Staub gewischt auf alten Platten (5)

Heute mal drei Fälle, die ich gar nicht besitze. Ich hab mich drum’rum gemogelt, obwohl ich von den betreffenden Herrschaften so einiges mag.

Fall 12

YES – sind geradezu musikalische Säulenheilige für mich. Rein theoretisch wäre es somit normal, ALLES von denen haben zu wollen. Jedoch ich habe so einiges von ihnen nicht – vermisst.

staub1Und vor allem gilt das für „Relayer“(1974)!

Was für ein Kotzbrocken in der Diskografie!

Vornweg die herrlichen „Tales f.t.O.“ und hinterher die „Going for the one“ mit der prägendsten Innencovergestaltung aller Zeiten (Baum im Überschwemmungsgebiet) und dazwischen „Relayer“.

Man fasst es nicht!

„The Gate of Delirium“. Wie wahr! Ich lag mal, als ich ungefähr 30 war, im Krankenhaus in einem 2 Mann Zimmer und mein Raumteiler begann in der Nacht wirr zu reden und beschloss „nach Hause zu gehen“; riss sich die Transfusionsnadel ab und marschierte los. Im Krankenhausnachthemd. Ich hatte versucht – ihn zu besänftigen. Er schaute durch mich durch, redete mit irgendwem völlig wirres Zeug und ging wirklich. Ich verständigte die Nachtschwester. Und ihr abwinkendes Dankeschön war nur: „Jaja. Delirium. Da kannste nüschd machen. Ich gebs weiter.“ Er kam auch wirklich die andern beiden Tage nicht wieder. Ich ging damals wieder zurück ins Bett und dachte prompt an YES.

Ich kenne Leute, die halten „Relayer“ für die Krönung. Ich krieg‘s nicht hin. Eine LP mit 7 Siegeln.

Ich hatte jahrelange Probleme „Close to the edge“ (den Track) zu mögen. Die Kakophonie zu Beginn schlug mich in die Flucht. Dann schnappte ich irgendwo auf, es handle sich um die Vertonung von Hesses „Siddhartha“, das war der Schlüssel: Du bewegst dich aus dem Chaos deiner Pubertät zu dir selbst und suchst die Harmonie, das (Aussteiger)Idyll. Die Musik beruhigt sich. Deine Selbstzweifel werden geringer… das klappt inzwischen.

Aber, dass das Tor des Deliriums auf Dostojewski zurückgehen soll, half mir – null.

Und dann haben die allen Ernstes auf die B Seite einen Track namens „Sound Chaser“ drauf gepackt!

Ich meine: Was haben die geraucht? Oder war’s Koks? Die sind bekanntermaßen Vegetarier. Wenn dir die Proteine fehlen und du kiffst: Ist das dann gefährlicher?

Der „Sound Chaser“ ist bedeutend kürzer als das „Gate of Delirium“, aber trotzdem NOCH schlimmer!

Das machte die LP schon zu Ostzeiten so hoffnungslos. Du bringst das „Gate“ hinter dich und denkst: „Naja, die „Close to the edge“ war dir anfangs auch schwierig, aber die B-Seite kickte von Anfang an.“ Und dann drehst du die Relayer um, erwartest sowas wie Entwarnung und – plxcprf!?%!pfff – geht das so weiter, wie auf der A-Seite! Is‘ der Luten Petrowsky in die gefahren?! Oder was!

Erst, wenn du diesen Schmerz auch noch hinter dir hast, kommt mit dem dritten und letzten Track dann so’ne Art „Schmerzensgeld“, der Beweis, dass das doch noch die Band ist, die „Heart of the sunrise“ oder „Dear Father“ hinbekam. – „To be over“, da dampfen die Ohren dann aus…

Nee, dafür musste ich zu Ostzeiten kein Band verschwenden. Und zu Westzeiten kein Begrüßungsgeld.

Apropos „Dear father“ – von der „Yesterdays“-LP. Die kam auch 1974, wie so’ne Art Wiedergutmachung der Plattenfirma: Die Nuggets der ersten beiden YES-LPs aus den späten 60ern und die 10 Minuten Coverversion von „America“. Eine LP, so genießbar wie „YES Album“ und „Fragile“.

Uff!

Fall 13

Ein besonders tragischer Fall

Lou Reed&Metallica „Lulu“(2011).

staub2Ja, da denkste so: Dein Ende naht! (Die Diagnose war bestimmt schon da.) Ein letztes Spätwerk muss her! Inspirieren lässt du dich von deiner letzten Lebensabschnittsgefährtin Laurie Anderson und ihren skizzenhaften Kompositionen, die jeden Abend anders klingen. Und dann ist da noch jene letzte Lese-Entdeckung: The german Writer Wedekind! Dein Vorvater im Geiste! Genauso auf Provokateur gepolt wie du! Genauso verliebt in die Kunst an sich und in das eigene Können wie du! Und den Fokus genauso auf den gestrandeten unfertigen Heroes der Gosse wie du. – Du hast sie alle drauf, die Standartwerke der Dekadenz: Giovannis Room, Man with the golden Arm, on the Road, last exit Brooklyn … und dann kommt da dieser german Writer um die Ecke und erzählt dir diese Geschichte von der Hur‘! Dem wild thing! 1893! 75 Jahre früher als „All tomorrow parties“! 80 Jahre vor „I am the waterboy. Real games not over here…“, deinem „Berlin“-Album, so „ausgekocht schmutzig“, wie sie schrieben und die Caroline da, die ist nichts weiter als eine Urenkelin der Lulu!

Das Album musst du noch machen! Wer, wenn nicht du! „Lulu“ passt zu dir! Du wirst Wedekinds Kurt Weill!

Schnitt!

Boah! Die Vorfreude war so gigantisch!

Aber – warum verreck – mit Metallica?! Da weiß man doch, dass das nichts wird!

„Gehet hin und führet mit ä Bunch of Schlosserjacken und Friseusen Faust Zwei auf, so dassbeim Publikum alle Rührungsdämme brechen!“

Ein Ding der Unmöglichkeit!

Kompositionen hat es vermutlich nicht gegeben, bestenfalls die Häppchenaufteilung, in der der Werdegang der Lulu -aus der Gosse in die bessere Gesellschaft und wieder hinab- aufgeteilt werden sollte. Und dann ging man ins Studio und laborierte herum.

Gut; so ähnlich erschufen Yes einige Großwerke. Aber Metallica?

Ratlos stand ich dann irgendwann 2012 im Mediamarkt in Berlin unter Kopfhörern und „hörte da rein“. Vor und zurück. Wegstellen; Ehrenrunde laufen, dies und das begrabbeln; dann nochmal mit der „Lulu“ zum Lausch-Tresen: Boom-boom-Blopp…quengel quengel…boom-boom-ditsch…

Oaaaach! Ich wollte so sehr, dass das was is‘!

Entsetzlich.

Kein Zugang nirgends. Also sparte ich Geld.

Schnitt.

Bleibst für mich Mr. Blue Mask…

… in dessen „House“ Delmore Schwartz spukt und zum Schluss auch der Wedekind; wie bei mir der Spielhagen und der Heyse.

Tschirio Boy! My game’s not over here.

Fall 14

Das Beste kommt zum Schluss:

„Deja vu“ – Crosby Stills Nash & Young.

staub3Ein Coverfoto der „harten Hunde“. Braunstichig, alt, Knarren, wilde Mähnen … a bunch of Pferdediebe. Könnte man denken.

Und dann legst du sie auf und losgeht:

„One Morning I woke up… Caaaa-haaaarry o-hooooon! Loooo-hoooove is coming!…. to us all!“

Aua!

Größer könnte der Kontrast nicht sein!

Du erwartest Kerle und kriegst – Eunuchen!

Natürlich kannte ich die Songs lange bevor ich die Platte mal in Händen hielt: Aber dieser Cover-Gau ließ mich schon damals in den frühen 80ern grinsen. Ich war Punk; meine Raumteiler Hippies und nu dieses Bild zu diesen Gesängen! Und der Gipfel in DIESER Verpackung is‘ ja dann Neil Youngs schönes, aber wehleidiges „Helpless“. Knarre drauf!

(Ich bin aba heute och wieda in einer Stimmung! Das müssen die ESC Nachwehen sein!)

Aber zurück – auf Anfang: 70er; DDR, „Duett“-Sendung: Als ich dort das Album zum ersten Mal aufnahm, ohne das Cover zu kennen, ließ es mich schon reichlich ratlos zurück. Ich wusste zuvor, dass „Helpless“ und „Woodstock“ zu erwarten sein würden. Okay. „Country Girl“ und „allmost cut my hair“ wurden auch als schön empfunden.

Aber was sollten diese Tralala-Nummern „Our House“ und „Teach your children“ da mitten drin?

Und das Titelstück – das sollte vermutlich so’ne Art Jazzversuch werden. Ächz!

Alles um mich her faselte von „Meilenstein“ und „Hauptwerk“ und sowas.

Ich blieb ratlos zurück. Etwas Uneinheitlicheres, Zerisseneres hatte ich bis dato nicht gehört.

Und je mehr die Lebenserfahrung zunahm und das Textverständnis wuchs – umso schlimmer wurde es. Das Ding begegnet einem ja auch immerwieder!

„Teach your children well!“ – hat ja super jeklappt, wa?! Schön wär’s jewesen!

„Woodstock“ – so ein richtiger Blumenkinder-Text von Joni Mitchell, „Raketen werden Butterflies“ und so … und ausgerechnet diese lyrisch-zerbrechliche Vision knallen die Herren hier mit ihren Gitarren in den Orkus.

„We are Stardust! We are golden!“ plärrt dich da die Milchstrasse an! Herrlich! Genausogut könnte auch irgend ein Death-Metaller losgrowlen: „Veilchen pflücken! Frau beglücken! Gwarrrr!“ Voll die Romantik, ey!

Ich mag CS&N und die „Daylight again“. Ich mag von Uncle Neil 7 oder 8 Alben, die hier stehen.

Aber „geh mir weg du!“ – mit der „Deja vu“!

konjetz dlja sewodnja.

🙂

Zwischen allen Stühlen

Spielhagen „Ein neuer Pharao“ (1890)

Schon wieder ein Monolog über eine alte Schwarte? Wer braucht denn sowas?

Vermutlich niemand heutzutage mehr.

Aber das Niederschreiben von Leseeindrücken festigt sie. Manches Licht geht erst beim Darüber Schreiben auf!

Und wenn das dann im Blog steht, vergisst sich das nicht so leicht wieder – und ich kann selber hier „nachschlagen“, wenn das nächste Werk vom gleichen/ähnlichen Autor ansteht.

Denn all die alten Ideenklau-Entdeckungen sind Lesers Freude.

Jedenfalls seh ich das so.

Es ist nun gut einen Monat her, dass ich „Ein neuer Pharao“ von Spielhagen las. Zum ersten Mal. Es ist also eine neue Bekanntschaft für mich. Und es ist eine schwierige. Das Gelesene geht in mir um. Kommt nicht zur Ruhe. Fehlversuch reiht sich an Fehlversuch, den Eindrücken schreibend gerecht zu werden.

Kennst du so janusköpfige Bücher, die in einem furchtbar stümperhaft zusammengetackerten Plot einen philosophischen Tiefgang vom feinsten präsentieren? Der Autor ringt dermaßen um „letzte Weisheiten“, dass die Kraft oder die Ausdauer, oder einfach nur die Lust fehlt, auch die Handlungsfabel so zu entwickeln, dass es fetzt.

  • Da gab es in meiner Lesebiografie „Den Nachtzug nach Lissabon“, der mir immer als erster einfällt. Auf den passt das perfekt.
  • Raabes „Die Leute aus dem Wald“. Ich schrieb damals, als ich unter dem Eindruck dieses Werkes stand: Ein Steinbruch der Gedanken und Assoziationen.
  • Heyses „Über allen Gipfeln“ gehört auch dazu.

Jammerschade, weil man als Leser die Schwächen merkt und sich automatisch wünscht: Aaaaaach! Warum haste jetzt nicht beschrieben, wie…?! Wo bleibt das Motiv für diese Aktion?! Einer, der so aufwächst, reagiert doch später nicht sooooo! Wenn die so selbstlos Almosen verteilt, wovon lebt sie selbst? Usw.

Spielhagens „Pharao“ ist einerseits ein Werk der Unlust. Aber auch eine harte, treffende Zeitbilanz. Und auf der dritten Ebene zeigt sich ein ratloser Autor, der mit seinen eigenen Seismographen hadert, die ihn bis hier her -in sein 60. Lebensjahr- geführt haben.

Hier ringt einer mit sich, der weiß, wie sehr er zwischen allen Stühlen sitzt, dem aber die freiwerdenden Sitzplätze hier und da nicht gefallen. – Oh! Das kenn‘ ich sooooo gut!

(Watt is‘, wennste nürjendswo dazupass‘!)

