Das kalte Herz…

Das kann doch nicht sein, dass unter Bloggern niemand einen Nachruf auf den „Vater der Einheit“ zustande kriegt? Bloß – mir will’s auch nicht gelingen. Heucheln will ich nicht, da werden dieser Tage bereits alle Rekorde gebrochen. Anklagen kann ich nicht, denn – wenn‘s auch schwerfällt, es zu gesteh’n – ich verdanke ihm die Rettung vor reformerischen Abenteuern durch weltfremdes Wende-Personal in einer bestehenbleibenden DDR. „Angekommen“ bin ich jedoch auch wieder nicht…

Sie merken schon – es wird kompliziert:

Sein Wähler war ich nie. Aber das behaupteten ja schon alle – da war er noch an der Macht.

In jener alles verändernden Novemberwoche war mir der 4. November wichtiger als der 9. – und damals stand ich mit dieser Meinung NICHT allein. Das Verschwinden der DDR konnten wir Mauerjahrgänge uns nicht vorstellen, das Verändern schon. Erst im Nachhinein zeigte sich, dass diese Utopie in endlos glückloses Gewurstel geführt hätte. Schau in die ehemaligen Brudervolkstaaten heute! Kohls Weg brachte Zuckerbrot und Peitsche: D-Mark und Arbeitslosigkeit. Und die Dödel, die vorher immer herumgenöhlt hatten „Wer orbeidn will, findet ooch welche!“ und „Nur mit Gohl geht’s uns wouhl!“ saßen plötzlich als erste auf den Wartebänken schnell wuchernder Arbeitsämter und trösteten sich mit Vicky Vomit „Ich brauche nur zweiorlei! Orbeidslous und Spaß dobej!“

Das mit dem Wirtschaftswunder Ost war dann wohl nichts.

Straßen und Dächer wurden trotzdem schnell schick. Die Firmengründerei boomte und brach in etwa genauso schnell wieder ein wie 1871-73. Nach dem Ende der Existenzgründer-Schonfrist kam das große Jammern der Pleitiers: Und somit die Rückbesinnung auf den Ost-Blues. Gestern noch Möchtegern-Undornämor, heute Sitzplatz zwischen deinen Ex-VEB-Kollegen, die die Pleitemach-Erfahrung ausgelassen hatten, im Arbeitsamt.

Wenn aber „dulden“ und „machen“ gleichermaßen nichts bringt – dann wird’s über kurz oder lang gefährlich, auch für die, die bisher noch nicht Bekanntschaft mit dem Wartegestühl der inzwischen „umgelabelten“ Arbeitsagenturen machen mussten.

Eierwurf! Halle (an der Saale). Bar jeder Einsicht: Rote-Socken-Kampagne der CDU und – nun erst recht – traumhafte Wahlergebnisse für die PDS im Osten.

Im Übrigen: Keine Lust auf Parteienpartizipation im Ost-Volk. Das politische Bewusstsein ähnelt immer noch dem großen Abwinken in der noch jungen Adenauerbundesrepublik in den frühen 50ern. Nur mit dem Unterschied, dass diese fehlende Mitgliedsbereitschaft heute nicht mehr nur unpolitische Untertanenrestgesinnung ist, sondern vorausschauende Selbstrettung:

Was soll ich mir den Arsch breit sitzen in Gremien, die eh nichts bewirken.

Jeder schleppt seine Bevormundungserlebnisse aus den 90ern mit sich herum. Jeder andere. Aber jeder hat welche. Inzwischen ist viel geschrieben worden, auch über die Fehler der Einheit. Aber inzwischen sind wir eben auch kein Leseland mehr.

Der Name Kohl stand für all das nassforsche CDU-Gequatsche und Abgewatscht-werden in den 90ern.

Schäuble, Rühe, Waigel und wie diese Sym-Paten alle hießen – da war man froh, dass die wenigstens im Westen wohnen blieben und nur ihre Staatssekretäre schickten.

Dumm nur, dass die Gegenseite letztlich auch nur einen hannöverschen Blender hatte.

