Unverzichtbar IV

Was bleibt von der DDR? Dem Leseland, dem via „Praline“ und „Playboy“ schon 89/90 die Leser abhanden kamen? „Eulenspiegel“ berichtete. Isses auch literarisch die Fußnote der Geschichte, die Stefan Heym einst prophezeite? Für mich nicht:

schnauzerAller Anfang war Pieske. Manfred Pieske. Das mag verblüffen, aber gleich als meine literarische Horizonterweiterung via Hesse geschehen war, fiel mir in der MHO (= Militärische Handelsorganisation; also Armeebuchladen) Manfred Pieskes „Schnauzer“ in die Hand. Purer Zufall – aber was für ein Volltreffer. Hirzek und Pottl. Der verbogene ehemalige Individualist und der Karriere-Arsch. Da steht einer vor einem schier unlösbaren Problem in seinem Betrieb in den 70ern. Er hadert schon im ersten Satz mit seiner Berufswahl. Und er erinnert sich, wie standhaft er einst in den 50ern war, als der galoppierende Kleingeist seiner domestizierten studentischen Umgebung von ihm verlangte, seinen Schnauzbart zu entsorgen, denn der sei unsozialistisch. Er merkt, dass er längst nicht mehr soviel Kreuz hat wie damals und er rekapituliert, wann der Punkt erreicht war, an dem es ihm abhanden kam. Ich las es, als ich EK war. Meine Berufswahl machte mir zu schaffen. Vom Schnauzer zum Spießer. Droht mir das Gleiche? Geht das allen so? Wann wird man Hirzek und wann Pottl? Christoph Hein hatte etwas später mit „Der fremde Freund“ einen gesamtdeutschen Hit über Stagnationszustände gelandet. Der „Schnauzer“ ist die Hardcore-Variante dazu.

Der zweite Hieb fast zeitgleich war die Erkenntnis, dass Erwin Strittmatter mitnichten nur Lehrbuchkompatible Propaganda ersann, sondern mächtig einen Schalk im Nacken hatte, wenn er seinen „Wundertäter III“ mit dem deftigen Satz beginnen ließ:

Stanislaus Büdner kaufte sich ein Volksblatt und las sich fest.

1979 ein Brüller! Kauf dir eine Ost-Zeitung und versuch darin irgendwas zu finden, was dich interessiert! Ein Unding! Was kann langweiliger sein als DDR-Presse!

wundertäterAber damit nicht genug, das Buch strotzt nur so vor lauter wundersam unzensierten Sozialismusohrfeigen. Es erschien folgerichtig zunächst nur in einer 5000der Startauflage für „unter dem Ladentisch“; durfte 1983 jedoch zahlreicher erscheinen und wirklich auch oberhalb des Tisches gehandelt werden!

Der dritte Schlag war dann für mich Neutschs „Auf der Suche nach Gatt“(1969 fertig gestellt und zunächst nicht gedruckt, ab 1973 mehrere Auflagen und eine sehr gute DDR-Fernseh-Verfilmung in 2 Teilen), weil ich, nun (ca. 1984) schon trainierter im Umgang mit sozialistischer Gegenwartsliteratur, mitbekam, wie da einer gern heftiger kritisiert hätte, aber die Schere im Kopf hat. So bringt er die sehr typische DDR-Bürgen-Zerrissenheit auf den Punkt: Gatt ist der resignierte Superkommunist, der der Parteikarriere entsagt hat und als hoch dekorierter aber einfacher Werktätiger im Bergbau lebt. Zwischenzeitlich war er Journalist. Warum blieb er es nicht? Anlässlich eines Festaktes ende der 60er Jahre trifft er auf seine Ex-Frau. Er will ihr nicht erzählen, was nach der Trennung geschah. Aber in seinem Inneren spult sich sein bisheriges Leben ab.
Viele aus der Flakhelfergeneration, die in der DDR etwas werden konnten und nicht zu hirnfreien Propaganda-Claqueuren mutierten, dachten so ähnlich wie Gatt und seine Ex. Er, der Arbeiter, der per Abendstudium aufsteigt und sich schließlich wieder zurückzieht; und sie, die Tochter aus „gutem Hause“, in dem man die Westflucht plant; die aber ihm zu liebe bleibt und Genossin wird.
Du bist dem Staat ehrlich dankbar für Ausbildung und Aufstieg, aber dieses und jenes stimmt eben nicht mit den hehren Idealen überein. Du eckst an, du bremst dich, du willst verbessern, nicht revoltieren – du nimmst trotzdem Schaden. Wieso kann man nichts ändern?