1. Biographischer Hintergrund:

FS1Spielhagen wurde 1829 geboren und erlebte seinen Durchbruch 1861, also relativ spät. Sein Erfolg, der ihn ganz nach oben trug und zum meistgelesenen poetischen Realisten seiner Zeit machte, hielt ungefährdet bis ca.1880 an. Die 80er Jahre des Kaiserreiches sind innenpolitisch eine Zeit der Stagnation. (Alter Kaiser im Weiter-so-Modus macht was alter Kanzler will.) Bismarck reagiert auf Zeitläufe, aber auch ihm kommt das Gespür abhanden, das ihn in den 60ern trug. Reaktionärer Konservativismus macht sich breit, wie in der DDR unter der Ägide der „Alten Männer von Wandlitz“.

Spielhagen wird angefeindet, weil er die Reichstagsreden des kritischen Liberalen Eduard Lasker in Abendgesellschaften der Berliner Schickeria, bestehend vorwiegend aus Aristokraten, verteidigt; weil der Hofprediger Stöcker medial gegen ihn Front macht, er sei ein „Judenfreund“ und ein neuer Antisemitismus kurz aber deutlich in der „Besseren Gesellschaft“ Berlins en Voge ist, bis Kronprinz Friedrich Wilhelm demonstrativ mit Hofstaat und in Uniform die Synagoge besucht und Stöcker in die Wüste schickt. Aber die böse Idee ist in der Welt. Stöcker gab das Stichwort in Preußen. Das Gerede vom verderblichen Einfluss der Juden hat die Salons erreicht.

Berthold Auerbach stirbt. Spielhagen gibt in „am Wege“ Einblicke in seine lange Freundschaft mit ihm. Auerbach ist in den 80ern bereits ein Vergessener. Er war Bestseller Autor in den 50ern und 60ern. Und er ist Jude. Spielhagen verwaltet seinen Nachlass. Auch das trägt ihm Naserümpfen hinter vorgehaltenen Fächern ein.

Spielhagen bekommt ein Reichstagsmandat der Liberalen angeboten – und lehnt ab. Auch auf dieser Seite ist man enttäuscht und schüttelt die Köpfe.

Spielhagen äußert sich in einem Essay gegen die Todesstrafe: Als alle Gazetten Zeter und Mordio schreien, weil ein Attentat auf den spanischen König misslang und nun der Prozess gegen die Täter die Schlagzeilen bestimmt.

Wenn der Dichter die Attentäter schonen will, dann ist er selber einer!

Nu wird er auch noch zum „Anarchisten“ gestempelt!

Wenn du solchen Mist über dich in den Zeitungen liest, die Einladungen zu den Abendgesellschaften weniger werden, sich die Besucher deiner eigenen Abende dezimieren mit furchtbar dürftigen Ausreden, wenn dich Leute auf der Straße anfangen zu übersehen, die dir bisher mit lautem „Hallo“ aufdringlich auf die Pelle rückten – dann kommt dir schonmal die Galle hoch!

2. Der historische Zeitgeist

Und wenn dann vollends dein Hoffnungsträger Kaiser Friedrich III. nach nur 99 Tagen Regentschaft 1888 das Zeitliche segnet und sein missratener Sprössling an die Macht kommt, der noch gestriger regieren will als der Opa, dann spricht es aus dir:

„Da war ein neuer Pharao, der wusste nichts von Joseph…“

Der Satz muss irgendwo in so „Bibel-Nebenschriften“, dem „anderen“ Buch Mose stehen. Spielhagen fand ihn passend und machte daraus einen Buchtitel. Er umging so die Malaise der Majestätsbeleidigung, die seinerzeit noch unter (Haft-)Strafe stand.

In einer Zeit, in der es keine Hoffnung auf Veränderung zum Guten gibt, kann man nur hoffen, dass da irgendwo bereits ein Joseph herumtischlert, der eine Maria freien wird – und diese gebärt dann (unbefleckt oder nicht) einen Messias, der endlich eine neue Idee bereitstellt!

Sind das eventuell Bebel oder Liebknecht? Spielhagen ringt mit der neuen Kraft „Sozialdemokratie“, er findet ihre Ansprüche berechtigt, er zweifelt aber an ihren Vertretern, die zu plump-, zu hetzerisch zu „jakobinisch“ auftreten und sobald sie in besseren Verhältnissen landen -neureich geworden- die alten Ideale selbst verraten. So erzeugt er im „Pharao“ die Figur des verstoßenen Sohnes Hartmut Ilicius, der die Partei als Trittbrett benutzte, um „schaumschlagend“ nach „oben“ zu gelangen; und auch sonst den typischen Hazzardeur abgibt: Durch Skrupellosigkeit zum Licht; wie einst sein Vater, der ihn verleugnet.

(Ilium -Eingeweide ->Triebmenschen. Oder aber „illegitim“ bzw. „ill“ krank/verdorben. Passt alles auf die gesamte Familie im Roman.)

Womit wir beim Ideengehalt des Buches angelangt sind:

3. Der philosophische Steinbruch

Normalerweise offeriert uns FS in seinen Werken einen Protagonisten als irrende, suchende Lichtgestalt, deren moralische Überlegenheit erst entsteht. Der Leser geht diese Entwicklung mit. Hier nun ist die Lichtgestalt ein alter Mann.

Obwohl FS die Zeitumstände von 1890 ohrfeigen will, verlegt er die Handlung ins Jahr 1878 zurück, die Zeit der beiden Kaiser-Wilhelm-Attentate, die im Roman auch eine Rolle spielen und die Auslöser des Sozialistengesetzes werden. FS will zeigen, wie all das anfing, was 1890 plagt:

Das Schwadronieren, die Denkfaulheit, die Hohlheit und somit Zukunftslosigkeit des bestehenden Reiches.

FS5Im Mittelpunkt des Geschehens plagen sich ein paar junge Leute mit Liebesverirrungen und scheiternden Eheanbahnungen. „Heiratspolitik“ mal wieder. Nur als Vehikel. Das Interessante sind die Ränder des Geschehens.

Der besagte alte Mann, der die Moral an sich verkörpert, ist eine Randfigur. Wie die Moral realiter ja stets ein Schattendasein führt.

Er ist ein Baron von Alden, der 1848 Renegat- und somit revolutionär war; ein edler Denker, der 1849 nach Amerika emigrierte und nun 1878 unter falschem Namen (Schmidt/Smith) als Familien-Faktotum einer amerikanischen Millionärsfamilie mit dieser nach Berlin heimkehrt.

Er (=die Moral) war Hauslehrer der inzwischen erwachsenen Kinder des Millionärs Curtis, eines früheren Sklavenhändlers und Abenteurers. Sie benötigen ihn eigentlich nicht mehr; jedoch schleppt ihn die Familie eben so mit. Ein Bild von symbolischer Kraft.

Er (=die Moral) heiratete einst die falsche Frau, die seinen Ideen nicht gewachsen war.

Er (=die Moral) vertraute einst dem falschen Freund Ilicius; der ihm in Abwesenheit Frau und Vermögen nahm – und somit die Möglichkeit, selbstständig wirken zu können.

Somit klammert sich der Baron als personifizierte Moral an den kränkelnden Ralph Curtis, den Sohn des Millionärs, der, anders als sein skrupelloser Vater, die Anlagen zum Edelmenschen (dank Smith’scher Erziehung) zwar in sich trägt, jedoch eine Art Zeitlupentod stirbt. Ergo: Was Smith (= die Moral) erschuf, ist nicht lebensfähig in einem Umfeld der Trixer und Spekulanten.

Smith trifft zusätzlich auf den Hausarzt Dr. Brunn. Ebenfalls alter 48er, jedoch einer, der, geblendet von den Siegen, an das neue Deutschland glaubt; der noch auf Reformen hofft und selbst dafür im Reichstag kämpft. Interessant der Name: Brunn – nicht Brunnen oder Brunnenbauer. Brunn = halbfertig. Kein Quell der Erneuerung. Wird noch zuende gebaut? Ruiniert? Jedenfalls auf halbem Wege „steckengeblieben“.

FS4 (2)Aber auch Smith ist kein Überflieger. Obwohl er Spielhagens alter Ego entspricht. Sein Scheitern ist Ausdruck spielhagenscher Selbstkritik: Passe ich noch dazu? Wo ist „Joseph“? Wie lange wird man noch ausharren müssen – bis sich was zum Guten ändert?

Das wird besonders deutlich, als er per längerem Monolog den schlitzohrigen Hartmut Ilicius „ins Gebet“ nimmt. Er sieht in ihm einen intelligenten jungen Mann und appelliert an ihn – zu vergeben, zu verzichten, durch ehrliche, auf sich gestellte Arbeit einen Neustart anzugehen. Ilicius hört zu, hält aus – und stellt nach seinem Abgang hinter der Tür nur fest:

Ich muss hier fort! In diesem Hause spinnen sie ja alle!

Wie oft werden solche Iliciusse vor mir gesessen haben? Einige haben’s mir gezeigt. (Immerhin: Fans gabs auch!)

Die Moral (Smith) hat nichts erreicht. Hartmut Ilicius scheitert zwar wenig später ebenfalls, jedoch sind da noch so viele andere schwadronierende, junge Leute übrig, über die FS beide Curtis-Kinder zu unterschiedlicher Zeit urteilen lässt:FS3

„Schneidig. Adrett. Gepflegt. Aufgeschnappte Phrasen nachplappernd. Sich auf Papas Geld verlassend. Denken die irgendwann mal selbst?“

Hach. Alles so aktuell! Dieser Post könnte endlos werden. Drum brems‘ ich mich hier.

Andere Spielhagenromane sind perfekter ausgeführt, hier aber ist er weltanschaulich am brisantesten. Der Böll, der Grass, der Kehlmann seiner Zeit.

Staub gewischt auf alten Platten (4)

Kennst du das? Die eine Platte eines Künstlers (oder einer Band), die dich umhaut? Das Nonplusultra! Aber die Umwelt sagt „Nö!“ oder „Öde!“ – „Da hatten die ihre besten Zeiten hinter sich!“?

Fall 10

Rod Stewarts bestes Album? Alle sagen und schreiben: „Atlantic Crossing“! Nein. Das stimmt so nicht. Es gibt im Falle des krähenden Blondiners 3 Fraktionen:

  1. Die Apologeten des noch mit ungebleichtem Skalp eingesungenen Frühwerks, vor „Atlantic Crossing“;
  2. die Mainstreamer, für die er ab „Sailing“ wichtig wurde;
  3. die Dödel, die nur „Bajjjjjby Dschain“ kennen – und das auch noch mögen.

staub0Und nu komme ich und sage: Nüschd von alledem! „Spanner in the works“ ist DIE Stewart-Platte, die den Zenit markiert!

„Vagabond heart“ war der Vorbereiter – und „Spanner“ der Komet!

Jaja, von der statistischen Relevanz her, waren die 70er seine Zeit. Schon klar. Aber künstlerisch, poetisch, so richtig mit melancholischem Tiefgang – das kam erst mit einsetzender Altersweisheit, soweit man bei ihm davon sprechen kann, mit „Rhythm of the heart“ und „Motown Records“ in Gang (von der „Vagabond“) und dann ganz dicke mit „Windy town“, „Star“, „Purple Heather“ usw. dem groooßartigen Balladenalbum „Spanner in the Works“.

Und genau das ist der Vorwurf, den ich ein paarmal habe lesen bzw. hören müssen:

„Mit „Spanner in the works“ war es dann aus. Ein langweiliges Balladen Album und danach lauter Mist: Coveralbum, American Songbook Abreiterei, seltsame Compilations usw.“

Blödsinn! Das Schaffenstief NACH der „Spanner“ war tatsächlich da und lang. (Nämlich bis „Another Country“). Aber die „Spanner“ ist NICHT die erste von den schlechten, sondern die letzte und beste von den Guten!

Es war in den frühen 90ern. Erste Nachwendejahre. MTV-Hoch-Zeit. Die „Vagabond“ Videos machten Furore. Freddy Mercury starb. Drum herum auch Kinski und Roy Black. Ein düsteres Zeichen der Zeitenwende. Mittenrein die Nachricht: Rod Stewart – Tour-Absage. Schwere Krankheit. Die Diagnose widersprüchlich: Schweres Asthma oder Stimmbandkrebs. Schlimm jedenfalls. Ich dachte: Der ist der Nächste!

Im Fernsehen lief, wie so’ne Art Platzhalter „Your a star, my guidin‘ light“, dazu dieses WUNDERBARE Nis Randers Video mit dem Leuchtturm, da konnte man schon mal Trauer trainieren für den Zeitpunkt, an dem die Meldung kommen würde. Das würde der letzte neue Song sein, den sie dann auf die erste „Golden-Memory-Best of“ knallen werden. Unforgettable Rod!

Aber man heult ja nicht herum, wenn ein Star stirbt. Zumal, wenn man gar kein Hardcore-Fan von ihm war. Außerdem – – – die frühen 90er! Da gab es eh einen Ocean an Music abzugrasen, wenn du Ossi warst! All die Großtaten aus 3 Jahrzehnten Rockmusik, die dir weitgehend entgangen waren, mussten zusammengetragen werden – und der Indie-Bereich sorgte wöchentlich für interessante Neuheiten! Du kamst ja eh nicht hinterher!

