Die kleine Regenbogen-Revolte bekam 2 oder 3 Tage später eine Fortsetzung. Am Abend vor dem sonntäglichen Festumzug, bei dem wir 11.Klässler ausersehen waren in historischen Uniformen die preußische Besetzung Naumburgs zu mimen, sollte es ein Doppelkonzert geben: Auf dem Marktplatz spielen City (zur Ablenkung der Massen), denn auf der Regenbogenbühne am Rummel spielten zeitgleich „Karussell“. City hatten gerade ihren Überhit „Am Fenster“ und eine erste LP draußen. In den 70ern waren sie ein klassisches One-Hit-Wonder, denn der Rest ihres damaligen Schaffens war für mitdenkende Musicjunkies schwer erträglich. Gut wurden die erst in den 80ern. Aber die würden wegen ihres Hits sicher Massen ziehen. Dann bricht auf dem Rummel nicht die Revolution aus, wenn – die Renft-Erben auftreten.
Lebe nicht hinter Glas
Lebe die Welt macht Spass
Lebe und lass dich sehn
Im Geschehn.
Es hatte sich per Ost-und Westradio herumgesprochen, dass es die Ex-Renftler Peter „Cäsar“ Gläser (git) und Jochen Hohl(dr) in eine neue Band geschafft hatten. Somit war die Renftgitarre wieder da! Pannach und Kunert saßen im Knast. Klaus Renft war bereits im Westen. Monster und Pjotr waren wieder „normal berufstätig“…
Die ersten musikalischen Erzeugnisse der neuen Band klangen überdeutlich nach Verbotsverarbeitung, wie oben der zitierte Song „Lebe“ ,der es wohl deshalb auch später nicht auf die erste LP schaffte.
Das zweite Ding war „Autostop“. Eine Kunden/Tramper-Hymne. Spießerkritik in der Tradition von „Zwischen Liebe und Zorn“ und „Trug sie Jeans“, vorausgesetzt, man kannte sich im nun verbotenen Erbe aus.
Jedoch der unglaublichste Knaller war:
Ehrlich will ich bleiben
Ehrlich will ich sein
Lieder will ich schreiben
So wie ich sie mein
Lügenmale stehen keinem zu Gesicht
Mir nicht, dir nicht,ihm nicht, ihr nicht – UNS niiiiiicht!
Der Song war kurz vor dem Auftritt im Saaletal in der Tippdisco auf Stimme der DDR vorgestellt worden. Die Sendung hörten alle Musikabhängigen in meinem Umfeld, weil sie mit Neuvorstellungen und Wunschecke begann, einen (West-)Oldie der Woche spielte, einen Beatles-Oldie und dann erst die „Wertungssendung“ mit lauter Osttiteln, die man sich sparen konnte, denn das Sammelsurium, was sich dort ergab, klang in seiner Mischung so elend wie all die heutigen Ostrocksampler. Die Sendung kam freitagsabends und Samstag war damals noch Schule.
Stefan empfängt mich grinsend: „Gestern Tipp-Disco jehört?“
Ich wusste gleich, was er meinte: „Or, ich dachte mein Schwein pfeift. Brechn se glei’die Sendung ab?“
„Ich wunder’mich ooch, wie das durch de Zensur gerutscht is‘.“
„Nächste Woche doch ma die „Wertung“ durchhalten, obs sich blazierd hat oder obs glei wüddor untorn Debbich is.“
„Wenn die so weidor machen, machnses nich‘ lange.“
„Ob dies ma zu ner LP bring?“
„Schon dor Bandname steht für verordneten Stillstand!“
Nun also: Samstagabend, Vogelwiese –
Hier sind Karussell aus Leipziiiiiig!
Im Gegensatz zu Regenbogen wirkten die Herren wie alte Männer: Mähnen, Bierbäuche, Bewegungslosigkeit; bis auf einen blonden Kurzhaarigen, der irgendwie keine richtige Funktion zu haben schien, der stakste mit Tamburin von einem Mikro zum anderen und sang die Chorusse mit, gab ansonsten jedoch nur ein-zwei Blödelkommentare von sich und forderte zum „say yeahr!“ auf.