Der Lernpozess im Nachgang ließ erstaunen: Während Blüm-Geißler-Kohl in den 80ern noch sozialdemokratische Familienpolitik betrieben, gebärdete sich der Genosse der Bosse wie der wiederauferstandene Marinelli aus Lessings „Emilia Galotti“: Allzeit bereit, seinen Auftraggebern die Hindernisse aus dem Weg zu schaffen.

Ich begann Wahlentscheidungen zu bereuen und Blüm zu vermissen.

Kohl? Nicht.

Aber zwei Bilder werden bleiben. Das eine ist jene geniale Bildkomposition vom alten Kohl im Rollstuhl vor dem offenen Brandenburger Tor. Die Sonne steht TIEF! Die Schatten sind LANG. Vom Tor und vom „Vater der Einheit“. Der wird demnächst  zukünftigen Geschlechtern als der „Maueröffner“ gepriesen werden. Erinnern wir uns an Bismarck: Erst unrühmlicher und herbeigesehnter Abgang – dann Glorifizierung posthum.

Das andere ist jenes Terrassen-Foto vom Wolfgangsee (ca .‘74) Familie Kohl im Urlaub:

 „Kohl war die personifizierte überdurchschnittliche Durchschnittlichkeit.“

schreibt seine englische Biografin Patricia Clough dieser Tage in der ZEIT und öffnet mir damit eine Tür zum Verständnis, weshalb mich DIESES Foto all die Jahre, wann immer es veröffentlicht wurde – kriegte. Ich kenne es schon lange. Sehr lange. (Christian hatte einen Stapel alte STERN-, Quick- und SPIEGEL-Zeitschriften):

2 Söhne mit vorpubertärem „etwas länger“- Haarschnitt; der ältere in Lederhose MIT GÜRTEL! Das war damals wichtig! NICHT mit diesen Seppl-Hosenträgern! Sie lächeln mit den Eltern in Urlaubslaune um die Wette. Fotos, wie sie jeder kennt – aus seinem eigenen Fotoalbum. Walter und Peter Kohl sehen aus wie Bludgy und sein zwei Jahre älterer Cousin damals. Beide Väter haben jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit dem hier noch mittelalten Helmut Kohl. Wohl aber kenn ich Väter, die so aussahen und die sich ähnlich poltrig gaben. Ich hätt‘ nicht tauschen wollen. Mutter Hannelore – ihre Lebenstragödie ist heute bekannt. Heute empfinde ich Mitleid. (Und Hochachtung vor Walter Kohl wegen seiner Autobiografie, mit der er hier auf Lesereise war.) Früher nicht. Vor ihrem eingemeißelten Lächeln grauste mir. Ich hatte Lehrerinnen mit diesem Gesicht!

Vater und Mutter passten also nicht – aber beiden Jungs fühlte ich mich eigenartig verbunden. Sie waren Teil eines Fotos, das den Alltag schönte, wie das alle Urlaubsfotos tun. Ihre Eltern präsentierten sie, wie das viele Eltern tun. Sie hatten unscheinbare Karrieren vor sich, die sie im Alltag verschwinden lassen würden. Aber: Sie sahen damals aus, wie du und ich, wie der deutsche Durchschnitts-Teenie eben aussah, der lieber der 5. „Mann“ von Slade oder einer von den Cartwrights gewesen wäre, dabei war man nur – „das dritte Kind“ – vom Kohl?

 

11 Gedanken zu “Das kalte Herz…

  1. Höre ich Kohl denke ich an die blühenden Landschaften, die damals noch wirklich blühten, um dann zu verdorren … weil Einer sie versprochen hat? Herrjehr, es ist und bleibt eine unsägliche Geschichte und nein, ich trauere nicht!