„We belong in Rock&Roll!“

Jeden Winter-und Sommerferienanfang konnte man den Bludgeon einen Vormittag lang im WOM in Westberlin beobachten, wie er sich in Zeitlupe von Regal zu Regal bewegte, wie sich der Krallengriff der linken Hand weitete: Wieviel CDs kannst du in einer Hand halten? Reinhör-Bar und „Studium“! Teilweises Zurückstellen der durchgefallenen Fälle; Weitersuchen. (Ja, ich war IMMER lieb! Was mir nicht gefiel, stellte ich zurück ins Regal. Ließ nie einfach nen Turm unsortierter CDs am Reinhörpult liegen, wie verwöhnte Wessis.)

Und über den Regalen hingen im Abstand von’nem Meter Kopfhörer am Kabel. Und neben jedem Kabelloch klemmte ein CD-Cover, von der Platte, die du hören würdest, falls du diesen oder jenen Kopfhörer aufsetzt. Da liefen so Neuheiten in Dauerschleife für neugierige Musiksüchtlinge: Taugt die neue Prince was? Oder die neue Morrison? Was is’ dran an diesem unerklärlichen Pearl Jam Hype? Oder doch lieber REM? … Da wurden ungeplante Käufe nötig, sachichdia do!

Die Krankmeldung unser aller Lieblingsnebelkrähe war ein gutes Jahr her. Der Tod ließ auf sich warten. Da sah ich über den Regalen das Cover der „Spanner“ hängen, neben so einem Kopfhörer an der Schnur.

Im Nachhinein ein himmlischer Fingerzeig: Setz mal auf. Mal hör‘n, wie se is‘.

Eine Fügung. Es lief gerade der „Star“, den ich ja kannte, und mein erster Gedanke war: Yeahr! Haste also doch noch ne LP drumrum geschafft. Aber gleich danach kam „Otis, Muddy & Sam“ und da musste ich an Van Morrisons Hymne „The days before Rock& Roll“ denken und an meine eigene erwachende Radio-Gier von Anno’71 – Mysthische Umstände! – ja und da „haute es mich weg“.

Ich blieb da stehen, 4 Songs lang; wusste bei „Delicious“ schon: Die nimmste auf jeden Fall!; musste mir aber vor dem Weg zur Kasse erst noch ein-zwei Rührungstränchen aus den Augenwinkeln wischen; sonst denkt der kaltschnäuzige Vogel da an der Kasse noch: „Watt flennt’n dea! Issa Ossi?! Hatta die Puhdys nüsch jefundn?!“

Ja – und was soll ich sagen. Die „Spanner“ blockierte dann erst die Arbeitszimmer-Anlage für geraume Zeit, dann wanderte sie in den Küchen-Blaster, der wiederum auch Außendienst verrichten musste, wenn Gartenarbeit anstand oder gegrillt wurde. Die CD überstand das gut. Das Gehäuse weniger; das musste ich eines Tages austauschen. Begrabbelt, beschabt, die inneren Haltezähnchen am Kapitulieren, das Booklet an den Rändern voller Dellen. Altgedienter Veteran. Hier oben in Windy Town. Am Rande der Prairie.

Roderichs beste Scheibe!

Fall 11

Eagles „Long Road out of Eden“(2008).

Ja, die war hier schon’mal mode in einem zurückliegenden Post. Se is‘ nu‘ ma‘ eine meiner Leib-und Magen-Platten.

Vier Mann durchschreiten eine Wüste. Der lange Weg aus dem Paradies.

staub1

Seinerzeit kurz großgehyped, jedoch schnell wieder totgeschwiegen. Weshalb – siehe unten!

Ich mag Pete Pardo vom Kanal „Sea of Tranquility“. Ich mag auch die Runden, die er da so zusammenbringt, mit all den andern Alter Egos von mir, zum Talk über Lieblingsalben und „Stinker“.

Jedoch hier, wie auch auf einigen anderen Kanälen der Vinylfetischisten, die gern vor Kameras Alben hochhalten, wiederholt sich nahezu regelmäßig, dass sie die „Eden“ zeigen, wenn sie was ganz „Ödes“ meinen. Für Amis scheint das Album inzwischen der Inbegriff von MIST zu sein.

Und wie so’n echter Wannabe-Hool vom FC Sockenschuss brüll ich dann den Bildschirm an:

„Ey, Arschloch!“

Unpassender Weise haben die dann zuvor Priest, van Halen oder Pantera gefeiert! Hirnfreies Gepolter für die Rückenmark-Reflexe (frei nach Einstein)!

staub2Wenn’s um meine Lieblinge geht, versteh‘ ich keinen Spaß!

Wie ich neulich schon schrieb: Die Eagles mag ich seit „One of these nights“ anno‘75. Jedoch reichte es nie soweit, eine ihrer regulären LPs wirklich gutzufinden. Also beließ ich es lange Zeit bei der Greatest Hits aus den 70ern, auf der „Hotel California“ noch fehlt. In den 90ern dann die mit den Kakteen vorn drauf als CD, das war’s.

Als aber 2008 die „Eden“ erschien, hatte ich Henleys Texter-Qualitäten bereits durch seine Solo-CD „Inside Job“ schätzen gelernt – und deshalb wagte ich den Kauf des Come-Back-Doppeldeckers.

Hätten die damals nur die erste CD veröffentlicht, wäre es ein laues Mittelfeld-Comeback-Ding geworden. Die klingt so, wie Eagles eben klingen müssen. Filigran geklampft. Experimente keine. Alles ausgewogen und die unterschiedlichen Songschreiberqualitäten gut aufeinander abgestimmt. Textlich auch „im Rahmen“. Ein gutes Album – lauwarm. Sonnenuntergangsmugge für den Sommer.

Aber dann legst du CD 2 auf – undstaub3

  1. sind die Tracks hier länger;
  2. sind fast alle von Don Henley
  3. sind sie politisch hoch brisant

Hier hadert einer, am Ende einer Epoche der Schande, gehörig mit den Gepflogenheiten seiner Heimat, ihrem Raubbau an der Natur und ihren Allmachtsphantasien – und das wird’s auch sein, weshalb der Medien-Hype um „das erste Studioalbum nach 28 Jahren“ so haste-was-kannste abgebrochen wurde. Free Speech ja – aber totschweigen ist auch legal. Die Stimmung in Gods own Country ist 2007/08 mies genug.

Diese gloriose Abschiedswatsche für die Dabbelju Bush-Phase blieb somit „unbesprochen“. Dessen einzige Qualifikation zum Präsidenten war sein Familienname. Der löste den falschen Krieg aus, verkündete den Sieg, obwohl dort, wo er democracy aussäen wollte, gerade das Problem IS entstand und zündelte auf Abschiedstour durch Europa nu auch noch an’ner ganz anderen Ecke…

Trotzdem hat sowas Anhänger, die dann Statements von sich geben wie den:

„Der Henley gebärdet sich ja da, als wäre dieser Scheißkanadier (Neil Young) in ihn gefahren!“ (frei nach einem Redneck-Zitat aus der CSN&Y DVD (40 Jahre Woodstock) anlässlich des letzten Irak-Krieges.)

Und alle diese Dödel, die immer nur Klänge hören aber keine Message, die witzeln nu‘ blöde herum, was das für’ne laaaaangweilige Angelegenheit sei, was die Adler da verbrochen haben und wie schön’s doch im Hotel California war, weil da der Walsh sein genialstes Solo drauf hinterließ. Ja, DAMALS waren sie noch GROß blabla…

Ich denk mir dann: Jaja. (Und das heißt bekanntlich: Götz v. B.)

Der Text von „Hotel California“ hat ja ehedem auch schon keine Sau gejuckt.

Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Q.e.d.!

Es gibt hervorragende Zeitkritik in Rocktexten von so Alte-Männer-Platten: Young, Hunter, Robinson, Morrison – und – nun auch unverzichtbar: Don Henley!

War die „Inside Job“ schon krass, läuft er hier vor allem im Titelsong „Long Road out of Eden“ und in „Frail Grasp on big Picture“ zur Höchstform auf. (Und Mr. Walsh klingt auch alles andere als einfallslos.)

Henley sah heraufziehen, was jetzt ist; vermisste wichtige Puzzelteile im großen schönen Bild vom Märchenland, wie es die denkfaule Meute ständig vorgepredigt bekommt.

(Selbstbewusstsein ist immer reziprok zum Wissensstand – und deshalb lassen sich Idioten ungern Spiegel vorhalten.)

„Weißt du nicht? Gott ist Amerikaner! Er beschützt uns im Krieg und lenkt unsere Football-Games.“ (karikiert Henley die „Denke“ seiner Mitbürger)

Kein Grund zur Schadenfreude!

Ich kenne da so’ne FDP-Tante, die würde das unterschreiben. RTL hat nu begonnen uns dieses NFL Gerempel erwachsener Männer im Beißkorb aufs Auge zu drücken. Top Quote. Die Bildungsmisere zahlt sich aus. Die Regeln kennt keiner. Die Tradition hat keiner. Wurscht! Kolonisationserfolg! Basecap auf! Hirn aus! Still gesessen – Chips gefressen! Sport frei!

Ich geh Eagles hören…

Hogwh!

Späte Erkenntnis

Spät aber dennoch! Grateful Dead!

Mir passierte es mehrmals in meiner Musicjunkie-Laufbahn, dass ich im falschen Moment auf Bands stieß, die eigentlich Aufmerksamkeit verdient hätten, mich aber nun auf dem falschen Fuß erwischten.

Grateful Dead sogar mehrfach.

Aber auch Little Feat, Uriah Heep, Gentle Giant, Deep Purple…. Sogar die Stones brauchten Zeit, weil mir in der Glam-Zeit „paint it black“ als Erstkontaktnummer unterkam und nicht gefiel. Das klang mir damals wie Russenrock. Und das sollten die „wilden“ Rolling Stones sein?

In all diesen Fällen wandelte sich die anfängliche Abneigung auf den zweiten oder dritten Hör dann aber doch. Jedoch blieben das alles so „Nebenbei-Bands“ für mich. Ein oder zwei CDs: Reicht!

Deep Purple schafften es erst in den späten 90ern, dass immerhin 5 CDs hier einzogen und (relativ stetig) auch zum Einsatz kommen. Allerdings eher NICHT die großkopferten „legendären“ der Mk II.

Die Deads jedoch?

In diesem Frühjahr sind sie nun für mich die, die das richtige Tempo haben – also – ähem – grins: Keins.

Neuerdings mag ich dieses In-Sich-Ruhen. (Sieht ganz auch nach’nem Portishead-Revival aus, demnächst)

Da gibt es diesen Kanal „Across the borderline“, auf juuuu-tuup, der präsentiert viel so Wüstenrock, Americana-Sachen. Dort wurden Greatful Dead unlängst mal zum Schwerpunkt – und es zündete.

Die Deads trafen erstmalig auf meine Trommelfelle, als ich noch in meinen Anfängen steckte: BTO, Slade, T.Rex. Ja es sei gestanden: Auch Kennys „Come on everybody to the bump!“ erscholl häufiger im Kinderzimmer! – Knall’n musses! – Hello! „…are back! Back in the New York- NEW!York!- Groove!“ Da spielten die im Radio irgend so ein längeres Gefrickel, weil der Moderator ne Kaffeepause haben wollte, und behaupteten, dass das eine wichtige Band sei. Pruuuust!

Mit 15 bist du klüger! Gesetzmäßig! Blitzmerk: Das war nix!

Zeitchen verging. Frühe 80er. Studentenzeit. Meine beiden Raumteiler so die Fleischerhemdtypen. „Hirschbeutelblueser“, wie sie nur die DDR kannte. Wir kamen musikalisch und literarisch aus unterschiedlichen Welten und erweiterten unsere Horizonte gegenseitig mit Erfolg. Ich gab ihnen den Pankow- und Interzone/Grauzone/Spliff-Virus weiter. Sie mir die Beginner-Infusion zur Neil Young-Liebe, ein Dylan-Revival, ‘ne kurze Doors-Phase – und sogar der Maffay schien uns dreien damals „kurz vor gut“ zu sein: „Wenn die Hand ins Leere greift…“ Aber das erwies sich als Verirrung.

Irgendwann in Semesterferien sendete „Duett“ auf Berliner Rundfunk eine halbe Stunde Grateful Dead „im Konzert“.

Dat wa‘ aba wieda nix! Sogar unser Oberhippie brach damals die Aufnahme ab, stellte sich heraus, als wir wieder zusammenkamen.

Zur selben Zeit erschien in der Ehemaligen dann auch noch das sehr informative Buch „Open Air“, das sich den legendären Festivals einschließlich Altamont widmete und abschloss mit der lapidaren Einschätzung, dass „bei Lichte besehen“ die LP-Ausbeute der amerikanischen Flaggschiffe jener großen Zeit „im Falle der Deads, Country Joe & the Fish und Jefferson Airplane“ doch recht dürftig ausfalle.

