Frohburg II

Heimat; der Begriff erfährt inzwischen genügsamste Wandlungen.

Dem neuen Menschen der Nachwendezeit konnte man rasant einreden, dass man praktisch jeden, mit dem man länger als 48 Stunden zusammengearbeitet hat – Freund nennen kann. Oder noch schlimmer – „Freunde findet man bei Facebook“. Wer so denkt, fühlt sich logisch erstmal überall zuhause.

Das mag klappen, solange du beruflich abgesichert bist und dich unabhängig fühlen kannst, weil du in der Lage bist, alle kleinen Alltagsdienste bezahlen zu können, für die in der richtigen Heimat richtige Freunde und Oma und Opa usw. vorhanden gewesen wären.

Mentalitätsunterschiede verdrängt man einfach. Man labert sie weg, mit unverbindlichem Globalschwatz, wenn man „mit Freunden“ ausgeht, deren Vornamen man vor 48 Stunden erfuhr und in 48 Stunden wieder vergessen haben wird.

Siehe Rainald Grebe „Reich mir mal den Rettich rüber“ (30jährige Pärchen)

Nee-nee, dieses „Heimat kann überall sein“ – Ding ist Mumpitz. Heimat ist, wo du deine Wurzeln hast. Und wenn du keine hast, dann bist du Flugsand.

Heimat ist – wo das Herz ist.

Das Herz kann nicht sein, wo die Kulisse nicht zu dir spricht.

Du kannst 20 Jahre (der Arbeit wegen) irgendwo wohnen, sogar gebaut haben, aber der Rodelberg deiner Kinder wird niemals deiner sein. Ihr Schwimmbad, wo sie ihr Seepferdchen machen, ist nicht deins.Wo deine Kinder – beim Radfahren lernen – hinfallen, bist niemals du gestürzt.

Wenn du ihnen davon erzählen willst, wird es sie nicht so sehr interessieren, wie wenn es noch um die Ecke läge und immer musst du einschieben „Bei mir zu Hause war das….“

Für den Nachbarn bleibst du der „Zugereiste“.

Jedenfalls in der Provinz.

Vereinsamungsgefahr, Profilneurosen, Workoholismus,Therapiebedarf, Burnout – weil da niemand ist, der dich auffängt, wenn du es nötig hast; einfach weil er in der Schule immer neben, vor, hinter dir saß und dem du deine Pleiten erzählen kannst, weil er dir seine erzählt.

1978 starb Opa in Frohburg. Beerdigt wurde in N. im Saaletal. Oma lebte anschließend lange Phasen abwechselnd bei ihren 4 Kindern, sodass ihre Wohnung „sturmfrei“ war. Silvester 83/84 wurde sie deshalb zum Liebesnest des Enkels. Ein Jahreswechsel „unter 4 Augen“ gewissermaßen. Ausgerechnet ins Orwelljahr. In der Nacht vom 1. zum 2. Januar1984 brach ich auf, um rechtzeitig in Leipzig anzustehen, wenn der Vorverkauf für die BAP-Tour beginnt. Die Tour, dies niemals gab, wegen:

 „Hey du da, wann isses hej so wick, dassmor de Muhloppmache da’f, wemmor was saache will, wied höchste Zick!“

Am Sachsenplatz standen seit früh um 6 Uhr erst hundert dann deutlich mehr Leute an, weil um 9 Uhr die Leipzig-Information öffnete. Darunter meine beiden Wohnheimraumteiler, zwei ehemalige Klassenkameraden von mir und ich ziemlich weit vorne, aber eben schon am Ende der ersten Hundert. Dann wurden 10 – im Ernst! – 10 Karten verkauft. Die übrigen (wurde gemunkelt) waren bereits vergeben worden – an die FDJ-Leitungen der Uni und der Hochschulen. Meine hatte angeblich 50 Stück für rund 500 Studenten abbekommen und verteilte nach Obrigkeitskriterien. Aus war’s.

1984 wurde in mancherlei Hinsicht ein tristes Jahr. Mir ist heute so, als hätt’ich das damals schon gespürt, als ich gefrustet ohne Bap-Karte wieder nach Frohburg zurückkehrte, wo inzwischen meine Holde sich auf eine Semesterprüfung vorbereitete und auch kein anderes Thema hatte als diese, bzw. ihre bereits bevorstehende Absolventen-Verbannung in die Niederlausitz.

Ein paar Monate später platzte auch die Lindenbergtournee.

