Eine von uns

Einweckgummi um den Kopf und Storchenfedern drin.
Die Stuhlbeingewehre im Anschlag: Rennen, brüllen, schießen(mit dem Mund)!
Fertig war der Indianerkrieg der 1.Klässler im 20. Jahrhundert. Mitten in Deutschland. Im Garten einer Gründerzeitvilla.

Der große, alte, teilweise bunt verglaste Kasten von 1910 wurde von den Eigentümern und 4 Mietparteien bewohnt. Die Eigentümer waren Connies Eltern. Eine der Mietparteien bestand aus einer unverheiratet gebliebenen alten Frau.
Fräulein Bollwitz:

Sie wohnte im 2.Stock und ging, ganz modern für die Mitt60er damals, mit so einem Rentner-Rolliwagen einkaufen. Der wiederum war das einzige moderne an ihr: Ihre sonstige Erscheinung – stets grau in grau gekleidet, gebeugte Haltung, kleiner Nackendutt, staksig gebrechlicher Gang – ließ sie eher wie die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ erscheinen, wenn da nicht – tja, wenn da nicht ihr fast Runzelloses Gesicht gewesen wäre und dieser Schalk in den Augen:
Sie verarschte uns gekonnt. Wir aber waren der Meinung – die nimmt uns ernst.
Wir mochten sie sehr.

Es begann eines schönen Sommertages:
Fräulein Bollwitz hatte uns bereits eine Weile zugesehen, wie wir 3 gegen imaginäre Luftgegner kämpften, Cornelias Puppe (als entführte Squaw) befreiten und schließlich jubelten, weil der Befreiungsplan „völlig überraschend“ gelungen war.
„So! Mal eine Kampfpause die Herren Krieger! Würden Sie bitte so freundlich sein und einer alten Squaw die Einkäufe die steile Treppe hochtragen?“
Yeahr. Der Eindruck auf uns war ungeheuer! Wir waren mit ach und krach 7 Jahre alt und wurden ernsthaft gesiezt! Sie hatte sich exakt als „alte Squaw“ beschrieben! Doppel-Yeahr!
Natürlich legten wir Hand an und buckelten den überladenen Rolli wie eine Tragbahre die zwei Treppen hoch.

Oben angekommen, bugsierten wir ihn in ihre kleine Küche und wurden prompt zur Belohnung ins Wohnzimmer gebeten. Hier lauerte die nächste Überraschung auf mich:

„Oahr!“ entfuhr es mir, „wassndas?!“
Gleich hinter der Türschwelle lag kein Teppich, sondern ein (schon arg abgetretenes) Tierfell auf den Dielen!
„Das war mal ein Keiler. Mein Papa hat den geschossen, als ich noch ganz klein war.
Is’lange her.“

Die kleine Wohnung dieser alten Frau hatte deutlich mehr zu bieten als unsere modern möblierten Kinderzimmer:
Ein Esstisch mit 4 Stühlen ist an sich nichts besonderes, wenn aber die 4 Stühle thronähnliche hohe Lehnen haben, wo am oberen Rand noch so ein Drechselschnörkel an eine Krone erinnert, dann schon!
Dahinter erhob sich ein Altarmäßiger Holzaufbau der 3 Seiten eines Gründerzeitsofas umrandete. Rechts vor den beiden hohen Fenstern standen zwei kleine Sessel mit schwungvollen Armlehnen, dazwischen der unvermeidliche Gummi-Baum.

Udo und ich nahmen Platz. Connie lehnte sich an die Lehne.
Fräulein Bollwitz kramte in der Kommode zur Linken und förderte eine Tafel „Milka“ zu Tage. „Westschokolade!“, entfuhr es Udo.
„Klar. Wilder Westen eben?! Passt doch?“, antwortete die „alte Squaw“ schlagfertig.
„Gold hab ich halt keins.“, setzte sie noch nach.
So war noch nie ein Erwachsener auf unser Spiel eingegangen!