Die Zeit verging. Die Werke wurden umfangreicher. Strittmatter one more time: DER LADEN – 3 Bände, die es in sich haben.
Um sie schreiben zu können,  muss man zur richtigen Zeit geboren sein und die Zeichen der Zeit erkennen. Es gibt da einen unerfreulichen Streit um die Jungmännerjahre des Meisters, ganz und gar Grasskompatibel. Dadurch deutet sich an, dass er die Zeichen der Zeit nicht immer richtig erkannte, jedoch lernt sich das mit der Zeit besser und besser. Erst „Ole Bienkopp“(1960), dann der 3. Band des „Wundertäters“(1979) und zum Lebensende (1992) hin wiederum der letzte Band einer Trilogie – DIESES Buch wäre vor dem Mauerfall nicht möglich gewesen! Sein Inhalt: Der grausige Neustart in der Ostzone, die desorientierten Heimkehrer, das Denunzieren-Sollen, die russisch vergewaltigte Schwägerin, der traumatisiert-versehrte- und dabei ehemals komplett harmlose Schulkamerad, dessen Bruder „der Iwan“ mit der Schaufel im „Lager“ erschlug…
Verfilmt wurde das Werk meisterhaft, dank Plenzdorf-Drehbuch!

(Übrigends auch sowas, wie die letzte Heldentat der Witwe des Meisters. Sie hatte die Erlaubnis zur Verfilmung gegeben und dann das Projekt gestoppt, als ihr das westdeutsch geschriebene Drehbuch vorgelegt wurde: Entweder Plenzdorf schreibt neu – oder der Film wird nicht gedreht!

Ansonsten wäre vermutlich etwas ähnlich Ungenießbares herausgekommen, wie  – siehe unten.)

Vergessen ist da „Tinko“ aus den 50ern, der einst als Pflichtliteratur dafür sorgte, dass man eigentlich nie wieder freiwillig einen Strittmatter lesen wollte…

Aber die Krönung bleibt bis auf weiteres ein Nachwende-Epos über den alten Osten: Tellkamps 900Seiten-Wälzer „Der Turm“(2009); turm
Ein abschreckend komplizierter Einstieg a la Christa Wolf könnte den ein oder anderen Leser eventuell entmutigen, deshalb der Tipp: Ab Seite 80 wird es lesbar! Und der Inhalt wird dich umhauen. Besonders die Kapitel über die EOS- und die Armeezeit des Christian Hoffmann. Uff. Ganz schwerer Tobak! (Vollkommen anders als im Film! Siehe unten!) Da träumst du abends wieder von deinem Spieß und all den anderen Idioten, die dir in dieser Phase so begegnet sind. Welche Werdegänge erzeugte die „Republik der kleinen Leute“(Strittmatter) für Angehörige der Intelligenzler? Ein sehr bürgerlicher Roman im Ärzte-Milieu der späten 70er und 80er Jahre angesiedelt. Zwischen angepasster Ergebenheit, resigniertem Zynismus und Bewahrermentalität für Relikte aus „guter alter Zeit“.
Für dieses Buch gehen mir die Superlative aus. Ich wünschte, ich könnte dasselbe über die Verfilmung sagen. Bei den „Buddenbrooks“ hat es in 100 Jahren immerhin 2x funktioniert. Aus dem „Turm“ wurden 2012 zwei Teile für die ARD, aber: Augen zu! Hände weg! Ab in den Giftschrank mit dem Ürgsel-Plot! Eine Billigklamotte voller unangemessener Abweichungen und historischer Fehler. Als Ossi kann man das nicht gucken, ohne Augenkrebs zu kriegen. Tellkamp hat das Drehbuch nicht selbst verbrochen aber – jetzt kommts: Er hat den Film gelobt! — Nein. Dichter muss man nicht verstehen. Grass war bei der SS, Strittmatter mit’nem Polzeibataillon auf dem Balkan und Tellkamp lobt diesen fremdverschuldeten Drehbuch-GAU. Hat halt jeder so seinen Image-Schaden.

13 Gedanken zu “Unverzichtbar IV

    • Waltraud Lewin – war das nicht der Autoren-Star der frühen 80er, die auch mal irgendwas Mehrbändiges über das alte Rom geschrieben hat? Oder verwechsle ich die grade? Die Rombücher haben mich nicht gepackt. Ich hab schon im 1.Band aufgegeben. Zu mächtig wirkte da Felix Dahns Gegenentwurf nach. Aber im ersten oder zweiten Temperamente-Heft von ’81 fand ich dann mal eine Kurzgeschichte oder eher Parabel von ihr über Umweltprobleme (Luftverschmutzung). Und das in der Täterätätä! Ich glaube, die hieß „das Karussell“. Die fand ich sehr beeindruckend. Wiedergeben könnte ich sie allerdings nicht. Und mutig von einer, die gerade ihren Durchbruch hatte und nun mit diesem Thema in die Fettnäpfe der Bonzen springt, während z.B. Silly gerade auch verwehrt wurde, den Song „Dicke Luft“ auf ihre ansonsten trotzdem sehr erstaunliche Provokations-LP „Mont Klamott“ zu pressen.