Das war so eine von den Watschen, die mir richtig erschien. Kurz zuvor gingen im Studentenwohnheim zwei erbärmlich miese Airplane-Alben um und niemand wollte die aufnehmen, geschweige denn kaufen. Das eine hieß „Bark“ und den Namen des anderen hab‘ ich vergessen. Dieses „Hörerlebnis“ erledigte die Lust auf die Deads gleich wieder mit.

Und keine 40 Jahre später…

… kam auf Juuuu-Tuuub die oben erwähnte Sendung und es fiel der Satz,

„…dass Grateful Dead ja „so’ne Band wie Quicksilver Messanger Service sind“.späte güte4

Zisch! Da schlug der Blitz ein!

Ja – deren CD „Just for love“ feiere ich seit geraumer Zeit. (Die wär‘ auch mal einen Post wert.)

Ich hörte mich also durch ein paar Juuuh-Tub-Tracks der Deads durch und kaufte dann zwei Scheiben: Das Debut und die „American beauty“.

Volltreffer. Zukünftige Erweiterung nicht ausgeschlossen.

„American beauty“ ist das schönste Eagles-Album, dass es nie gab!

späte güte2Die Eagles in den 70ern waren für mich allzeit eine wichtige Band. Jedoch verunzierten sie alle regulären LPs trotz zahlreicher Hits und Highlights mit unerträglichen Graupen. Deshalb reichte mir lange Zeit ’ne Best of von denen. Erst die sehr späte „Long Road out of Eden“ ist ein vollständig genießbares Album geworden.

Das Debut der Deads ist wieder so ein seltsamer Fall der Stilsuche einer Band am Anfang ihrer Karriere.

Das Album startet mit der Graupe und auch der Rock&Roll Versuch in Track 2 geht eher ins Beinkleid, aber dann auf einmal wirken sie wie ausgewechselt!

späte güte3„Good morning little schoolgirl“, der Hit von Ten Years After (auch so’ne Truppe, mit der ich nie warm wurde. Vielleicht kommt ja auch das noch.) hatte mir noch nie gefallen. Das klingt bei TYA so wie’ne Aldi-Version von Rory Gallagher Tunes. Hier aber hat das so einen irgendwie kalifornischen Touch von hart&weich zugleich. Es rockt und schwebt – gefällt mir sehr! Und hinterher kommt „Morning Dew“ und haute mich beim ersten Mal komplett aus den Latschen! Dass man nach der mysthischen Nazareth-Version da doch nochmal ganz anders überrascht werden kann, erschien mir unmöglich – aber – WOW! Herrlich! Das Schoolgirl und der Dew. Das ergibt so einen inhaltlichen Zusammenhang! Und musikalisch sich ergänzende Zwillinge. Untrennbar! LP Höhepunkt! Und die Tracks danach, die halten das Niveau! Geile Platte mit schwachem Start. Wie ne Musikkassette früher in’nem halbkaputten Recorder: erst leierts, dann nimmts Fahrt auf, dann funzts ordentlich.

(Die beiden ersten Tracks hab ich mir inzwischen auch „schön gehört“. Was bei Track 2 besser geklappt hat, als bei Track 1. Es is‘ eben wie Pawlowscher Reflex, die CD mit Track 2 zu starten.)

Mehr als nur’n Buch gelesen … (2)

Hammer oder Amboss sein!

Oder eher: Hammer UND Amboss?

Entscheide!

Unfreiwillig komisch, wenn ein Boomer diese Frage stellt. Wir sind die Generation Karriereverzicht. Nennenswert charismatische Politiker, Rocker, Schauspieler zwischen 1957 und 1964 geboren? Fehlanzeige.

DSC02995-002spielhagenSpielhagen stellte die Frage 1868 mit seinem vierten und höchstwahrscheinlich besten Roman, der genauso hieß.

„Hammer und Amboss“; Staackmann Verlag Leipzig; unzählige Auflagen bis 1930. Anfangs chic gebunden; später immer liebloser ediert.

War sein Sensationsroman „Problematische Naturen“ von 1861 praktisch seine Variante von Gustav Freytags „Soll und Haben“ – in BESSER! – so war „Hammer und Amboss“ sein „Hungerpastor“, ebenfalls in BESSER! Schon allein deshalb, weil es nicht um einen Theologenwerdegang „im Winkel“, sondern um eine weitaus zeitgemäßere Karriere in der Metropole geht.

Allerdings durchläuft Georg Hartwig bei Spielhagen relativ ähnliche Etappen orientierungsloser Suche wie Raabes Hans Unwirsch. Erfolgreich – aber weit weg von der Familientradition.

Da die Parallelen auch Wilhelm Raabe auffielen, wurde er ein ähnlicher Spielhagenfeind wie Freytag.

Spielhagen war in den genannten Fällen das eindeutig bessere Erzähltalent. Er gewann stets an der Ladenkasse, was sich in Auflagenanzahl und -höhe niederschlug.

Das Identifizieren des Lesers mit den Haupthelden fällt bedeutend leichter, als mit den allzu tugendhaften beiden Philistern bei Freytag und Raabe.

Georg Hartwig in „Hammer und Amboss“ – wäre der deutsche Film auf seiner Suche nach ernsten Themen nicht so Nazi-fixiert, wäre das längst verfilmt.

Ein besserer Name hätte sich für DIESE Figur in DIESEM Plot nicht finden lassen. Er ist ein Drachentöter im übertragenen Sinne(Georg) und „hart“ und „weich“(Hartwig) in Personalunion.

Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der liebt und hasst, der sich in Fehler verrennt, kämpft und durch Fleißattacken wieder herauswurstelt. Und er ist ein Beobachter mit Scharfblick. Ein Kritiker seiner Zeit. Kein nachmärzlicher Adels-Lakai! Sondern ein Selfmademan, der, da er „von unten auf“ kommt, schließlich auch als Unternehmer soziale Verantwortung übernimmt. Das deutsche Gegenstück zu den Manchesterkapitalisten Englands. Idealistisch überhöht.

Es war mein zweiter Spielhagen. 1982 gekauft und gelesen. NDW-Zeit. Die Fahne ein reichliches Jahr erst her. – Jedoch: Reservisten-Intermezzo Pflicht vor dem zweiten Studienjahr: Nochmal 6 Wochen NVA. Da wurde alles kaum Vernarbte wieder aufgerissen – und der Hader mit der Entscheidung, ob das Studium überhaupt das richtige wäre, ging in die nächste Runde! Raus! Weg! Aber – verreck! – wohin nur?!

Mit 22 Jahren unter die 17jährigen Ungedienten an irgend’ner Berufsschule? Mit 25 dann Lebensende am Schraubstock im VEB Dingsbums? No way!

Und ich schlage diesen Roman auf und lese, wie Georg Hartwig kurz vor dem Abi von der Schule fliegt – und ausbricht! Weg! Fort! Bloß kein Lakai sein!

Booooaaarrrrr! Dieser alte Schmöker da schien mir mein nicht gelebtes Leben erzählen zu wollen!

Auch dass er Zuflucht findet bei Malte von Zehren, dem letzten „tollen“ Landjunker von Rügen, dem „Pascher-König“, der sich an nichts hält, außer an die Vorstellungswelt der Vorfahren, beeindruckt:

Es gibt kein Problem, das sich nicht durch’ne Kugel zur rechten Zeit lösen ließe!

Stärke statt Gewinsel!

Ketten werden knapper! (Renft’73)

Stoß auf die Tür aus Stahl! Die Tür, die in den Frühling führt! (Renft’74; Kult’82)

Ich will leben! Drum steig ich aus – und zwar HIER! (Vera Kaah’81)

Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar! … (Grauzone’81)

Ich war Georg Hartwig!

Jedenfalls – solange ich Band I las.

Die Malte-Kapitel gehen runter wie Öl! Spannend. Ein Spirituosen-Robin Hood auf Rügen.

Immense Einnahmen, Aushalten seines Bruders, des Steuer-Rathes Zehren; der sonst mies vom Staat bezahlt ein elendes Dasein würde führen müssen. Weiiit weg vom Lebensstandard derer von Zehren!

Aber dieser Schreiberling ist angefault von „Korrektheit“; und er hat keinen Mumm; will nicht mit hinabgezogen werden, wenn „alles mal rauskommt“ und so verrät der schwache- den starken Bruder. Dem drohen nun Verhaftung und Entehrung, drum liefert er sich einen wirklichen Kampf mit den Gendarmen, bei dem die Zehrenburg in Flammen aufgeht. Als die Jagd endet, fällt ein letzter Schuss, mit dem sich Malte von Zehren die weitere staatliche Entwürdigung erspart. Georg ist zu jung, um den gleichen Weg zu gehen. Komplize/Knecht/Faktotum des Pascherkönigs gewesen zu sein – das bringt 7 Jahre Zuchthaus.

Nun ist der Schulabbrecher ganz unten – jedoch „von unten auf“ erleben wir seinen Aufstieg mit.

Er muss erstmal begreifen, dass er auf einem Ritt in eine Art anarchistisches Märchenland war und nun das gesellschaftliche Korsett begreifen.

Und dann geht es in jahrelanger Plackerei „nach oben“:

Häftling; Industriearbeiter (Kesselschmied); sich isolierender Abendschüler, Ingenieur; Schwiegersohn des Kommerzienrathes Streber, dessen Tochter Hermine eine jener gelungenen Spielhagen-Feen ist; Unternehmerschwiegersohn und Erbe; Witwer; in zweiter Ehe dann Schwiegersohn seines Ziehvaters, des dritten von Zehren; des Zuchthausdirektors.

Dieser hatte erkannt, wie verderblich der Einfluss seines ältesten Bruders hier „an einer jungen Seele“ gewirkt hatte; so sieht er es als Pflicht, ein Zehren-Verschulden wieder gutzumachen: Er erleichtert Georg die Haftbedingungen auf eine pädagogische Art. Schwer Arbeiten einerseits; guter Lesestoff für die Abende als Futter für den Kopp; an den Wochenenden dann eine Art „Freigang bei Knast-Direktors“ – Kaffee-Runde im Familienkreis mit tiefgründigen Gesprächen, die Georg da abholen, wo er steht:

„Nirgendwo wird Jugend so planvoll verbogen wie bei uns.“

Ob mit der Knute oder mit rhetorischen Wattebällchen – der Satz stimmt einfach immer!

In den Hermine-Episoden arbeitet Spielhagen sich ein weiteres Mal an seinem privaten „Hedda-Komplex“ ab; hier gestaltet er sich die leidenschaftliche Beziehung zuende, die er einst abbrechen musste. Voller Zuneigung, Seelenverwandtschaft und Zärtlichkeit. Als sie stirbt und Paula ins Spiel kommt, ist das ein bedeutend „abgetrockneteres“ Verhältnis. Seine Theresa-Ehe. Paula ist die kluge Ratgeberin, nicht die gewitzte, erotische Elfe.

Die drei Zehrenbrüder sind eine gar auffällige Parallele zu den drei Götz-Brüdern bei Raabe im „Hungerpastor“ von 1863.

Bei Raabe, wie bei Spielhagen gilt: ein „Wildling“, ein Schlappschwanz vom Finanzamt, ein selbstloser Förderer.

„Götz“ ist eindimensional deftig gemeint: Götz von Berlichingen. Typen, die die Welt am Arsche lecken kann. Bzw. der Typ in der Mitte kann dir eher selbst den selbigen… Der drastische Raabe.

Spielhagen hat den vieldeutigeren Namen voraus:

Von Zehren.

fs4Ein ehemaliges Raubrittergeschlecht, das sich von den Tränen(Zähren) der Umgebung ernährte; die Mägde missbrauchte, die Bauern schlug, die Händler plünderte… nach Zeiten sitzen sie auf ihren Resten dahinschmelzenden Reichtums und zehren ihn auf… sie zehren von ihrem alten Ruf, der diesem oder jenem einen wohlklingenden Staatsposten bringt, aber sie vollbringen nichts von Dauer. Die Zeit zehrt sie aus und auf. Sie haben abgewirtschaftet. Ihre Zeit ist um!

Spielhagen, der zu spät gekommene 48er, wird hier ganz und gar bildhaft. Er lässt den typischsten Adelsvertreter alten Schlages mannhaft, aber als Verbrecher, untergehen.

Die lange Etappe des Sich-empor -Arbeitens wird real nachvollziehbar erzählt, ist aber nicht ganz frei von Unwahrscheinlichkeiten.