Wir verschlangen die Schokolade zu dritt, bedankten uns und tobten die Treppe hinunter zurück in den Garten.
Ein paar Tage später wiederholte sich das Ganze mit dem Unterschied, dass wir Frau Bollwitz diesmal mit ihrem Rolli schon kommen sahen und das Spiel gleich selbst unterbrachen, um unsere Tragedienste anzubieten. Natürlich war es der „alten Squaw“ recht.
Es gab auch diesmal keine Milka mehr, sondern einfache Butterkekse, aber das war egal.
Wer ein Fell hinter der Türschwelle zu liegen hat, der bräuchte gar nichts zu bezahlen, der ist „einer von uns“.

13 Gedanken zu “Eine von uns

  1. Ich hatte damals das unverdiente Glück, mit der ersten Welle finanziell einigermassen abgesicherter Rentner aufwachsen zu dürfen. Die noch die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts als Geburtsdatum hatten. Die sassen in seltsamen alten Häusern und Wohnungen, die man schon vom Geruch her kannte, warfen nichts weg, was einigermassen brauchbar war und konnten endlos erzählen.

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  2. Eben, eben…und ich konnte endlos zuhören. Meine Heimatstadt galt als Pensionopolis für ehemalige Offiziere, die waren (soweit lebendig) 1945 Richtung Kassel emigriert; übrig blieben die Villen und verwitwete Gemahlinnen bzw. alte, unverheiratete Töchter kaiserzeitlicher Offiziere, die mit Hut und Muff das Erscheinungsbild des Bürgergarten-Viertels prägten.
    Am erstaunlichsten für mich als Vertriebenen-Nachkomme waren die erhaltengebliebenen Wohnzimmer in dieser „heilen Welt“, inclusive der Bücherschränke, die „Papa“(sprich Pa-Paah!) vererbt oder dagelassen hatte.
    Da ging ich auf Entdeckungsreise: Schreckenbach, Freytag, Wallace, Luckner und diverse „für die reifere Jugend“ erzählte Erzählungen deren Autoren ich vergessen habe: „In ferne Welten“… „der Mestize“….“Der Gefangene der Aimaras“ usw.

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  3. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt waren die Indianerkriege bei uns (trotz modenster Ausstattung mit „voll super echt“ aussehenden Colts und Winchestergewehren spätestens nach der ersten Schießerei vorbei.
    „Peng Peng, du bist tot“
    „Garnich wahr“
    „Doch“
    „Dann spiel ich aba nich mehr“

    und aus…

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    • Das war bei uns schon bei den Elastolin-Rittern um Mittelalter so, dass es langweilig wurde wegen mangelnder Sterbebereitschaft anderer Buben.
      Indianer haben wir garnicht mehr gespielt. … ich muss mal überlegen, was wir in welchem Alter eigentlich gespielt haben.
      Spontan würde ich sagen, dass diese Indianerspiele und dergleichen nur an Fastnacht stattgefunden haben. Pulverblättchenrevolver. Die später aufkommenden Platzpatronencolts passten eigentlich garnicht für Cowboys fällt mir gerade eben auf…
      Ich glaube wir habben mit Autos und Eisenbahnen gespielt. Sind Rad gefahren und haben dauernd „echtes Leben“ gespielt…
      Interessantes Thema allemal

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      • Oooch, ging das bei euch phantasielos ab! Man teilt sich doch nicht in Gruppen und eine muss verlieren! Klar, dass das in Streit endet: Die wahren Abenteuer sind im Kopp – das ahnte ich lange vor Andre Heller.
        Man baut eine (feindliche) Feuerstelle in den Garten; die Gegner drum rum bildet man sich ein – anschleichen, belauschen, sich scheinbar fangen lassen, an der Teppichstange(Marterpfahl) stehen, die Kumpels per Zuruf instruieren, wie sie einen befreien sollen oder selber ausbrechen, sich angeschossen von der Trockenmauer fallen lassen(Pfeil unter die Achsel geklemmt) – das sah malerisch aus und wurde nie langweilig.