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  2. Pingback: Das kalte Herz… — Ein lesenswerter Nekrolog aus dem Osten! | form7

  3. Weißt Du was, Mr. Blu, Dein Text geht mir nahe, auch wenn darin von einem die Rede ist, der mir total fremd war. Das, was er ausstrahlte, diesen bundesdeutschen Mief mit Haus im abrasierten Garten und mit einer Eingangstür, die so grauslig ist, daß man beim Eintreten schon Depressionen kriegt … mit Urlaub am Wolfgangssee, mit einer Frau, die längst zur Säule erstarrt war und zwei dressierten Kindern, meine Güte, wie mir das zuwider war.
    …einer, der innen viel kleinmütiger war, als seine große wuchtige Gestalt vermuten ließ, der nach Macht und Anerkennung lechzte, und bei dem ich immer so ein Frösteln hatte, als würde er über Leichen gehen,
    ( aber der danach kam … nach außen einen souveränen Staatsmann gebend und dann halt auch nicht mehr Potenial wie ein kleiner Kläffer, der gerne großer Weltmann gewesen wäre … nicht weniger machtgeil wie sein Vorgänger.)

    Großen Respekt habe ich vor den Söhnen Kohls, die sich aus dessen Dunstkreis herausgearbeitet haben.

    „Tröst ihn Gott!“ – sagt man bei uns, wenn man über einen grade Verstorbenen spricht. Ich denke, er hats nötig. Soll er in Frieden ruhen. Das sei ihm gegönnt, das war´s aber auch schon.

    Gruß, hast ne Mail

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  4. Also, der Tod von Helmut Kohl treibt mich schon um … nicht, weil ich Trauer empfinde, sondern weil er eben eine prägende politische Gestalt war und just in jenen Jahren meines Lebens, in denen ich dann – Abschied nehmend von der Jugend- und Studentenzeit – als erwachsener Mensch anfing, mein Leben zu leben und zu gestalten.

    Ich halte seine Bedeutung für die deutsche Einheit für überschätzt … aus meiner Sicht ist ihm – dank der ostdeutschen Protestbewegung und dank Gorbatschow – die deutsche Einheit mehr in den Schoss gefallen.

    Thatcher und Bush gaben dann auch ihre Erlaubnis … vielleicht werde ich ihm da nicht gerecht … aber ich halte die Verdienste von Willy Brandt diesbezüglich für größer … denn er hatte mit seiner „neuen Ostpolitik“ begonnen, die Mauer brüchig zu machen.

    Ansonsten war Kohl ein eisklater Machtmensch, er hat sich über das Gesetzt hinweggesetzt und er war – ich habe gerade ein Portrait inSpiegel-TV gesehen – auch ein ganz schön überheblicher Mensch (na ja, dass ist der Gerhard Schörder ja auch *ggg*)

    Von seinem Umgang mit seiner Frau Hannelore und seinen Söhnen will ich jetzt gar nicht sprechen … dies ist hinreichend dokumentiert.

    Also: christlich hat er ganz sicher nicht gelebt … und ein weiteres Mal zeigt sich dass das „C“ bei vielen oder einigen Mitglieder der CDU nur ein billiges Lippenbekenntnis ist.

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    • Halber Dissenz. Protestbewegung und Gorby sind zwar ein großer, aber richtungsloser Ansatz gewesen. Wie ich oben schrieb: Ohne Kohl hätten wir Stück für Stück die Erfahrung machen müssen, dass all die Bürgerrechtler auch überhaupt keine Peilung hatten, was möglich ist und was nicht. Das wäre nicht gut gegangen. Drei von den „Berühmten“ hab ich live erlebt und das Erlebnis war in allen 3 Fällen seeehr ernüchternd: DIE wolln es besser machen?
      Schon allein der Fall, dass wenige Monate nach der ersten Landtagswahl in Brandenburg die Ampelkoalition platzte, weil Bündnis 90 nun plötzlich merkte, dass Stolpe(SPD) als Konsistorialpräsident der evangelischen Kirchen der DDR Stasi-Kontakte hatte. Wow. Die verbrachten jahrzehntelang ihre Freizeit in den Hinterzimmern irgendwelcher Pastoren und kapierten erst nach der Wende, wie Kirche im DDR-System funktioniert? Na klar muss der „Kontakthalter zur Staatsmacht“ mit dieser sprechen,und ihre „treuesten Boten“ sind nunmal die Typen aus der Normannenstraße gewesen.
      Kohl machte Nägel mit Köpfen, zwar auch nach unfertigem Plan und vor allem mit dem falschen Ersatz für den erschossenen Rowedder und gegen die Widerstände von Thatcher, Mitterand, der ganzen SPD und der halben CDU…
      Lafontaine zur 1990er Wahl – was für ein Versagen! Selber Schuld, wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt…