  • Da ist die Zuchthaushaft, die mit jeder Buchseite mehr einem Sanatorienaufenthalt ähnelt – mit vollumfänglicher Chefarztbetreuung. Zuchthausdirektor von Zehren adoptiert Georg nahezu.
  • fs3Da ist die Kesselschmiederei im Lokomotivenwerk; die erste Darstellung von Fabrikarbeit in einem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts! Der Krach wird geschildert. Aber die Schattenseiten verschwiegen – oder nicht gewusst. Kein Arbeitsschutz; massenhafte Ertaubungen. Georg hämmert hier zwei Jahre mit und seinem Gehör tut das nichts! Nun ja. Es gibt so Lemmy-Kilmister-Typen, Richie Blackmore oder Buzz Dee Baur von Knorkator, die sind Tinnitus gefeit. Georg Hartwig muss so einer gewesen sein!
  • Georg umgeht das Bewohnen einer Mietskaserne im Wedding, indem er im Unland einer Großbaustelle, deren Investor verschwand, unbehelligt in einem halbfertigen Bau „instandbesetzt“ ungestört wohnen und abends studieren kann – um später „etwas sein zu können“.
  • Spielhagen isoliert seinen Georg also ganz bewusst vom verderblichen Einfluss asozialer Mithäftlinge während der Haft, als auch vom Gruppenzwang alkoholkranker Arbeiter in der Stehkneipe.

Stattdessen besucht Georg einen Jugendfreund, der mit Weib und Kind sauber geblieben, in so einem von Schmutz starrenden, dritten Hinterhof wohnt und sich da heraussparen will. Dermaleinst. Die Schilderung dieser Heloten-Unterbringung Anno 1868 ist ebenfalls ein unerhörtes Novum in der deutschen Literatur.

fs215 Stunden Arbeit und Hungerlohn. Heraussparen? Wie soll das gehen? Nur mit Sparsamkeit? Georg weiß inzwischen, dass eher Bildung dazu gehört um „fortzukommen“. Arbeiterbildungsvereine entstehen gerade. Jedoch sind diese Selbsthilfevereine mit ihren Alphabetisierungsangeboten nichts für den ehemaligen Fast-Abiturienten.

Und es gibt in jener Zeit, so ungeheuerlich das klingt, durchaus Beispiele von Industriearbeitern, die, weil sie durch Zuverlässigkeit und Fleiß auffielen, Förderung erfuhren und Ingenieure wurden; Patente entwickelten konnten auf Grund von Arbeitserfahrung. Allerdings kannst du diese Beispiele suchen, wie die Lotto-Gewinner unter Volksmassen. Georg wird so einer.

Er errettet das bereits halb ruinierte Werk seines verstorbenen Schwiegervaters Streber, indem er die Belegschaft zu Teilhabern macht, die dank Gewinnbeteiligung Ansporn haben, mehr verdienen, in besseren Wohnsiedlungen wohnen können, als für die Zeit typisch ist.

Hier schießt Spielhagen als Schöngeist widersprüchlich übers Ziel hinaus. Sein Idealismus opfert hier den Realismus auf. Er ist eben doch eher bei Goethe und dessen Edelmenschensehnsucht als bei Marx.

Dieses Happyend des menschenfreundlichen Industriellen ist 1869 Wunschdenken pur; irgendwo zwischen Lassalle und Saint-Simon und zum Scheitern verurteilt, führte jedoch 80 Jahre später in eine Sozialpartnerschaft, die „Wohlstand für alle“ propagierte; mehrere Jahrzehnte auch möglich erscheinen ließ und gegenwärtig vor der Auflösung steht. (Das Unternehmertum hatte 1945 in den Abgrund gesehen und ging im Westen vorübergehend auf Nummer Sicher; gönnte seinen Heloten ein kleines Stück vom Kuchen. Ab 1990 jedoch kehrte der Größenwahn zurück.)

Nun simmer wieder beim Georg Hartwig des Anfangs, bei Wohnungsnot und unbezahlten Überstunden. Die soziale Schere klafft. Die Masse säuft, wie die Arbeiter im alten Wedding; und (politische) Bildung fehlt – wie damals. Auch wenn jetzt alle das Smartboard anbeten, wie früher die Madonnen von Tschenstochau oder Lourdes.

Lemminge.

Mr.Betts is gone

Mr. Betts has quitted life.

Richard „Dickey“ Betts, mit 80 gestorben.

Stolzes Alter.

Bild (3)Dickey Betts and The Great Southern; zweites Rockpalast Festival 1977; zwischen den explosiven Mothers Finest und den chaotischen Spirit: Wroommmmm!

Kennst du das Gefühl, wenn da einer von übern-großen-Teich über den Jordan geht und du seine Platte auflegst und in den Spiegel guckst: Mach‘s gut, Alter!?!

Die Allman Brothers, die Great Southern…immer im Mix mit Artverwandtem; 1994-2009 gut 15 Jahre Dauerdroge auf den Heimfahrten von der Kleeche. (Maloche; Arbeit) Dann war’s auch irgendwann genug; es kamen andere zum Zuge. 40 km eine Tour; Brandenburg County; durch Wald und Feld, auf meistens freier Straße; da kommt das gut, dieser dahinfließende Sound.

Du verlässt die Schule. Knallst die Autotüre zu. Schlüssel rein, Musik startet – wohl temperiert und nicht zu müde, nicht zu schnell. Im späten Mittagstief. Auch für dich war gerade 7.te Stunde! Was passt da? Da brauchste keinen Punk oder Metalwumms!

„Farawail a liwin ju Ell Äy!“ – Finger hoch und Gaaaas! – Der „California Blues“ vom Great Southern Debut; der is‘ richtig! So abgefuckt relaxed! Perfect für 14:40 Uhr – zu Hause warten Hunderunde und Schreibtisch. Nun ja. Hasts ja so gewollt. Wollen müssen. Rock dich wieder hoch – für die zweite Schicht!

„Jessica“ und „run gypsy run“; da wächst dir n zerknautschter Stetson! Müllfahrerstyle. „Looooord, I was born a ramblin‘ man!“ Es folgen Rory, Winters Johnny; Skynyrdns; Van Zandt Brothers; Wet Willie…Nazareth passten auch immer gut dazu … „You shot me down!“ und nun is Dickey gone.

Every Body’s got a Mountain to climb!

Auch deine, alter Gitarren-Assi!

Maaaan! Was galt es alles wegzudrücken, was über dich so in den Gazetten stand! Edel is‘ anders!

Du warst der Keith Richards des Southern Rocks, was Suff und Substanzen betraf. Und familiär – Schwamm drüber! Die Mugge macht’s! Niemals ohne Eier! Und da liegen nun so Platten für die Ewigkeit! Die „Kinder des Rock and Roll“, die nun einer nach dem andern „heim gerufen werden“, waren nun mal keine Durchschnittsspießer. Und bevor man sich den Flaschenhals über den Ringfinger zieht, musste ja auch irgendeiner die Buddel leergesoffen haben! Slide it all down!

Ich hab euch Stück für Stück erschlossen! Und da war soviel zu entdecken! Auch an alten Roger Widmark Erinnerungen. Oder bei „Atlanta’s burning down“  – da kommt mir jedesmal „Der Mann vom großen Fluss“ (Shenandoah) ein. James Stewarts Paraderolle. Hatte ja viel Zeit im Auto in den späten 90ern: All diese Langzeitumleitungen zu fahr‘n, als das Straßennetz restauriert wurde. Da hab ich den Landkreis kennen gelernt! Bauampel hier, Löchertour da… Freizeitklau. Fluchen nützt nischt: „Wasted word! Still absurd!“

Aber meine Tochter hätte bald singen können: „I was born on a Greyhound-Bus Peugeot 309“.

„Roll on down the Highway!“ Ja, DIE Nummer is‘ nicht von dir! Aber die passte auch immer gut dazwischen. Genau wie „Long may you run“ mit der fiesen Beach Boy Spitze.

Aber ihr hattet es ja allzeit auch drauf, wie Uncle Neil:

„Like the hopeful dreams of many

He had everything and more

A lovely wife and children

All the things we‘re fighting for

He knows, there was still

Still, something missing

in his life…

Someone pull the trigger…

And there he’s got no place to run…

Temptation is a gun!

Eure „Where it all begins“ hab ich am meisten verheizt, in all den Jahren.

„We are stuck in Convoy rockin‘ trough the night…“

Midlife crisis. Landstraße. Döner-Bude. Landtraße one more time…

(Komm mir jetz‘ nich‘ mit „Blätter fressen“! Die Nerven brauchten Nahrung!)

„Seven turns on the highway, you see the crossroad sign…“

Entscheidungen! Ständig! An 3 Fronten gleichzeitig!

Da half nur allweil, sich „Southbound“ auf die Ferien zu freuen!

„Run gypsy run!“

Und dann „Soulshine!“ Baby. Warren Haynes. Klar. Um so‘n Seelen-Opus zu schreiben, muss man eine haben! Der war dir über, Dick! Kommt immer einer, der dann besser is‘!

Sein Existenzialismus bewahrte euch vor diesen ewigen „My baby left me, and I cry“ Texten.

Ihr bliebt einfach immer relevant, Alter!

Und ihr bliebt Kerle!

Schlaf gut, Rebel!

Mehr als nur’n Buch gelesen…(1)

Es ist Frühling. Und so’ne gewisse Sehnsucht verlässt uns Männer wohl nie. Schön, wenn es einen Autor gibt, der für dich leidet. Dann liest du das – und alles bleibt gut. Ob es mit der anderen eventuell sehr gut geworden wäre, wirst du nie erfahren. Egal. Du machst keine Fehler. Die Ehe hält.

Du hattest Futter für den Kopf. Nicht nur für die hormonelle Seite.

Tom Liwa taucht aus der Erinnerung auf:

Und die Frau, die ihr Leben
mit Dir teilt und Dich liebt –
manchmal ist sie Dir peinlich
und dann denkst Du es gibt
eine bessere Liebe für Dich
und dann fühlst Du Dich schlecht
und du hoffst, dass sie es nicht merken wird
na klar sie merkt es erst recht.

Für die linke Spur zu langsam
Für die rechte Spur zu schnell
Entlang der immergleichen
Leitplanken, Schilder und Zeichen

Spielhagen hat aus dieser Sehnsucht ein Lebenswerk gemacht, das ihn trug, und zu Lebzeiten zum meistgelesenen Autor Deutschlands und zum meistgelesenen deutschen Autor Russlands werden ließ. Also überall da, wo die Schwerenöter wohnen.

Aber Spielhagen machte aus seiner Teenie-Sehnsucht nach den entblößten Nacken unter Hochsteckfrisuren und dem schwebenden Gang jener Elfen in langen weißen Kleidern in Gutshausparks nicht nur Liebesschmöker, sondern ausgefeilte Gesellschaftsromane, die „Zeugnis ablegen“ von einer hochherrschaftlichen Zeit, die rammdösig in Richtung Abgrund fuhr. Er wartete damit nicht, wie ein gewisser Fontane bis zum Spätwerk.

Spielhagen sah scharf hin und legte manchem Protagonisten deutliche Sätze in den Mund. Ob 1862 oder 1890. Vor – oder – nach der Reichsgründung.

„Es wird zu Kriegen kommen, die all das zerstören, wofür Deutschland steht, was über die Jahrhunderte geschaffen wurde.“ (aus „Ein neuer Pharao“; 1890)

EZ6Die Einheit der Nation war ihm wichtig. Nötig. Seit 1815 überfällig. Jedoch –

Die Idee war gut – doch die Ausführung ließ zu wünschen übrig. Die pfuschten da ein Kraftwerk zusammen, das überhitzte; da die Ingenieure das Geruppel im Inneren überhörten, die Hände in den Schoß legten und lediglich hofften, dass es gut gehen möge. Das mag in der Gegenwart geradezu schrecklich aktuell wirken.

Wenn du einem Staat angehörst, in dem wichtige Reformen unterbleiben, dann kannst du nur Reißaus nehmen, auswandern; weit genug weg! Oder du musst mit all den Lemmingen um dich her mit nach unten – runter von der Klippe.

Spielhagen wurde mein Begleiter. Niemand hatte ihn empfohlen. Niemand kannte ihn. Und fast niemand wollte ihn kennenlernen, wenn ich ihn empfahl.

Ich hatte ihn 1981 im Antiquariat selbst entdeckt. Die beiden Bände standen hinter der Kasse im Regal und sahen verführerisch aus. Der Roman begann auf den ersten Seiten dramatisch und zog mich an. Der Preis war enorm: 30 Mark. Die drei Folgebände, die mir bis’89 noch ins Netz gingen kosteten zwischen 6 und 12 Mark. Bücher waren sehr preiswert in der Ehemaligen. Das Leseland wollte leben!

bücherwurm2

„Stumme des Himmels“ ist ein seltsamer Titel. Er führt in die Irre. Du glaubst Kitsch zu kaufen. Courths-Mahler lässt grüßen. Aber du lernst beim Lesen, dass der Titel von Jean Paul stammt – und der war im 19.Jahrhundert so eine Art Biermann oder Strittmatter. Ein Spötter, der gegen den gesellschaftlichen Stachel lockte.