Der Raum vor der Bühne: Zugewachsene Kuttenträger, ca 200; reichlich spürbare „Vorglüheffekte“ machten sich bemerkbar. Mitten in diesem Kundentreffen wir 2 Punkerlein mit kurzem Haar, die momentan gerade die Macke hatten: Wir flippen nicht, wir klatschen wenig, wir sind still begeistert. Reinhard Mey hatte kurz zuvor in einem TV-Interview zum Besten gegeben, dass sich ein Journalist auf den einzigen Nichtmitklatscher gestürzt haben soll, weil er Negativmeinung sammeln wollte – und siehe, jene graue Eminenz da in der ersten Reihe erwies sich als BEGEISTERT!
Mit diesem Plan im Kopf sollte man jedoch nicht auf ein Konzert der Erben Renfts gehen, wie sich zeigen sollte.
Sie begannen mit eigenen Songs und internationalem Kram, wie ihn damals viele spielten: Davy’s on the road again….gääääähn; die Earthband hatte ich langsam richtig satt…Heart of gold…okay…Carryon/find the coast of freedom…hat ein Geschmäckle, wenn es ein gerade erst wieder erlaubter Musiker singt! Dann ohne alle Vorwarnung „Mama! Du meine Mama!“ Der Jubel des Publikums brach erste Hemmschwellen: „Reeeeeeenft! Das is Reeeeeenft!“
Renftns „Mama“ ist an und für sich nicht gerade ihr umwerfendster Song, jedoch wenn Cäsar zu der Zeile kommt „und Vater kommt nie wieder, nie wieder , nie wii-hi-deeeeeer“ – wer denkt da nicht an Klaus, der schon weg war. Der Entdecker-Papa, der seine Mitstreiter allesamt aus dem Nichts gezogen hatte, bevor sie dann in andere Bands wechselten: Hans-Jürgen Beyer, Michael Heubach, Jürgen Matkowitz und eben Cäsar…
Ab „Mama“ forderte das Publikum nun: „Cä!Sars!Blues! Cä!Sars! Blues!“ Dem Wunsch wurde nicht entsprochen.
Bass-Solo. Die einzige Truppe, die sowas tat. Langggggg— aber geil. Dann kommt der Drummer wieder auf die Bühne – zu zweit wird’s eine viertelstündige Session. Da Claus Winter am Bass so aussieht, wie der eine von zwei Drummern bei Dickey Betts im Rockpalast gibt es Assoziationen zuhauf. Die Kunden versuchen phasenweise mitzuklatschen; zwei-drei singen Cäsars Blues an, da die Meister auf der Bühne dies ja nicht zu tun gedenken, Flachmänner kreisen, Biergläser gehen zu Boden…die Band kommt nach und nach wieder auf die Bühne. Cäsar hat wie immer die Gitarre gleich unterm Hals hängen und markiert ein paar Handgriffe, als wollte er sie stimmen.
„Cä!Sars!Blues! Cä!Sars! Blues!“
Er grinst ins Publikum
„Cä!Sars!Blues! Cä!Sars! Blues!“
Er greift in die Brusttasche seiner Jeansjacke, aus der die Mundi lugt.
Publikumsorkan: Jaaaaaaaaa!
In dem Moment singt der Kurzhaarige am anderen Mikro an:
„Auf der Wiese haben wir gelegen! Und wir haben Glas gekaut…“
Gelächter, Buh-Rufe, „Falsche Wiese, du Spast!“ Auf Vroni Fischer Gesänge ist hier keiner scharf.
Cäsar bremst den Tumult durch ein kurzes „Na,na!“ Die Mundi erreicht die Lippen und der Veitstanz bricht los: John Mayalls „The breeze“, hektisch, deutscher Text, Arme nach vorn, Kopf runter, beim Klatschen den Rhythmus finden und flink von einem Bein aufs andere treten, so als wäre gerade kein Klo in der Nähe. Was solls, zu unseren Füßen hat sich inzwischen eh Bierschlamm gebildet.
„Wie ein Krokodil auf der Regenwiese….“ Die richtige Wiese war gefunden.
