startbahn West. Schmidt dankt ab. VerKOHLung…
Auf der Grünen Insel sitzt der kleine Barde in Klausur und pinselt seine letzten Eindrücke aus Fernseheindrücken, Erlesenem und Familienspaziergängen zu Papier.
Die Welt blendet er weitgehend aus. Er braucht romantische Grundlagen, sonst fällt ihm nichts ein. Aber diese schleichende Rückkehr neuerlicher Vergletscherung des Kalten Krieges macht auch um ihn keinen Bogen (Thatcherismus, Falklandkrise) und schleicht sich immer wieder zwischen seine Songzeilen. Irgendwann kapituliert er vor den Eingebungen und bringt solch unpoetische Begriffe wie Revolution und Borderline zu Papier.
Und merkt erst als es passiert ist, WAS er da verzapft hat, denn plötzlich gibt es Gold und Platin für die Platte und das vor allem – nein: nur – in Deutschland…
Dont pay the ferryman:
– Bezahl nicht den Fluchthelfer bevor er seinen Auftrag erfüllt hat…
– verlier dein Startkapital nicht vor der Ankunft…
Living on the island:
– auf dieser Insel ist nichts los, hier wächst auf allen Steinen Moos, hier sind die Zwerge riesengroß, reimte Rio ganz ähnlich und meinte Diepgen. Auf Honecker und seine Zwerge passte das aber auch. Ob grüne Insel, ob (West-)Berlin der „alte Junkie“ = die Insel im Roten Meer oder das Trabbiland: Man wartet und säuft und pflegt eine kleine Sehnsucht nach Veränderung, ohne zu ahnen, welcher Art sie sein wird, wenn sie eintritt.
Crying and laughing:
– erlebst und erleidest du beim Wiedersehen und Abschied nehmen auf den Flughäfen dieser Welt, und zwar nicht nur, wenn dein Lover unglücklicherweise aus dem Lager der „Klassenfeinde“ stammt und mit Tageskarte und Westplattenmitbringsel auf Besuch kommt, sondern auch, wenn du Internationalismus nicht nur als Phrase herbetest, sondern –lebst; und dich ausgerechnet in jemanden verliebst, der auf sozialistische Art abgeschoben wird, bevor eine Mischehe entstehen könnte: russ. Offizierstochter, Vietnamesin, Angolanerin, …
I’m counting on you:
– mein Kind, denn du wirst den Weg finden müssen, den meine Generation verloren hat… (ein wunderbarer Song für den Stagnationszeitraum der 80er, die „Zeit der kleinen Schritte“, in der alle anstehenden Probleme durch ein Achselzucken „gelöst“ wurden.)
The getaway:
– mit dem Kopf durch die Wand bzw. über die Mauer;
– ein paar gibt’s immer, die den Ausbruch versuchen und die dafür erschossen werden…
– denn:
Ship to shore, you can’t leave me anymore:
– singen sie jeden Abend in Wandlitz, weil sie wissen, dass alle Kähne auf dem Trockenen sind und nur per Gnadenerlass herausgelassen wird, wer bezahlen kann oder für wen bezahlt wird…
All the love I have inside me:
– is for you, die es hier mit mir in meiner Nische aushält und mein Schicksal teilt;
Borderline:
– Trennung, in Zeiten explodierender Ausreiseantragszahlen, Abschied ohne Aussicht auf Wiederkehr; ob ich je wieder zurückkehren darf entscheiden „die Umstände“…
– irgendwann wird es keine Grenzen mehr geben, sagt man so…
Where the peaceful waters flow:
– ist immer da, wo die Kindheit stattgefunden hat und das ist deshalb auch immer die wichtigste Gegend in deinem Leben, egal wieviele Jahrzehnte du selber brauchst, um das zu kapieren; die Umstände des Wegganges bestimmen die Intensität des Wiedersehens.
Wer von Kassel nach Würzburg zieht, wird nicht unbedingt weinen, wenn er mal wieder vor dem Schwimmbad steht, in dem er früher schwimmen gelernt hat, wer von Wismar nach Lübeck schwimmen musste schon.
The Revolution:
– reift heran, wie Engels formulierte. Das Volk will nicht mehr – die Regierung kann nicht mehr- wie bisher. Plötzlich empfinden nicht mehr nur ein paar die Wut und die Lust wächst, erlebte Bevormundung und erzwungene Selbstbescheidung heimzuzahlen: Die Richtigen soll’s erwischen!
Light a Fire:
– greift zur Kerze, wenigstens montags abends, in Leipzig und lehr die Bonzen das Fürchten…
Liberty:
– die alte Schimäre, die keiner je gegriffen hat, „ich seh ja nichts, der Käfig ist ja leer…das ist ja grad der Gag, man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg… denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein…“
– worauf hoffen, wenn nicht auf sie?
———
Und wenn dich die Freiheit enttäuscht hat/im Stich ließ? Dann?
Ja, dann hast du vermutlich den Ferryman zu früh bezahlt – du verstehst? Schwimm halt an Land, schüttle das Wasser aus dem Pelz und versuch es „one more time“.
Nicht jeder Ossi konnte Englisch. Nicht jeder Ossi hat das wörtlich so verstanden, wie es sich hier liest. Aber gefühlt haben es viele, dass DIESE Platte etwas ganz Besonderes hat.
Auch wenn man nicht erklären konnte, worin das Besondere bestand.
In diesem Falle war man eins mit Chris de Burgh.
Die ungeplanten Erfolge sind die Größten.
(Die Platte konnte man im Intershop für Westgeld – also fast offiziell erwerben. Sie wurde sehr populär im Osten. Die Chefeinkäufer, westkontaktverwöhnt, empfanden nichts dabei: Chris de Burgh – das ist doch dieser Schnulzen-Heinz!)
Wie wär’s denn mal mit „Spanish Train“ ?
Das waren noch Zeiten 🙂
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Die is‘ auch okay. Die „castlewalls“ und die „perfect day“ mag ich aber mehr. Die „crusade“ is‘ zu glatt und für DAS Thema zu undramatisch. Soviel zu den Vorgängern.
„Moonfleet“ (2010) und „hands of man“(2014) fand ich dann wieder richtig stark.
Hab ihn auf beiden Touren live gesehen. Super-Show: Videounterstützung, phasenweise im Ohrensessel sitzend und die Vorgeschichte mancher Songs erzählend; und das Allerbeste: Für große Livekonzerte angenehm leise und
klar im Sound; preislich geradezu billig (um die 50 Euro) – also da findet man echt nichts zu meckern.
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Ja, einer der meist unterschätzen Liedermacher im klassischen Sinn, da lohnt es sich zuzuhören und auf den Text zu achten…und Musik schreiben kann der auch noch…keine Selbstverständlichkeit in der heutigen Musikszene 🙂
Grüsse von Jürgen
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Meine Güte, und ich dachte immer das hieße „Fairyman“ … naja, so is das, wenn man aus den südlichen Provinzen stammt, da reicht die Bildung halt irgendwie nicht so ganz!
Servus, dieses Lied mag iich übrigends waaaahnsinnig gern, auch wenn es jetzt ein Ferryman geworden ist!
Gruß
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