Seine Metapher von den „Stummen des Himmels“ ist schwer melancholisch gemeint: Es sind Menschen, die entsagen. Menschen, die eventuell weitergekonnt hätten, als sie gingen; jedoch hätten sie Weggefährten in die Schlucht schubsen müssen, um freie Bahn zu haben …

„…diejenigen, die schweigen, die keine Schuld auf sich laden, um des eigenen Vorteils willen, anderen Leid ersparen, das sind die Stummen des Himmels.“

Jean Paul wurde nicht viel gelesen. Aber diejenigen, die ihn lasen – wurden Schriftsteller. Das ist wie mit dem Bananen-Album von Velvet Underground. Einer der größten Flops der Hippie-Ära – jedoch, „die 700, die in Amerika die Startauflage kauften, gründeten eine Band“, so wird erzählt.

Und so schrieb Spielhagen 1894 am Ende einer Schaffenskrise das Hohelied der Sehnsucht – einen seiner gelungensten Romane.

Es geht um Eleonore Ritter und Baron Ulrich von Randow. Sie lernen sich auf Norderney kennen. Sie sind Bade-Gäste in Zeiten, als Massentourismus noch nicht erfunden war. Es gibt also auch in Kurorten noch einsame Wege und ebensolche Cafés. Man trifft sich und treibt brave, unverbindliche Konversation. e.wolfJedoch hat diese von Beginn an den Touch der kleinen Besonderheiten. Man beginnt sich zu freuen, wenn man sich wiedersieht. Und man beginnt von beiden Seiten dem Zufall nachzuhelfen, damit dies auch ein drittes und viertes Mal gelingt. Es knistert!

Lies das im Frühling! Mitverlieben garantiert! Ich las das 1981 im Herbst – aber es war der Frühling meines Lebens!

Beide kommen sich verbal näher. Geschwister im Geiste. Dann reist man ab – in unterschiedliche Richtung. Eleonore nach Berlin, wo sie eine Stelle als Lehrerin oder Gesellschafterin sucht. Letzteres tritt ein – aber ihr neuer Arbeitsplatz führt sie im Sommer nach Pommern, wo sie somit Nachbarin ihrer Norderney-Bekanntschaft wird.

Das Baron Randow verheiratet ist und Kinder hat, hatte er ihr nicht verschwiegen. Er hat auch seine Familienumstände nicht beklagt, sondern durchaus die Rolle seiner Frau gelobt – nur erweckt Spielhagen beim Leser das Gefühl, dass jene Eleonore Ritter das perfektere Match gewesen wäre.

Es knistert heftiger. Bei Treffs, die nun beide eigentlich vermeiden wollen…

Man muss nicht nach Norderney, um …. Manch einem begegnet seine Eleonore auch am Arbeitsplatz. Die Gespräche lassen den Gleichklang der Seelen erahnen. Das Umfeld wird Nebensache. Hatten die Kollegen schon Wetten laufen, wie die Gutsherren bei Spielhagen: Na? Wann passierts?

Man kennt das. Auch in Werkhallen oder Büros. Es begegnet einem. Aber es muss sich nicht buchstabengetreu so abspielen wie im Roman.

Hertha von Randow oder Eleonore Ritter, Chiffren für Namen aus deiner eigenen Biografie – hundert Jahre später. Gute Bücher bleiben aktuell.  Anfang der 2000er hatte ich das ZVAB für mich entdeckt, mit seinem damaligen Spielhagenüberangebot zu kleinen Preisen: 2000, 2001, 2002 – Leserausch. Parallelwelt. Gott sei Dank. Keine Fehler begangen. Keine Patchwork-Stückelei veranstaltet. Nur die „Stummen des Himmels“ zum zweiten Mal gelesen. Medizin – die half.

In letzter Zeit las ich mehr Heyse. Aber der Thron gebührt Spielhagen. Unstrittig.

Staub gewischt auf alten Platten (3)

Fall 7:

Jane „At home“ (1977)

jane76Ach, was schielten wir nach Westen! Und in Sachen Deutschrock kam da nix mit Botschaft. Immermal wieder ein toller Track von „einer deutschen Band“, aber erstens auf Englisch und zweitens folgte dann nix nach. „Moscow“ von Wonderland ist unausrottbar KULT! Aber wenn das’ne Single war: Was war auf der B-Seite? Gibt’s von denen ein zweites halbwegs memorables Lied? Als Bear Family Records vor Jahrzehnten das Wonderland-Erbe per CD auf den Markt schmiss, war das mein letzter Reinfall in Sachen (West)Deutschrock. Das war einfach nix – und reiht sich ein in Randy Pie-, Snowball-, Kraftwerk-, Can-, Grobschnitt-, Frumpy-Erfahrungen. Überall ne gelungene Nummer oder auch zwei – und der Rest klappert vor sich hin.

„Jane“ waren neben „Eloy“ die wohltuende Ausnahme. Zu Ostzeiten ging das „At home“ Album herum und gefiel. Zu Westzeiten wurde es somit dringender Nachholkauf auf CD und lief und lief und läuft auch weiterhin.

Textlich ist einiges zum Fremdschämen. Gottlob englisch – also leicht verdrängbar. Geradezu albern die englischen Zwischen-Ansagen „The next song is called….“ – deutsche Band vor deutschem Publikum! Das erfährt seine kuriose Unterstreichung am Ende, wenn gut vernehmbar nach „Zu!Ga!Be! Zu! Ga!Be!“ gerufen wird. Aber egal: Man schwelgt ja noch im musikalischen Rausch!

Es ist eben die unschlagbar beste Kreuzung aus Deep Purple Härte und Pink Floyd Elegie!

„One of these days“ und „Echos“ meets „Fools“ oder „wring that neck“.

Das nimmt dich mit! Das malt Bilder an die Wand! Das holt Erinnerungen hoch – dass es sich nur so hat! Feines Album. Immer gewesen!

„Fire, Water, Earth and Air come together in my soul“

Yeahr. Trifft zu!

Fall 8:

Silly – die Tamara-Danz-Zeit

Ich lieb(t)e die ersten 4 Silly Alben sehr. Album 5 und 6 mit Einschränkungen. Stammleser werden sich erinnern. But time goes by.

Die Danz-LPs von Silly enthalten hochintelligente Texte, passend ummantelt von Klängen. Dann starb Tamara und die Bandgeschichte ging ohne sie weiter. Leider, wie sich zeigen sollte; denn das Bandniveau stand nur auf ihren zwei Augen. Nur sie hatte das Gespür für – den richtigen Texter zur richtigen Zeit.

Es gibt inzwischen reichlich Doku-Material über Silly und Interviewschnipsel mit den überlebenden Bandmitgliedern in Sendungen a la „Hits des Ostens“. Und ich vermute mal, ich habe davon fast alles gesehen. Aber das Bild wird mit den Jahren schal und schaler.

Silly a

Die 3 Silly-Veteranen geben sich immernoch wie ergraute Thälmannpioniere, die Bodo Freudl (Moderator von „Rund“) streicheln soll, wenn sie fehlerfrei ihre eingelernten Stanzen vor der Kamera von sich geben. „Ich bin lieb, ich bin immer lieb.“(Pankow) – klingt mir heute wie ein Spottlied auf die Silly-Mannen. Tamara ist nun fast 30 Jahre tot; aber keiner ihrer Boys ist nachgereift. Kein mutiger Satz in irgendeiner Talkshow. Brave erblondete Roy Blacks.

Denken die ab und an mal selber? Warum mauern die so über diverse Silly-Mysterien zu Ostzeiten? Halten die das alles für „inzwischen unwichtig“ oder haben sie’s gar nicht mitbekommen, wie „anders“ Silly gehändelt wurden vor 89?! Wie erklären sie sich das? Mal bissel Selbstreflexion? Bei Barton gibt es da immer mal so Ansätze, – immerhin! – aber warum kommt er nicht drüber hinaus?

Klaus Renft war alles andere als ein Intellektueller – jedoch brachte er einen lesenswerten Memoirenband zustande. Und Silly – quasi die Renft der 80er? Still ruht der See! Das einzige Problem war Haarspliss, oder was?!

Lege ich heute eine der Tamara-CDs ein, dann zupfen da diese Fassade-Boys an ihren Instrumenten, während sich die Mutti vorn am Mikro mutig auf „unbefahr’nen Gleisen“ das Maul verbrennt.

Ächz.

Fall 9:

Folkländers Bierfiedler (Debut 1991)

Bierfiedler 91Die CD ist vermutlich mittlerweile Rarität. Sie enthält einen Kultsong, aber sie stammt von einer Undergroundband, die außerhalb der 80er Jahre Studentenschaft von Leipzig und den Vogtland-Folkies unbekannt blieb.

Die Truppe war ursprünglich eine abgespeckte Pausenfüller-Version der Folkländer; einer in den 80ern erfolgreichen Leipziger Volkstanztruppe, die überall in den Universitäts-Städten der Ehemaligen die Klubhäuser vollbekam. In den Tanzpausen blieben ein paar Mitglieder auf der Bühne und klampften „Hörmusik“ vor studentischem Publikum, bevor es mit den Ländlern, Schiebern, Polka und Pogo weiterging.

Die Hörmusik hatte es allweil in sich. Volksliedpflege, aber auch manch listig untergebrachte Gesellschaftskritik. Siehe hier „In jetzig Zeiten“; uralt aber zeitlos. Unter anderem geriet der eine oder andere Renftsong ins Repertoire – hier die Bierfiedlerversion von „Nach der Schlacht“ in voller Schönheit.

Die Bierfiedler landeten Mitte der 80er einen echten Underground-Hit, ohne den sie nicht mehr von der Bühne kamen. „Löhrstraße“. Sie hatten keine Platte draußen und auch keine Chance auf eine, denn als Pausenband hatten sie nie eine Einstufung über sich ergehen lassen. Immerhin gab es eine Rundfunkproduktion des Liedes – und die wurde ein Wunschsendungsfavorit auf DT 64.

„Löhrstraße“ handelt von einem Typen, der in abendlicher Dunkelheit bei Nieselregen versucht in der Großstadt seinen Schwarm wiederzufinden, um ihn endlich anzusprechen. Nur weiß er absolut nichts von ihr. Immerhin nennt er sie der Einfachheit halber „Maria“. Sehr schöne, treffsichere Verse, für eine sattsam bekannte Situation aller Schwerenöter. – Nur taucht da eben unter anderem und so ganz nebenbei der Halbvers „die Mädels in der Löhr…“ und im Refrain „deine schrägen Schwestern“ auf. Und die Löhr ist die Löhrstraße von Leipzig. Die Straße hinter dem Hotel „Merkur“. (Heute das Gil Ofarim Hotel) Zu Messezeiten war das der Strich für die Westgäste. Polizeilich geduldet und von der Stasi „abgeschöpft“. Das offene Geheimnis der Devisenbeschaffung. „Die Schrägen Schwestern“ und die „Löhr“ zusammen ergeben also den Nebeneffekt, dass der Suchende da entweder nicht sicher ist, ob jene „Maria“ auch „so eine“ ist, oder aber noch heftiger: Ein westdeutscher Messestammgast als Freier, der seine „Bekanntschaft vom letzten Mal“ wiederfinden will.

Der Song rotierte 86-89 auf DT 64.

1990 endete die Zensur. Die Bierfiedler wagten den Sprung in die Marktwirtschaft. Leider ohne Beziehungen in „jetzig Zeiten“ und ohne Ahnung von Vermarktung. Es wurde eine stilistische Stoppelhopserei.

Bierfiedler 91 b

Ich kaufte die CD. Hörte sie einmal durch. Und dann nie wieder. Für lange Jahrzehnte reichten mir 3 Songs, immer wieder herausgesampelt und auf Auto-Kompilations untergebracht.

Jedoch: Bei allerlei Entrümplungsaktionen hab‘ ich sie immer wieder in letzter Sekunde aus dem aussortierten Türmchen geborgen – und behalten.

Dieser Tage zum zweiten Mal ganz gespielt, entpuppte sie sich als bedeutend besser als 1991. Kann natürlich nicht an der Wandlung der CD liegen, sondern wird wohl eher meiner Alterung geschuldet sein. Sie darf also weiter bleiben.

Nun gefallen 7 von 16 Tracks. Aber es bleibt dazwischen eben auch noch immer viel zu viel „fohkige“ Klimperei übrig.

Zum Folkie werd‘ ich nie!

Scherbenkunde

oder: Aus – der Traum!

oder eben einfach: Rio & Ich

Ach, ist das ein Graus, sich diesem Thema zu stellen. Mit 64 Jahren. Aber ich wills mal bewältigen. Ich muss sortieren. Und dies hier ist der gefühlt 54te Versuch. Könnte lang werden. Da gilt es soooo viel abzuwägen!

Ich habe jede Woche eine andere Meinung dazu. Es ist verhext. Je nach dem, welche Songs mir gerade in den Sinn kommen. Vieles hält dem Test der Zeit nicht stand. Aber da sind auch all die anderen Lieder – die richtige Nuggets sind.