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      • Richtig.
        Auch das die 3 Romane nichtig sind.
        Wunderbar dagegen die schmalen Bändchen der Reiseberichte zu jedem.
        Mit ihrer Tochter Mirijam Markgraf hat sie lesenswerte Märchen wie “ Die Zaubermenagerie “ geschrieben. Auch lesenswert die Händelbiografie der beiden.

        Ich hatte es schon bei dem verehrten Herrn Ärmel geschrieben.
        Leider kann ich weder mit Asterix und Obelix noch mit den Digedags etwas anfangen.

        Einen frohen Ersten Advent wünsche ich Ihnen.
        Ich werde ihn auf Rügen verbringen und Prora von Ihnen grüßen.:-)

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    • Hastn da so? Hastes auch mit unserer „heiligen“ Christa versucht? An der bin ich immer gescheitert. „Christa T.“ mussten wir im Studium lesen (ächz!), vom „Kindheitsmuster“ schwärmte meine Mutter, den „“Störfall“ hab ich mir freiwillig einverleibt (achselzuck!), weil er immerhin nur ein dünnes Bändchen ist und die „Kassandra“ hab ich nach ner losen Blätterei lieber gleich im Buchladen gelassen…

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      • Wolf, Plenzdorf, Marohn (die sogar hier mal live lesen hören), Kunert, Bobrowski, Bert der Grosse…
        Mir fällt auf, dass ich mich ziemlich anstrengen muss, dass mir alle einfallen.
        Viel vergessen bedeutet sehr geringe Nachhaltigkeit …

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      • Wolf? Marcus oder Friedrich? Plenzdorf ist so ein Kuriosum – sehr gehypt wegen „den neuen Leiden…“ und „Legende vom…“ aber irgendwie nicht mein Ding geworden: Die „Leiden“ waren 1980 herum, als ich sie las, schon Schnee von gestern und „Paul&Paula“(den Film) hab ich zu früh gesehen, als ich ihn noch nicht verstand, da war dann irgendwie der Zugang für das Buch („Legende“) verkorkst.
        Kunert? Ist mir irgendwie zu überdreht, wie auch Kirsch und das meiste vom R.Kunze. Seine „wunderbaren Jahre“ allerdings waren so ein Knüller, den die DDR lieber hätte annehmen sollen, anstatt ihn zu verteufeln.

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  1. Ole Bienkopp! Endlosdiskussionen wegen der Rinderoffenställe während meiner Landwirtschaftausbildungszeit mit dem Agitprop der Klasse…
    Herrjeh, ich muß nochmal in Ruhe bei Ihnen lesen, Sie lassen Erinnerungsschubladen wüstrüde rasseln!
    Der Laden, in dem stand ich schon in der Heede, hach…
    Eilfleißige Grüße, immer die Ihre, erinnerungsschwappend.

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    • Mein Gott! Streit um Rinderoffenställe? Die wurden doch bereits ende der 70er sogar an meiner borniert 300% EOS als Fehler zugegeben. Wie alt sind die denn? Mist. Das fragt man ja ne Frau nicht.

      (Grummelgrummelgrummel, dabei sieht die auf ihren Blogfotos gar nicht soooo alt aus grummelgrummelgrummel….)

      „…und dann die Rinderoffenställe: Die Rinder bekamen Winterfell, gaben aber keine Milch mehr.“ (Zitat mein mir ansonsten verhasster Sport- und Erdkundelehrer, beim Thema RGW-Kooperation)

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      • Noch fümpfundpfirsich, Verehrtester. Ackerdamen sind nicht so pikiertgeziert…
        Die Fachlehrer waren mit dem Thema längst durch, aber den druschbasalbadernden Agitprop störte jedwede Kritik am großen Bruder und natürlich an der Altherrenriege. Wir nannten ihn Mischa. Fachlicher Vollpfosten, gehässige Petze… ach, Sie kennen diesen Menschenschlag des geborenen Untertanen sicher. Keine Ahnung, was aus dem geworden ist…
        So ist das mit dem Schubladen aufziehen, da ist immer noch ein Denksocken mehr drin. Mischa fand sich eines Tages im leeren Molkefaß eingesperrt wieder, er hatte einmal die Falschen verpetzt.
        Erinnerungsaufdröselnde Grüße, die Ihre, entgrummellachend.

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      • Dankedankedanke, ja und ob ich die Sorte kenne. Mehr als genug davon. Die waren sogar der Stasi zu naiv.

        „Immer der Socken mehr drin im Erinnerungsschubfach“ ist ein schönes Bild.

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