Die offizielle Verkündung des Ostfernsehens war: BAP hätten sich geweigert „unter dem Symbol der Friedenstaube“ aufzutreten und Lindenbergs „Songinhalte hätten den Rezipienten in der DDR nichts zu sagen“. Zwei strunzdämliche Phrasen, die sofort per Westradio widerlegt wurden, da Wolfgang und Udo auf Sendertour gingen. „Hey du da“ wurde in jeder dieser Sendungen gespielt und somit republiksweit bekannt und bei diversen Umtrünken in Junge-Leute-Wohnheimen aller Art und Kasernen zur Gröhlnummer. Jedenfalls, die Refrainzeile. Denn alle außerhalb des Zentralrates der FDJ und der Normannenstrasse wussten: Wer beim Krefelder Appell unterzeichnet und bei der Anti-Atomraketen-Demo in Bonn dabei war und obendrein den Song vom „4. Juli“ in petto hatte, wer mit „Kristallnaach“ einen gesamtdeutschen Hit hatte —- will auf einmal keine Friedenstaube mehr sehen? Wie besoffen müssen die Stasigenzler gewesen sein, die der armen FDJ-Marionette da auf der Bühne im Palast der Republik diese dämliche Erklärung in den Knopf im Ohr lallten? Und als Ersatz für BAP traten die Puhdys auf?! Das muss man sich mal vorstellen: Statt „verdamp lang her“ gibt’s „alt wie ein Baum“… und fast niemand verzichtete angeblich und gab seine Karte zurück! Kunststück. Diese begehrten Raritäten waren an lauter kleine Apparatschikanwärter gegangen: Brave Herbeter alldessen, was verlangt war, ungetrübt eines eigenen Gedankens, schwärmend für Karat oder Wakonda, Olaf Berger und Bernhard Brink – und wenn’s mal ganz hart werden sollte, hatte man ja zur Not noch „Davy’s on the road again“(live) von der Örff-Band auf Kassette. Ächz. Denen war egal, wer da auf der Bühne hampelt.

Ein paar Pechvögel, die so einem institutionellen Schmierlappen die Karte zum mehrfachen Schwarzmarktpreis aus dem Kreuz geleiert haben mögen, die blieben eventuell ebenfalls, weil sie DEN Betrag ja sowieso in den Wind schreiben mussten. Für sie bekam an diesem Abend so mancher Puhdys-Vers eine verblüffend passende Konnotationsvariante: ….wilde Jahre so frei sein, über all mit dabeisein… doch die Gitter schweigen… die Spuren der Nacht in deinem Gesicht…. Stei-heine – sie schrein und alles schweigt…

Frust was rising! Fast das ganze Jahrzehnt!

Am Ende kamen Sandow aus Cottbus. Die hatten in ihren Lehrbetrieben mitte der 80er vermutlich die gleichen Gebetsmühlen vorgeleiert bekommen, wie ich auf meiner ersten Arbeitsstelle in der Niederlausitz, also in etwa in der gleiche Ecke. Besonders beliebt bei Funktionären, weil unbestritten ungerecht, war damals das Thema Apartheid in Südafrika.

Der Klassenfeind schien den Soundtrack zum FDJ-Studienjahr der DDR beisteuern zu wollen: „Ain’t gonna play sun-citäääää!“ lief im Ost-und Westradio rauf und runter.

Wie immer merkten die Funktionäre nicht, wie herrlich sich manches gegen den Strich bürsten ließ:

Die Schwarzen bekommen eingeredet, dass ihre Ghettos „homelands“ sind, in denen sie schalten und walten dürfen, wie sie wollen. Die Schwarzen dürfen auch nicht wählen. Sie dürfen ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen.

Sosososososo…..….und das erzählen sie dir also Nachmittag für Nachmittag, weit hinter der Mauer, in einem Land, in dem du einen Versetzungsantrag nach dem anderen schreibst, und eine Absage nach der anderen kassierst.

freedom is a privilege nobody rides for free
look around the world baby it cannot be denied
some-somebody tell me why are we always on the wrong side

So kam Kai-Uwe Kohlschmidt vermutlich auf  einen seiner genialsten Texteinfälle.

„You are my homeland! But we are the homeless people! Looking for way to be! This is my factory!“

Verblüffenderweise lief das im Ostradio im „Parocktikum“, wo auch der Expander des Fortschritts in Heiner-Müller-Roboter-Sprech verkündete:

„Arrrbeiten /und nicht/ verrrrzweifeln!“

Es war die Zeit, die manches Rückgrat stählte.

Oma starb 1988. Der Haushalt wurde aufgelöst.

Anfang 1990 war ein Seminargruppentreffen in Wurzen. Im wilden Wendejahr.

Wir hatten uns dort zum ersten Mal ziemlich in der Wolle, weil im März jeder etwas anderes wählen wollte. Vorher waren wir doch so eine verschworene Gemeinschaft!

Ich beschloss am Morgen danach auf der Heimfahrt einen Schlenker nach Frohburg zu machen.