Die waren wichtig. Soooo wichtig! Damals in den 80ern in der Ehemaligen. Unvergessen das Konzert von Rio Reiser -noch vor dem Mauerfall- in Ostberlin und der Massen-Chor beim Refrain von „Der Traum ist aus“:

Tausend Ossis grölen beseelt: DIESES LAND IST ES NICHT! (Klick und genieß es ab 2:50 Minute)

Geschrieben war das einst gegen ein ganz anderes System, jetzt war es eine Unmutshymne gegen das Regime „der alten Männer“ von Wandlitz.

Er war so wohltuend provokant in einer bleiernen Zeit.

„Leute, lasst das Glotzen sein! Kommt herüber! Reiht euch ein!“ war DIE Demo-Losung im Oktober 89 als noch alles auf der Kippe stand; und sie klang, wie von Rio formuliert: Könnte glatt aus „Keine Macht für niemand!“ stammen.

Das ist zwar NICHT der Fall; aber die Wendemacher gaben allzeit zu erkennen, wer sie sozialisierte: Ton Steine Scherben und die Fehlfarben.

TSS fuhren so ab ’83 verspäteten Ruhm ein und endlich auch ein bisschen Geld, als Rio seine Solokarriere startete und begann, den Schuldenberg abzutragen. Zuvor hatten sie sich unter völliger Verkennung aller wirtschaftlichen Zusammenhänge ja existenziell komplett in die Scheiße geritten.

Ihre revolutionäre Phase vom Anfang der 70er war da bei der Band schon lange „durch“. In den 70ern herrschte ja striktes Scherben-Embargo auf allen Sendern von drühm. Und das Ost-Radio sah auch keine Veranlassung, puren Anarchie-Gesängen Airplay zu gewähren.

Reiser war ein Poet des Unmuts, des Aufstandes. Ganz und gar unblumig mittenrein in die Zeit des Tangerine Dream Wach-Komas und der Pril-Blumen. Und wie alle „Macher“, wusste er nicht, wohin es hätte hinterher gehen sollen, „wenn die Waffen schweigen“.  

Zehn Jahre später brachten seine frühen Songs den Stagnationsfrust und den unklaren Rebellenwust in unseren Köpfen in treffenden Versen zum Ausdruck. Das saß sofort. Konnte ständig zitiert werden. Wir inhalierten die „Auswahl I“, „Scherben“ und eben die beiden Solo-Alben. Was man halt so greifen konnte, dank ahnungsloser Omas, die da von der Westreise Konterbande mitbrachten, ohne kontrolliert worden zu sein. „Stiller Raum! Stille Nacht! Alles schläft! Nur WIR sind wach!“

Wir hielten uns dafür! Yeahr!

Aber wie wach war ER? Er träumte, wie in „Steig ein“ besungen, von einem Land ohne Geld. Er wollte „Keine Macht für niemand.“ Und streiken bis zum Sieg „und UNS gehört die Fabriiiiik!“ – und dann? Planwirtschaft kann er nicht gemeint haben! Je älter du wirst, umso mehr werden dir all die Leerstellen peinlich bewusst.

Eigentlich hätte ich ihn schon damals als guten Kumpel in die Arme nehmen wollen, wegen:

„Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen, welche Mörder mich regiern, welche Räuber mich bestehln!“

Geil Alta! Voll auf die 12! – „In jeder Stadt, in jedem Land! Mach’ne Faust aus deiner Hand!“ 1988!

(Die Zeit der aufkeimenden „Revolutionären Situation“. Aber eben nicht, wie im Lehrbuch stand, im bösen „Mopol-Kannibalismus“ drühm, sondern hier bei uns; den „Siegern der Geschichte“, die laut Gorbatschow in einer Art „Agonie eines reaktionären Sozialismus‘“ lebten.)

Aber zugleich hätt‘ ich auch mit ihm drüber streiten wollen:

Keine Macht für niemand! Is aber och Kokolores! – Soll’n dann wer’n? Wenn keenor mehr sachd, wo’s langgeht? Hammvwer uns alle lieb, weil wir ja so gleich sind und so fair und selbstlos, oder was? Höre off!

Hättsd ma in Prora dienen soll’n! Die Parade von Schlagschlüsselschnauzen da hätte dir -eins fix drei- klar jemachd, was jeworden wär!

Wenn DIE kapiern, dasse keenor mehr einsammelt, wenn se Scheiße baun, dann hastes erläbd!

Bleib mir vom Halse mit Anarchie! Bakunin, Bakunin?! Höhöhö! Hör mir of! Das war ä Russe! Gucke dir Russland an! Dort wird lauter so ä Quark jeborn!

Anarchie-Gelüste haben mich nie gestreift.

„Ich bin der Antichrist! Ich bin ein Anarchist! Weiß nicht, was ich will, aber weiß was ich kriege! Ich will zerstörn – und dann mach ich die Fliege. Dennn iiiiiich bin diiiiiie Anarchiiiiiie!“ (Sex Pistols)

Punk mochte ich, weil er frech alle Phrasen durch den Wolf drehte, auch nicht weiterwusste, jedoch in der Übertreibung auch sich selbst auf die Schippe nahm: Wir meinen das nicht so ernst – aber wir kotzen uns frei! Selbstironie jedoch können die alternativen Kreise des Westens ja bis heute nicht.

Dieses bierernste Links-Sprech, dessen Ohrenzeugen wir manchmal via Westfernsehen oder -radio wurden, ließ uns im Osten kopfschüttelnd kalt. Wir warteten auf die Musik nach dem „Wortbeitrag“, vom „Zerstören der Strukturen in der Musik“ und ähnlichen Wolkigkeiten. Und wie ernst und weise die sich gaben, wenn die so’n Blech erzählten! Wenn man richtig Pech hatte, dann spielten die nach solchen Salbadereien auch noch die Düüls oder Franz K – und da brach man die Aufnahme nach spätestens 90 Sekunden ab und spulte zurück. Wie konnte sich so eine Käse-Combo ausgerechnet nach Franz Kafka benennen! (Naja, heute gibt es so’n Wimmer-Duo, das Glasperlenspiel heißt. Hermann H! Guck nicht runter! Hör weg!)

Die Polit-Songs der Scherben erinnern daran – und auch an ihren dauerwiederholten einzigen TV Talk-Auftritt aus den frühen 70ern: „…und deshalb werde ich mal jetzt diesen Tisch zerstören!“ (Sprachs und drosch dann mit der Axt auf ner Tischplatte herum. Und dann ging der Tisch nicht kaputt! Peiiiinlich! Ein Werbespot von damals weiß: „Akryl ist klar wie Glasss! Aber viiiiel härter“. Der Reklame-Onkel da im Spot war klüger als der Sponti. Symptomatisch. Der Aufruhr schon im Ansatz Murks.

Die Rio-Solo Sachen, wie „Wer, wenn nicht wir“, „Alles Lüge“, und vor allem „Blinder Passagier“ wirken weiser. Vermeiden die perspektivischen Sackgassen der Anfangsjahre. Man reift halt, macht Kohle mit Niveau und brennt schließlich aus. Rio in noch jungen Jahren.

Nach dem „Blinden Passagier“ gierte ich nach der „Rio III“. Als ich sie hatte, war ich verblüfft, wie ausgelaugt mein Wende-Herold da wirkte: Das war textlich UND musikalisch „nüschd“.

In einem Silly-Interview hatte kurz zuvor Tamara Danz erzählt, dass Rio hätte ihre „Februar“-LP betexten sollen. Aber was er so anbot, sei nüschd gewesen, deshalb habe man entschieden, Gundermann zu fragen.

Freunde feierten dann später Rios „Durch die Wand“. Mich störte seine PDS-Mitgliedschaft und seine peinlich-ärmliche Wendekritik mit der Neuversion des „Königs von Deutschland“. Mitte der 90er hatte auch ich die Kohl-Kamarilla mehr als satt. Aber der Song war einfach nicht gut; Sillys „Traumpaar“ um Längen besser.

Als Rio starb, fiel mir deshalb Nik Cohn ein und sein großartiger Elvis-Nachruf von anno‘77:

„Er starb gerade noch rechtzeitig, bevor er sein eigenes Denkmal völlig ruinierte.“

Wo wäre Rio heute?

Würde man ihn „einfangen“ wie Lindenberg? Rio barfuß im Schloß Bellevue – die Steinmeierpranke schüttelnd – mit Verdienstkreuz am Sakko? Oder zu später Stunde Walzer tanzend mit Iris Berben oder Claudia Roth auf der Berlinale?

Würden die ihn überhaupt noch kennen wollen, wenn er weiterhin „Der Traum ist aus“ live zu Gehör brächte und die Masse freudig einstimmt: Dieses Land ist es nicht! -?!

Bliebe er bei DER Version? Wie plump misslänge dann die eventuelle Neuversion?

Oder zöge er ergraut und fast kahl, den umgetexteten „Rauchhaussong“ schmetternd und Müllcontainer abfackelnd mit dem Connewitzer Underground durch die Rosa-Luxemburg-Straße von Leipzig?

Fragen über Fragen…

Ich hätte mir gewünscht, dass er all diesen West-Puhdys (Gröni, Campino, Lindi, Peter…) hätte zeigen können, wie man in Würde altern kann: Mit einem feinen, melancholischen, selbstreflexiven Werk ala Robbie Robertson, Ian Hunter oder Bob Weir auf deutsch.

„Die Barrikaden sind leer…“, „So wie wir waren…“, „Sie johlen und sie jammern…“, „Dr. Sommer, wann kommst du wieder…“, „Auf und davon…“, „Kohl ist fort, nun sind sie alle so…“, „Komm großer schwarzer Vogel“ (Hirsch-Tribute) und „Stiller Raum (revisited)“.

Ein jeder malt sein Rio-Bild.

 „Auf dieser Insel ist nichts los. Hier wächst auf allen Steinen Moos. Hier sind die Zwerge riesengroß! Hau mit mir ab, mach die Leinen los.“

Für mich immernoch sein bester Song!

Er empfahl seinerzeit das Auswandern aus Westberlin. Und zog nach Schleswig-Holstein. Damals Stoltenberg-County. Der war der Friesen-Dregger! Das (damals) konservativste Bundesland abseits von Bayern! Brat mir einen Storch!

Nun: „Abhauen“ musste ich nie. Ich blieb im Osten und veränderte mich mit ihm. „Bundi“ zwoter Klasse. Im „Anders-Land“; das dem Westen ein Buch mit 7 Siegeln blieb: So uninteressant wie die Mongolei.

Alta! Was is‘ das jetzt geworden! Nun ist mir doch mehr Lobenswertes eingefallen, als ich anfangs dachte.

Aber hören muss ich ihn irgendwie doch nicht mehr. „Dated“ eben.

Schlaf gut, Rio! Bleibst ein guter! Denn du hattest keine Chance – ein Joschka zu werden! Prost!

Die alten Männer und der Frühling

„Quisisana“ von Friedrich Spielhagen – ein Leseerlebnis.

Draußen lenzt es gewaltig. Die Tauben brüten schon. Frühlingsgefühle. Turtelgelüste…

Alt und gesetzt greift man zum Buch. Nach meiner Bruchlandung mit Courths-Mahler neulich geh ich auf Nummer Sicher: Spielhagen! Der Übervater! Er soll mir den Lenz retten!

Also: Greif dir den Band, den du am gründlichsten vergessen hast – er wird dir wie neu sein!

Yepp! „Quisisana“ (1880). Erstlektüre um 2000 herum. Das ist lange genug her. Es ist der Band, der „nur so mitgelesen“ wurde, weil einige andere damals besser, ausgefeilter, größer angelegt wirkten, in meinem Spielhagensommer, in dem ich das ZVAB abräumte.

Damals war ich 40; und diesmal folglich nicht. Das macht in Sachen Eindruck einen gewaltigen Unterschied!

Inzwischen bin ich nicht mehr nur der Mitträumer, sondern mehr und mehr zum „Profiler“ geworden.

Warum schüttet da ein 50jähriger dem Leser dermaßen detailliert sein Herz aus? Der ist doch verheiratet; Familienvater; wohlhabend und respektiert! Und schielt mit seiner Hauptfigur hier nach der „verbotenen Frucht“? Ein Vorzeit-Nabokow? Das Objekt der Begierde ist hier zwar keine Lolita, jedoch der Altersunterschied – immens.

Für die anderen Romane mag gelten: Niemals Fiktion und Autor gleichsetzen – jedoch hier sind der Übereinstimmungen gar zuviele!

„Dies ist ein Hilfeschrei! Es gibt mich immer noch! Es ist noch nicht vorbei! Dies ist ein Hilfeschrei!“ (Tocotronic)

Spielhagen hat schließlich auch nicht vorhersehen können, wieviele Jahre er noch hat. Zu seiner Zeit wäre ein Ableben -um die 55- normal gewesen.

Es ist einer der sogenannten „Kleinen Romane“; andere sagen auch „Novelle“, aber das ist wurschd. Den Unterschied machen eh nur wir und niemand sonst auf der Welt.

Ein Gutshaus in Thüringen, ein Sommer, ein rekonvaleszenter Gast von 50 Jahren und 215 Seiten Liebes-Verwicklungen.