Die kennen auch wir Renftanfänger. Unvorstellbare Rempelei. Der pure Pogo, denn jeder Kunde beanspruchte für die ausgestreckten Arme ja nun einen Quadratmeter, der nicht da ist. Da war das nix mit stoischer Reinhard Mey Konzertbesucherpose: Klaps von hinten, Stoß von vorn; plötzlich waren wir allen im Weg! Mal fängt mich Udo, „Pagge dich nich in de Brühe!“ mal Christian,“Abtauchn is nich!“, dann geht’s ihnen selber so; schließlich zappeln wir alle mit. Überall am Boden diese dickglasigen Volksfestbierhumpen, die nicht kaputtgehen, dich aber zum Stolpern bringen, weil du sie im Gedränge nicht siehst und eh gebannt in Richtung Bühne starrst.
Die letzte Liedzeile „… ging ich ohne Gruuuuuss, dahas wa-harr – mein Bluuuuuuuues!“ Frenetischer Jubel. Nicht mehr steigerbar? Cäsar selbst klatscht sofort zwei-dreimal hinein ins Chaos und singt an:
Mehr ist nicht nötig. Die Masse greift lachend auf: „und ein Gänselieschen das ist meins!“ Besoffene Fischerchöre on the run – oder so ähnlich!
Cäsar: „Jeden Morgen ziehn sie auf die Wiese!“ (Hand ans Ohr)
Die Masse folgt „hundert Gänse und die Hunderteins“
Das nächste Volkslied. Sozialismusverarsche, wegen der Pointe am Schluss; komplett als Frage-Antwort-Spiel. Inzwischen stehen die FDJ-Kreisleitungsbonzen wieder am Zelteingang rechts neben der Bühne und observieren. Einer von ihnen ist ein frisch geschasster Lehrer unserer Schule. Der kennt uns. Sein Abgang geschah unter mysteriösen Gerüchten, nun steht er da und sieht der halben 11b beim Flippen zu. Heikel, heikel. Aber egal. Sollers doch melden:
„Kader von morgen unter Hippies von gestern.“ Punk ist, wenn man trotzdem lacht!
Es wurde ein Renft-Fest. Drei Jahre nach dem Verbot. Dem Gänselieschen folgten noch weitere Evergreens der „glorreichen Sieben der DDR“ und mitten drin Karussells „Welt im Sand“. Ein Dissidentenfest. Glotzt nur, ihr da rechts am Zelt!
Links hinter mir hatte ein Kunde seinen Kumpel auf die Schultern genommen und der schrie laufend „Reeenft! Leute! Das is alles von Reeenft!“ „Is juud meinor! Brichdor nich de Löffel da ohm!“ Wollte ihn jemand hinter mir besänftigen.
Er ließ sich nicht beirren. Cäsar hatte gerade den „Wandersmann“ angestimmt, da brüllts links hinter mir wieder: „Von der ersten LP, B-Seite!“ von nun an kamen zu jedem Song die LP-Angaben von ihm.
Er musste es unbedingt loswerden. Dann fiel ihm auch noch ein, dass er da was in der Tasche hatte: Die beiden hatten sich neben mich gedrängelt und er hatte inzwischen einen relativ kleinen roten Lappen entknüllt und wie ein Transparent über den Kopf gehalten: RENFT stand da mit blauem Filzer mehr gekliert als geschrieben zu lesen. Er schwankte immer bedrohlicher. Die Stimme von hinten war wieder zu hören:
„Ey Gunde! Nimm den Vochl rundor, bevore sich leechd!“ Aber jener seltsame Suffi-Zentaur hielt durch!
Dann folgte „Ehrlich will ich bleiben“, der damals neueste Song von Karussell. Kunden hören kein Ostradio. Das war nun zu spüren. Die kannten den nicht und horchten nun mächtig auf, als ihnen sehr gut verstehbar der Text des neuen Liedes um die Ohren flog.
„Ohohohoho! Horch hin ey!“
„Die machen voll so weitor!“
„Das is ooch von Renft!“
„Spinne nichrum! Cäsor hods graahde erklärd!“
Dann kam der würdige Abschluss des Unerhörten. Das Besänftigen der Meute:
„Wer die Rose, wer die Rose ehrt
Die erste Übernummer, die von Renft‘71 ins Radio kam, und die auch Hit des Jahres wurde.
Harmonischer als beim Gänselieschen sang noch einmal alles mit:
„Ein!Mal!Wirft sie ihn aaaaab!
Einmal wirft sie ihn aaaaab!