Ich ließ das Auto, das immer noch der Trabbi war, gleich hinter der Suleikabrücke stehen und ging zu Fuß an Fabrikmauer und Wyhra entlang und dann durchs Hölzchen den Berg hoch zum Färberhaus. Oben angekommen, ging ich dran vorbei, ums Eck, machte kehrt und traute mich irgendwie nicht bei einer der 5 Mietparteien zu klingeln, die mir doch alle noch bekannt waren.

Als ich auf dem Kreuzungseck stand und in den Garten sah, erhob sich dort Herr Schwinder , der Hausverwalter, von einem Beet und erkannte mich erfreut:

„Du bist doch der Bludgeon?! Von ehemals Schillers oben?“

„Ja.“

„Mensch, das issja was! Wie lange is de Oma jetze dood?“

„Knapp 2 Jahre.“

„Ja, Zwee Joahre ooch schon widder. Die Mehdlern unten och. Die Alte. Komm rein. Ich muss dich meinor Frau zeing. Siehst ja jetze aus, wie dor Graf von Monde Grisdo.“

So kam ich zum letzten Mal in den Genuss, das Haus meiner Großeltern zu betreten. Die Wohnung des Verwalters lag im Erdgeschoss. Oma hatte 2 Stockwerke oben drüber gewohnt. Der Raumschnitt war identisch. Die Speisekammern waren inzwischen Bäder geworden, die Toiletten immer noch auf halber Treppe – Wasserklos. Auch die DDR hat eben hin und wieder mal Altbauten saniert.

Wir redeten ein bisschen von der „neuen Zeit“. Was wohl kommen würde nach der Märzwahl.

Schwinders wollten zur Tochter ziehen, die Frohburg bereits verlassen hatte.

„No, dahier, wird alles dichte moachn, hey? Die Fabrik is runter. Die modernisiert dir keenor mehr. Dor letzte machds Licht aus“, prophezeite er richtig.

„Na und die Wohnungn hier sinn Wärkswohnung, da weeßte nich, was würd. Mid 17 Mork Miede, das dörfde vorbei sein.“ Auch das stimmte.

„Und von unser kleen Rente-?! Hey? Am Ende wachmor noch undor dor Brügge off! Nee, weg hier! So leidmorsch dud. De Rosemarie haddä Haus. Die ham jebaut, die ziehd nich wiedor här. Da ziehn mir ehm hin. Die hadds ja angebodn, hey? “

Ein letztes Wiedersehen.

2013 Sommerferien im Saaletal. Am letzten Tag vor der Heimfahrt nach Restpreußen packt es mich. Ich fahre mit meiner Frau nach Frohburg, parke auf dem Markt beim Zentaur-Brunnen und muss prompt an Heyse denken. Eine parabelhafte Novelle von ihm kommt mir in den Sinn – über Einbildungskraft und sterbende Phantasie. „Der letzte Zentaur“. Das Büchlein hatte ich Jahre zuvor für mich entdeckt und kurz vor der Fahrt zum 2. Mal gelesen. Der Brunnen also steht noch. Der Markt ist generalüberholt schick und menschenleer. Mit einem Schönheitsfehler unten am Rand:

Fabriklücke           Kellerladenhaus

 

 

 

 

Die Fabrik hat es erwischt! Totalabriss irgendwann in den 90ern. Der Stadtkern wirkt nun wie ein Gebiss mit Zahnlücke. Sicher, die Extraktion des Bauwerks war berechtigt; tief „kariös“ bis runter zu den filterlosen Abwässerrohren in die Wyhra. Der Anblick der Lücke jedoch schmerzt, denn an Ersatz wurde nicht gedacht. Der Arbeitgeberbetrieb des Ortes ist futsch; die bekannten Folgen treten ein: Abwanderung, Kaufkraftschwund usw. das typisch ostdeutsche Abwärtslied. Und wenn du um die Ecke guckst, steht da ganz hinten wie zum Hohn noch ein einzelner plombierter Zahn: Das generalüberholte Kellerladenhaus. Im Nichts.

Dahinter trotzte die Suleika-Brücke der Zeit unbeschadet. Und die Wyhra-Ufer sind so wildromantisch unaufgeräumt wie damals.

Suleika-Brücke

Ab durchs Hölzchen, wie immer die Abkürzung, zur Greifenhainer Kreuzung hoch.

Aber – ohweh. Dort lauert der nächste Hieb:

Das Färberhaus ist weg! Und mit ihm Schwinders und Mehdlers und Jarys und Bohls und Butzemann und kleiner Pfennig….