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  5. Nicht einfach das Thema…und vielleicht alles noch zu frisch für eine distanzierte abschliessende Bewertung…zumal wenn jetzt auch noch die familiäre Tragödie bekannter wird…Ich denke er hat Glück gehabt und im entscheidenen Moment wusste er als Machtmensch genau wen er wie für sein Ziel einspannen konnte…und alles weitere würde die D-Mark schon richten…mit dieser Entschlossenheit war er vielen voraus…gemocht habe ich ihn aber trotzdem nicht…mir war er einfach zu Deutsch im negativen Sinn…aber eindeutig das kleinere Übel wenn man jenen superintelligent-bösen Alpenstaatherscher betrachtet…der ja auch mal Chef spielen wollte (dummerweise fuhr ich während der Wahlphase gerade durch Frankreich und musste ständig erklären das nicht alle Deutschen Strauss Fans sind) . So gesehen war es schon ok und da vermutlich keiner einen Plan hatte war seiner immer noch der Beste…rückwirkend betrachtet .
    Grüsse von Jürgen

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  6. Ein Nachruf auf Kohl? Sollen andere machen. Das positivste was man über den Mann sagen kann, er hat in zumindest einem Fall sein Wort gehalten: Er hat uns die geistig-moralische Wende versprochen und genau die ist eingetreten. Es ging sowohl geistig als auch moralisch rapide bergab in diesem Land.

    Alles was mich heute noch interessiert ist, ob irgendwann ein Birnbaum auf seinem Grab wächst.

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  7. Letzthin nur flugs überflogen, läßt mich dieser Ihr Artikel nicht los und setzt eigene Denkräder in Bewegung. Dafür vorab ein satter Dank.

    So ein ganzes Leben und was bleibt davon? Schmeicheleien, Heuchelei und Entfremdung von den eigentlich nahesten Menschen. Kanzler der Einheit? Kanzler der Lüge, Kanzler des Zufalls. Keine Anmaßung wage ich, zu vage mein Wissen, dennoch hat er wohl einfach die Zeichen gedeutet und denen den Weg geebnet, die schnelle Veränderungen wollten statt langsames Wachsen. Auch ich hatte wie Sie damals keinen Plan beim Diskutieren in Kneipenhinterzimmern und herzklopfenden Verabredungen zum Demonstrieren. Als die Rufe sich änderten, von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ und Forderungen nach der D-Mark auf Transparenten erschienen, da kamen die ersten zweifelnden Gefühle.

    Nun, wir sind aktiver Teil einer Geschichte und tragen diese Verantwortung mit uns herum. Jeder. Und mancher sitzt gefühlte Ewigkeit krank im Rollstuhl und wird bevormundet. Und bemitleidet, was für Herrn Kohl womöglich noch der schlimmere Part gewesen ist.
    Meine Stimme habe ich ihm nie gegeben, doch einem anderen glaubte ich lange. Deshalb bedaure ich des ersteren Lebensabend in Krankheit und zeihe den anderen des Betruges an seiner sozialen Demokratie. Der regt mich mehr uff, der scheele Uschero!

    Danke nochmals für diesen aufregenden Beitrag, zum Runterkommen singen die Roten Gitarren mir just vom Flötenspieler in der Nacht. Manchmal muß Butter anne Fische, ähem, Schmalz auf den Plattenteller.
    Herzlichst, Ihre Frau Knobloch.

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    • Wunderbarer Beitrag. Nunja, die Roten Gitarren….“auf dem Dach dieser Welt“….konnte ich bisher umgehen. Ich heimele lieber mit Omega und Skorpio. keyyyy felll, keyfel o ember mamamamnnanna na! (Soll jedenfalls ungarisch sein.) 🙂

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