Die Tochter ihres Vaters

Es war regnerisch. Schnee lag keiner. Wir schreiben Nikolaus 1898. Berlin, Kantstraße. Die war eine typische Gründerzeit-Bauboom-Erscheinung. Die Bäumchen vor den Häusern noch immer recht schlank. Stuck allenthalben, Schaufenster wechseln mit großen Toreinfahrten.

22777179880Vor der „Bücherstube“, Inh.: Ferdinand Müller, hält eine Droschke. Die noch relativ jung wirkende Mit30erin, die ihr entsteigt, wickelt sich für die paar Schritte bis zur Ladentür fester in ihren Shawl. Sie ist auf dem Heimweg von der Mädchenschule nach Hause, aber eine Stippvisite bei Müllerns muss sie sich heute noch gönnen, sonst ist es ein verlorener Tag.

Sie betritt das leere Geschäft, grüßt auf Verdacht nach hinten ins „Gewölbe“, dass 3 Stufen erhöht das Bureau vom Laden trennt, schlägt den Shawl zurück und beginnt die Bücherrücken linkerhand zu studieren.

Herr Müller, Endfünfziger, Marke Grandseigneur in Hermann-Hesse-Statur, steigt sofort aus seiner Geheimtipp-Halle hernieder und begrüßt die einzige Kundin zuvorkommend:

„Fräulein Spielhagen! Welche Freude in diesen lichtlosen Zeiten! Bitte hier entlang. Ich hab da was für Sie aufgehoben.“

Er deutet ins Gewölbe. Sie steigt die Stufen hinauf und nimmt vor seinem Schreibtisch in einem gemütlichen Lehnstuhl Platz.

Wie von Zauberhand gerufen, erscheint Frau Müller, klein und hutzlig, das Gegenteil ihres hageren 2-Meter-Mannes, und platziert eine gutgefüllte Kaffeetasse vor Antonie.

Dann rückt sie sich einen Stuhl hinzu, Herr Müller nimmt auf dem Patriarchen-Thron hinter dem Schreibtisch Platz.

Antonie nimmt den ersten Schluck und setzt die Tasse ab, als er hinter sich greift und ein Buch präsentiert:

„Für Sie! Wir Heyse-Verehrer der letzten Tage müssen doch zusammenhalten.“

„Oh? Der neue Heyse? Doch noch vor Weihnachten?“

„Wie Sie sehen. Ich habe ganze 10 Exemplare bekommen können von der Erstauflage. Skandalös!“

„Naja, aufgelegt wird er ja noch. Nicht zu knapp. Da klappts dann eben mit der Nachauflage.“

„Fräulein Spielhagen! Wir sind doch hier nicht in Zepernick, sondern in der Kaiser-Pfalz!  Reichshauptstadt! Berliner Westen! Wohlsituiert und konservativ! 4 Generalinnen allein in dieser Straße, die meine Kundinnen sind! Mir entgeht das Weihnachtsgeschäft! 50 Stück hätt‘ ich dicke verkauft!“ Er schlürft etwas unvornehm und grummelt noch einmal missmutig: „Zehn Stück! Lumpige Zehn!“

Sie hatte das Buch inzwischen aufgeschlagen und das Inhaltsverzeichnis überflogen.

„Immerhin hab ich das Glück nun ein Exemplar davon zu bekommen?“

„Unzweifelhaft, wie Sie sehen!“ Er wird vertraulich im Tonfall: „Ich kenn‘ Sie doch noch aus ihrer Schulzeit, da werd ich doch meine Stammkundin nicht vergessen! Und dann noch die Tochter DIESES Vaters! Bitte, meine Verehrung zu Hause auszurichten!“

Sie nickt pflichtschuldigst dankend.

„Kennen sich die Herren eigentlich persönlich?“, leitet er nun aus seinem Verkaufslamento ins gemütlichere Gespräch über.

„Sagen wir es so: Die beiden wissen voneinander“, gibt sie lächelnd preis.