Färberhauslücke Ich stehe wieder an der Kreuzung, an der mich damals Herr Schwinder erkannte und mache ein paar Fotos. Eine kahle Ecke. Ein neues Einfamilienhaus und ein Car-Port. Fremdkörper in meinem Paradies. Ich denke kurz an Omas mysteriöse Bodenkammer, die mich jahrelang in Spannung hielt, weil sie unwahrscheinliche Kinder-Schätze barg und trete den Rückweg durchs Hölzchen an; und urplötzlich kommt mir in den Sinn, dass in den angrenzenden Gärten keine Hühner mehr gackern. Mir wurde doch einst glaubhaft versichert, dass der Osterhase Hyazinth hier die Eier holt!

Wir fahren heim. Still. Manchmal streift mein Blick meine Frau auf dem Beifahrersitz.

Denkt sie auch grade an Silvester 83?

Von Frohburg aus zurück durch das Matchbox-Auto-Katalog-Bild und Eschefeld durch das sauber renovierte, aber leblos wirkende Altenburg nach Zeitz; hinweg über die Kreuzung, wo sich damals der Pastor Brüsewitz verbrannte und wo heute im einstigen ZeKiWa-Viertel Birken aus Dachrinnen wachsen und Graffitis in kuriosesten Höhen davon künden, wie oft hier schon eingerüstet gewesen sein muss. Nun sind viele Fenster blind… die Sonne scheint….Ruinenfeld…Gysizitat….Ostblues:

Der alte Eiserne Vorhang wird der neue Mezzogiorno Deutschlands werden.

Die Strassen immerhin sind prima. Sie führen dich – davon.

„Wo sind wir jetzt? Herzen versetzt! Seelen verkauft! Ne, ich geb niemals auuuuf!“ (Rio Reiser/Scherben)

2015 in Irland sitze ich in so einem kleinen Tourie-Tourbus. Der Fahrer und Guide hält Plapperpause und beschallt uns mit den Pogues. Draußen ist Prärie. Die versprochenen Sights liegen noch in weiter Ferne. Es gibt keine Aufhänger fürs Auge. Da höre ich zum ersten Mal bei den Pogues richtig hin:

I met my love,
By the gas works wall.
Dreamed a dream,
By the old canal.
I kissed my gal,
By the factory wall.

Dirty ol’town, dirty ol’ town…

… und auf der vorbeifliegenden grünen Projektionsfläche draußen entsteht – nur für mich sichtbar –  zum Greifen nah die schrundige Frohburger Fabrikmauer; der Fluss davor; Säufer, die aus dem „Wyhra-Tal“-Eingang stolpern und aussehen wie Shane MacGowan … ich geh den Berg hoch und grüße den Panzerkommandanten… die schöne Rosemarie sitzt braun gebrannt auf der Bank ganz hinten im Garten hinterm Färberhaus, …aber ich „kisse“ kein „gal“, denn ich bin wieder nur 7 oder 8 und Erich Mehdler sitzt lässig nach vorn gebeugt neben ihr! Er stützt die muskelbepackten Arme auf die Knie, lässt Mähne und Muskeln ein paar Sekunden wirken, durchschaut die Gedanken des Fassonschnitt-Lederhosen- Knirpses da vor ihm, grinst spöttisch und zischt: „Vergisses! Hey?!“

Hölzchen

 

11 Gedanken zu “Frohburg II

  1. Und Sie wollen von sich behaupten kein Herz zu haben!

    Großartig verehrter Herr Bludgeon.

    Der Gärtnergatte war zum Ordnungsdienst beim BAP Konzert eingeteilt, in Berlin, stinksauer war er, als es nicht statt fand.
    Offiziell wurde erzählt, BAP hätte der schlechten Straßen wegen abgesagt…

    Das lese ich mindestens noch einmal !

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  2. Immerhin gibts für dich Heimat, sie quillt aus jeder Mauerritze und blüht ihr wildes Eigenleben. Für mich gabs das auch, für viele Jüngere nicht mehr. Wenn ich träume, haben die Häuser, in denen ich träumend herumirre, immer die Adresse, unter der ich 18 Jahre zu finden war. Und als ich vor kurzem den Heimatort mal wieder besuchte, starrte ich auf die paar armselige Planken des alten Bootstegs, die nicht ausgewechselt worden waren, als wären sie Zeugen meines, nur meines mir gehörenden ganz eigentümlichen Lebens. . Alles verändert sich, aber einiges ganz intim Erlebtes ist noch da, ist vollgesogen mit … Aber hier weiß ich nicht weiter. Liebe Grüße aus Athen.

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    • … vollgesogen mit Erinnerung. ?
      Dein „Heranschleichen an die alte Adresse“ neulich im Ärmel-Blog brachte mir die Erinnerung an die oben beschriebene Episode 1990 zurück: Wie ich dort herumgestreunt bin, bis Herr Schwinder(der natürlich anders hieß) mich ansprach.
      Und dann begann der Stoff in mir zu arbeiten…
      Danke für die Initialzündung.

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