        Beim Stichwort „echtes Leben spielen“ fällt mir nur ein: Mit schönen chicen Machbox-Autos wollten wir das einigemale auch, aber außer „Paule, kommste zur Versammlung“ und „oh ich hab Reifenpanne!“ fiel uns da nichts brauchbares ein. Auf James Bond artiges sind wir irgendwie nicht gekommen. Die Filme liefen ja bei uns nicht. Und Assijagd als Volkspolizei erschien uns auch irgendwie eintönig.

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      • So ablehnend war das nur in Bezug auf die Mannschaftsbildung beim Indianerspiel gemeint. Irgendwas muss euch ja beim Gegenwart spielen eingefallen sein. Auf dem Gebiet war meine Umgebung phantasielos.

        Ich hatte mal Besuch von einem Klassenkameraden, der wollte mit meinen „Mätschern“ Autorennen spielen. Ich war anfangs dafür: dann nahm er eins nach dem anderen, gab ihm Schwung und ließ es vor die Scheuerleiste rasen. Das war die ganze Idee. Nur „engengengeng!“ und „prrrrh!“ – keine Idee, nüscht!
        Er kam auch bloß einmal.

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      • Nachvollziehbar. Mit einem solchen kleinen Burschen hätten wir wohl auch nichts anfangen können.

        Mit unseren Schucos, Matchbox oder Corgy Toys, um bei deinem Beispiel mit den Autos zu bleiben, haben wir jede Menge verschiedene Situationen gespielt. Es war ein Miteinander, verschiedene Buben hatten verschiedene Rollen. Für mich war das Seelenbalsam, keine Konkurrenz, keine langwierigen Diskussionen oder gar Streitereien: harmlose Kinderspiele.
        Mit den anderen Kindern im alten Ortskern (Bauernhöfe!) waren die Regeln enger. Vorsicht in der Scheune, nicht zu den Kühen und Pferden; da wars meist verstecken, nachlaufen, Kreiselspiele und dergleichen…

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  4. Ach, Sie heute mit Ihren Erinnerungslawinchen! Mama Löwenherz vermachte mir eine Schwarzflechtzopfperücke zur ultimativen Squawdarstellung. Leider war ich das einzige Gör im Cowboyundindianerhaufen und sollte ergo das permanente Entführungs- und Befreiungsweibchen sein. Verdammte Hacke, ich war besser im Anschleichen, Feuermachen und Piffpaffrufen als mancher Junge! Auch entsinne ich mich des roten Langzeitabdrucks, den der Stirngummi ob des selbstvergessenen Spieles hinterließ…
    Wiesüchtigweiterlesende Grüße, die Ihre.

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  5. Na, im Nachhinein lässt sich diese Art von Kindheitsärger doch glatt ins Gegenteil verkehren: Wer immer das Entführungsopfer spielen soll, muss von den Tätern doch als äußerst attraktiv empfunden worden sein!
    In meinem damaligen Trio war die, die ich hier Connie getauft habe, eher so eine verjüngte Ausgabe von Chris Doerk. Kurzhaarschnitt und so. Das machte sie automatisch zu „one of the boys“, auch bekam sie dank unseres Umgangs eher Indianer-Figuren und Pfeil und Bogen geschenkt.
    Ihre zweistubige Sperrholz-Puppenstube war unser Saloon und Knast.

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    • So verführerisch Ihre nachhineinige Gegenteilverklärung ist, das Totschlagargument war jedoch immer: Aber du bist nunmal ein Mädchen! Da nutzten auch raspelkurze Haare nix und das Auftragen sämtlicher Großbruderverschleißklamotten. Dass ich als einzige einwirklich scharfes Taschenmesser besaß, war auch nur hilfreich, wenn mir die langweilige Ambaumfesseley zu öde wurde…
      Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, Ihre Frau Knobloch, unverklärt, doch kindheitsglücklich.

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  6. Pingback: In Hedi’s Room | toka-ihto-tales

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