Das wird sein, wenn’s sein wird
und Mensch ehrt den Me-henschennnn.“
Die Feierlichkeit ging durch Mark und Bein. So gesungen hatte es den Anschein – DIES – sei die eigentliche Nationalhymne des Ostens!
Jubel, Zugabeklatschen, — vergeblich. 22:00 Uhr. Im Unterschied zu Regenbogen hielten sich die Siegelbewahrer des Andersseins an die Spielregeln.
Befreudentränt standen wir zwischen den Bier- Lachen, als sich das Publikum verlief. Adrenalin in jeder Pore. Das war voll Renft! Und niemand war eingeschritten! Das konnt‘es doch nicht geben! Aber wir hatten es erlebt!
Schnitt.
Neulich bei Udo im Garten. Das Gespräch kommt auf alte Zeiten:
Er: „…und Renft! Hammor oalläs jesähn, damals of dor neunhunnordfuffzschjoahrfeior!“
Ich: „Hä? Da warn die schon 3 Jahre verboten! Das warn Karussell!“
Er: „Nojaaaa, nach soviel Joahrn gann schonnema was vorrudschn. Brosd!“
!!!
Danke
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Du schaffst es, in mir das Gefühl des Dabei-gewesen-Seins auszulösen, obwohl es keinerlei objektive Berührungspunkte gibt; keinerlei bedeutet, dass ich selbst als Westjugendliche nicht mal Konzerte besucht habe.
Ich habe keine Ahnung, wie Du das machst. Grandios!
Es freut mich für Dich persönlich, dass Du dem Realsozialismus noch vor Deinem Ableben entkommen bist.
Kürzlich war ich zum ersten Mal in Leipzig. (Nochmal muss ich nicht dahin. Für mein Gefühl mischt sich dort altes Eingeschüchtertsein mit neuem Kommerz. Sehr unschöne Verbindung,) Jedenfalls fuhr an mir ein „Karussell-Bus“ vorbei. Darauf in Übergröße abgebildet ein paar ältere Herren. Ich bin stehen geblieben und habe ihm entrückt nachgeschaut. Da ich Karussell ausschließlich mit Dir verbinde, war es wie eine Erscheinung von Bludgeon auf der Jahnallee in Leipzig…
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Ja wow! Danke. Freut mich.
Aber wie kams du dieser Leipzigimpression vom Eingeschüchtertsein (ausgrechnet in Leipzig?) Das ist im Osten doch DIE Stadt der Städte!
Tja, was den Karussell-Bus von heute angeht, der ist für Fans der ersten Stunde keine Freude mehr. Bei Karussell ging es ab 1983 künstlerisch rabiat den Bach runter. Cäsar stieg damals aus und somit der eigentliche Songschreiber. Auf der 4. LP waren sie nicht mehr wiederzuerkennen. Münchner Freiheit für (ganz) arme Ossis. In der Wende kamen böse Stasi-Geschichten (auch im Bezug auf Renftverpetzung) ans Licht… Irgendwie hatten sie 89 dieses „Als ich fortging“ hinbekommen. Ich sag immer: Das ist Karussells „Do you leave me now“. Als Chicago diesen Hit gelandet haben,waren sie ebenfalls längst nicht mehr die stilprägende Band der frühen 70er.
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Ich muss vermutlich nicht erwähnen, dass ich weder den Song noch Chicago kenne. 🙂
Das mit dem Stadtgefühl im Osten ist subtil.
Tatsächlich habe ich mich nur in Berlin (auch im Osten) und erstaunlicherweise in Dresden frei gefühlt.
Ich vermute, es geht um das Gefühl des persönlichen Spielraums für Individualität. Wie Du weißt, bin ich optisch nicht besonders auffallend. Es muss am Verhalten liegen. Ich habe das Gefühl, dass sich die Menschen immer noch bemühen, sich so angepasst und unauffällig wie möglich zu verhalten und dann regelrecht sauer sind, wenn sich jemand die Freiheit nimmt, nicht mitzuspielen. Im Westen kenne ich das nicht. Vielleicht ist das auch einfach Preußentum außerhalb von Großstadt, oder Sachsentum. Ich meine, die Franken haben halt eine andere Schlagseite…
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Schon kurios. Verkehrte Welt: Leipzig war und gab sich doch immer freier als Dresden?!.
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