Spielhagen verlegt seine Romane normalerweise nach Pommern oder Berlin, in seine beiden Heimaten. Jedoch auch Thüringen kann er. Besser als Heyse, weil bei dem immer das Münchner Umland um die Ecke guckt und keinerlei Thüringen-Anmutung entsteht, wenn er Konflikte dort hin verlegt. Spielhagen selbst jedoch hat reichlich eigenen biografischen Thüringenhintergrund und er ist in der Lage, tief zu empfinden. So gelingt ihm auch, in wenigen Sätzen oder der Namenswahl von Örtlichkeiten und Personen das typische Zeitkolorit zu skizzieren, so dass es sitzt: Dort, wo immer 3 Städte und 12 Dörfer ein „Fürstentum“ sind, da ist „der Hof“ allgegenwärtig. Thüringen 1880. Das zerhackte Land der Zaunkönige.

„Quisisana“ wiederum ist ein Hotel auf Capri, dort „wo die Wunden heilen“, und wo die Hauptfigur Dr. Bertram eigentlich hinwill, um da den Winter zu verbringen. Thüringen war nur als Zwischenstopp gedacht, weil da ein sehr wohlhabender Studienfreund wohnt. Dessen Angetraute, eine geborene Hildegard von Unkenrode (herrlicher Name!), ist von thüringischem verarmtem Adel und leidet unter der Mesalliance. Sie führt „ein großes Haus“, um „Hof zu halten“ und den Makel ihrer Verbürgerlichung zu kompensieren. Ohne es zu ahnen oder wissen zu wollen, ruiniert sie damit ihren eigentlich schwer reichen Mann.

Die beiden haben eine Tochter. Erna. Das einzige Kind. Man hat sich lange nicht gesehen. Jahre gingen ins Land. Nun ist das Kind 18 und „erblüht“ und so fangen die Verwicklungen an. Onkel Bertrams Onkel-Gefühle haben sich verflüchtigt. Es „lenzt“ in ihm. Er kämpft mit sich und dem Altersunterschied.

Vor 20 Jahren hätte er fast Lydie von Aschhof, die Pensionatsfreundin Hildegards, heiraten wollen, wenn er da schon wer gewesen wär. Mangels beruflicher Erfolge unterblieb das. Die Braut wollte nicht „ewig“ warten, um nicht am Ende als alte Jungfer zu versauern; verlobte sich prompt mit einem alten Grafen, der jedoch noch vor der Hochzeit starb, sodass das Schicksal der „alten Jungfer“ nun erst recht drohte.

Bertram selbst hat angeblich jene Schwärmerei von damals nie überwunden; ja wäre sogar fast daran zugrunde gegangen, dass jene Fee sich gar so schnell mit jenem alten Hippedildrich trösten konnte. So blieb er lebenslang unliiert. Nun steht er zwischen verblühtem Schwarm von einst und erblühtem Patenkind und muss sich irgendwie beherrschen.

Das Buch ist hochinteressant, wenn man bissel biografischen Hintergrund zum Autor hat; bzw. wenn so dies und das aus der eigenen Biografie dazu passt.

Spielhagen verzahnt hier 5 Schicksale aufs feinste. Von allen erfährt man Vergangenheit und Zukunftspläne. Alle haben miteinander zu tun, wollen niemandem schaden, schaden aber doch (beinahe)…Schicksale; sehr gut miteinander verzahnt.

Diese Verzahnung erinnert an Wishbone Ash. Ihre Double Leads galten als einzigartig. Call and response – einander steigernd. Detailversessener als selbst die Allman Brothers! Zwei Hauptfiguren paritätisch mit Vorgeschichte auszustatten und 3 Nebenfiguren ebenfalls fast gleichwertig, das ist literarisches Phönix‘en, Pilgrimage‘n, F.U.B.B.en, wenn du dich auskennst … 1880 hatten sie ja noch keine Plattenspieler. Die Ärmsten!

Heyse-Lese-Erinnerungen stellen sich ein.

Überhaupt scheint mir „Quisisana“ Spielhagens heyseschste Novelle zu sein. Die Capri-Anspielung; die Figurenkonstellation der 5 nahezu gleichberechtigten Handlungsträger. Die kluge 18jährige Fee… Die überbordende Sinnlichkeit an sich… (Natürlich verliebt man sich mit. Noch dazu – im Frühjahr!) Eine von den 5en ist eine russische Fürstin. Noch junge Witwe. Emanzipiert. Reise- und abenteuerlustig. Sie erinnert an Heyses „Glück von Rothenburg“. Leider ist „Quisisana“ das ältere Werk! Andersrum hätte es soooo gut gepasst:

Jene Fürstin aus Heyses Novelle wäscht ihrem kleinbürgerlichen Verehrer aus Rothenburg den Kopf und lässt ihn bei Weib und Kind zurück – dann fährt sie ein paar Stationen weiter nach Thüringen, um hier im Spielhagenschloss eine Ehe zu stiften…

Tja. Aber die heysesche Fürstin erblickte das Licht der Welt erst ein Jahr NACH „Quisisana“. Sapperlot!

Leider schleichen sich auch heysesche Schlampereien ein, für die Spielhagen normalerweise nicht steht:

Erna: – Es verwundert, dass Spielhagen diesen proletarischen Namen wählte. Die Mutter eine ehemalige „Beinahe Hof-Dame“ und die Tochter eine Erna? Spielhagen liebt „sprechende Namen“. Schon klar. Erna kommt von Ernst. Und ernst ist sie durchaus. Trotzdem klingt der Name eher nach „drittem Hinterhof und 12 Kindern im Rinnstein“ als nach „Schloss und Herkunft“.

Schlimmer noch Dr. Bertram: Auch er hat einen Namensmakel. Denn er heißt einfach „Herr Dr. Bertram“ bzw. für Erna „Onkel Bertram“. Da fehlt was! Er hat entweder keinen Vor- oder keinen Nachnamen. Oder aber einen sehr schrulligen Vater, der den Vornamen gleich dem Familiennamen wählte: Dr. Bertram Bertram.

Außerdem ist Dr. Bertram herzkrank und braucht einen Hausarzt, auf den er hört. Mediziner also ist er nicht! Welchen Beruf er hat, erfährt man nicht, nur dass eine Buchveröffentlichung ihm einst Ruhm und Wohlstand eintrug. Ergänzt durch ein überraschendes Erbe. Ein bissel erinnert das sogar an die mysteriöse Sammlung im „Drama von Glossow“. Dort blieb auch zuviel im Ungefähren, was „Butter bei die Fische“ gewesen wäre, wenn es dastünde.

Andererseits war dieses Buch für Spielhagen sicher ein schwieriges. Er ist 50, als er es schreibt. Genau wie Onkel Bertram. Mit 50 sticht im Allgemeinen nochmal der Hafer; vor der Gruft. Finales Aufbäumen. Ich kann bestätigen, dass es mir ganz ähnlich ging.

Heute hört man dann Deep Purples „Perpenticular“ und sieht bei „Rosi‘s Cantina“ Marty Robbins „Feleena“ auf dem Tisch tanzen und dann geht es wieder. Bissel Phantasie muss man schon haben. Das erspart, sich zum Goethe in Marienbad zu machen. Ian Gillan sei Dank!

Eine Chance, die Spielhagen nicht zu Gebote stand. Sein Biograph und seine eigenen Erinnerungen geben Schlüsselmomente preis: Er hatte mal so einen schönen Sommer als Gast in einem thüringischen Landschloss, als er „noch nichts war“. Er lernte dort eine Hedda kennen; Pensionatsgefährtin der Gastgeberin; es „matchte“; alle bekamen das mit. Die Gastgeberin aber nahm ihn bei Seite und bat ihn freundlich: „…das tunlichst zu unterlassen. Wer wollen Sie Hedda sein? Sie hat besseres verdient, als ein Leben in Armut und Unsicherheit.“ Spielhagen sah das seufzend ein. Sein großer Erstlingserfolg als Romanautor geschah Jahre später. Er heiratete – aber keine Hedda. Eine junge Witwe mit zwei Kindern. Und adoptierte. Dann kam Kind Nr. 3 und wurde Hedda getauft. Da wob ein unerfülltes Kapitel fort… Wie glücklich war die Ehe Spielhagen?

„Es muss in Ihrer Seele ein verborgenes Etwas sein, das an Ihrem Leben nagt, ein tiefer, dunkler Unterstrom von Gram und Leid. Habe ich recht?…“ (fragt der Hausarzt Bertram/Spielhagen am Ende)

Die Hedda-Ähnlichkeiten sind in seinen Romanen Legion. Nur wer eine tiefe unerfüllte Leidenschaft mit sich herumträgt, kann solche Frauenfiguren erschaffen, wie all diese Ediths, Eleonores, Paulas… und wo die erste Kontaktaufnahme passiert, ist auch nahezu immer ein herrschaftlicher Park nicht weit. Dass einmal ein Romanheld eine Frau mit Kindern ehelicht, oder es wenigstens erwägt – passiert hingegen nicht.

Er setzt also mit der Eröffnung des Romans hier seinem Hedda-Sommer ein Denkmal. Aber in welcher Form?! Die große Lydie-Liebe, das lange Leiden danach, werden ausführlich reflektiert. Dann aber sitzt Bertram „seiner“ Lydie 20 Jahre später gegenüber an der großen Tafel der Gastgeber und erkennt in der „affektierten, grell geschminkten, dürren Ruine“ die Fee von einst nicht wieder. Unvermählt geblieben wurde sie die „komische Alte“ bei Hofe in der Residenz. Ein paar Buchseiten später erfahren wir, dass sie 38 ist!

Wenn seine echte Hedda dieses Buch einst in die Finger bekam – – – oh Gott, die Arme!

Der Fuchs und die Trauben? Spielhagen so kleinlich? Oder hart berichtend über reale Wandlungen? Wo bleibt die Selbstkritik?

Will sich Spielhagen hier von einem Trauma befreien? Passiert ihm das nur aus Laxheit? Hat es zuvor ein spätes Wiedersehen gegeben, das alte Narben aufriss? Oder will er einfach seine Ehe retten, weil ihm seine Frau auf eine heimliche Korrespondenz mit der Namensgeberin der Tochter kam und eine Szene machte?

quisisana 1880

Spielhagen lässt auf „Quisisana“ den umfangreicheren Roman „Angela“ folgen: In erster Linie der Roman einer Ehekrise.

Lydie jedenfalls hat allen Magnetismus ihrer jungen Jahre eingebüßt. Nur fehlt, wenn sie nun als so kurioses Hascherl bloßgestellt wird, der selbstkritische Satz Bertrams:

Welch ein Depp muss ICH vor 20 Jahren gewesen sein, all diese Defizite nicht kommen zu sehen! Wie hätt‘ ich mich mit der gelangweilt oder pausenlos fremdgeschämt!

Auf der Erna-Seite hingegen läuft es anders: Die wird zur interessanten Schönheit verklärt. Was auch wieder an Unwahrscheinlichkeit grenzt. Es gibt schöne Frauen und interessante Frauen. Beides in einer? Hm. Bertram wird wieder Teen.

„Verliebte Jungs sind irgendwie wie Kinder. Je verliebter – je blinder.“ (Purple Schulz)

Jedoch kämpft er mit sich und weiß, die Notbremse zu ziehen. Spielhagen war lange Jahre Goetheverehrer und kennt die peinliche Vorgeschichte der „Marienbader Elegien“ genauestens! Und so lässt sein Alter Ego Bertram der Jugend ihren Lauf. Die schöne Erna wird heiraten, jedoch nicht ihn. Ihre Freundin Agathe – „die wie sie ebenfalls zur Jungfrau herangewachsen war, obwohl man von ihr nicht sagen konnte, dass sie durch diese Metamorphose gewonnen hätte“ – freut sich für sie.

Heyse hebt bisweilen auch kluge Frauen auf den Thron, die nicht das „Potential“ zur Titelbildschönheit haben. Spielhagen erschafft für sie lediglich die Rolle „des Mädchens, das die Taschen hält“ (Demmler). Er lässt sie kameradschaftlich bemitleiden.

Was noch zu sagen wär: Das lange Gespräch zwischen Bertram und dem Medizinalrat am Ende des Buches enthält viele versteckte Botschaften über die Befindlichkeit des alternden Bestseller-Autors Spielhagen. Es ist eine Art Bestandsaufnahme, Zwischenbilanz oder Lebensbeichte. – „Vermutlich passiert es bald.“, scheinen diese Seiten sagen zu wollen. Er will aufräumen. – Aber er hat noch 32 Jahre.

Alles in allem schreibt hier ein kluger Mann mit unerfülltem Herzen.

Aber vielleicht war ja auch nur Frühling.

„In Rosis Cantina tanzt heute Feleena

So barfuß und braun auf dem Tisch

Mond und Sterne sie lauschen

Wie die Pulse drin rauschen

Doch Feleena bleibt lange noch frisch.“

So the Music is the healer.