Ihm ist anzumerken, dass er nun gern mehr erfahren würde, aber er fragt nicht nach, will nicht zudringlich erscheinen. Da jedoch auch Antonie nichts sagt, sondern dem Kaffee zuspricht und ihn lobt, muss er sich schließlich doch überwinden:

„Eine Art Künstler-Krieg? Oder nur die Distanz nach München?“

„Weder noch. Konkurrenz. Beiderseitige Reserviertheit. Diplomatisches Lob für einander, ohne sich jedoch wechselseitig gelesen zu haben. Nehme ich jedenfalls an.“

„Jammerschade! Sie kämpfen doch beide an derselben Front, so will mir scheinen!“

„Schon-schon!“, stimmt ihm Fräulein Spielhagen zu, „Aber Papa monierte mir gegenüber gelegentlich, dass Herrn Heyses Figurenkabinett nur aus Künstlern und Italienurlaubern besteht, weil er das Leben nicht kenne, die Milieus nicht studiere, somit seine Figuren Schemen blieben.“

Die Ladenglocke bimmelt, Frau Müller geht und kümmert sich um die Kundschaft.

Er selbst hingegen schenkt seinem Gast mit einem formalen „Ich darf doch?“ noch einmal Kaffee nach und setzt das Gespräch fort:

„Hart geurteilt. Leider wahr. Trotzdem steckt doch mehr drin, als bloße Kolportage, ich halte Heyse für- “ 

„…einen Meisterpsychologen“, sprachen beide den Satz zuende und lachten.

„Na, da sind wir uns ja einig“, schmunzelte Herr Müller vertraulich, „bleibt mir nur, Sie zu warnen, wenn Sie die erste Novelle lesen“, er zeigte auf das Buch, das vor ihnen lag, „da könnte Ihnen manches bekannt vorkommen.“

Fräulein Spielhagen kramte in ihrer umfangreichen Tasche auf dem Schoß nach dem Portemonnaie.

„Wieviel bin ich Ihnen schuldig? Es ist die 4 Mark Ausgabe scheint mir?“

„Das ist richtig, aber nehmen Sie es bitte als Weihnachtsgeschenk. Meine Verehrung – auch an den Herrn Vater.“

„Sie wiederholen sich. Aber es tut gut auch einmal wieder Zuspruch zu erfahren. Der wird rar in letzter Zeit.“

Er schaltet prompt auf mitleidender Kamerad: „Ich habe das kopfschüttelnd verfolgt. Diese Verständnislosigkeit der Allgemeinheit! Friedrich Spielhagen als Anarchist! Man stelle sich den Unsinn vor! Mit der Vernunft ist es eben nicht weit her. Wir paar Bücherwürmer stehen da auf verlorenem Posten.“

„Leider setzt es zunehmend auch Anfeindungen seitens anderer Literaten. Insofern ist Bücherwurm leider kein Solidaritätskriterium.“, sinnierte sie halblaut vor sich hin.

„Zu wahr. Zu und zu wahr!“, pflichtete er ihr bei, „Neue Besen kehren gut. So sagt man oft – und sie fegen leider nicht nur den Schmutz hinaus, sondern auch ein paar wertvolle Bodenvasen um. Wenn das Bonmot gestattet ist.“

Sie nickte traurig.

Er fährt fort:

„Wer von den Lästerern wäre im Stande ein „Was will das werden?“ zu erschaffen? Seherischer Titel übrigens! Ganz zu schweigen von den „Problematischen Naturen“ seinerzeit oder „Hammer und Amboss“! Dafür geb ich den ganzen Freytag her!“

„Lassen Sie ihn das nicht hören!“

„Ihren Vater?“

„Nein, den Freytag!“

Und auf sein verdutztes Gesicht hin ergänzte sie:

„Zwischen DEN beiden ist nun wirklich Urfehde geschworen.“

„Huch? Interessant!“

„Aber das Familiengeheimnis erfahren Sie dermaleinst, wenn eine posthume Biografie fällig werden sollte; andernfalls nehmen die beiden Gegner das Problem mit ins Grab.“

Der Kaffee war getrunken. Sie erhob sich, bedankte sich für das Buch und signalisierte Aufbruch. Er begleitete sie durch den leeren Laden zur Tür, hielt ihr diese auf und verabschiedete sich galant von ihr, während seine Frau ein paar Bücherstapel wieder „auf Kante“ brachte.

—-

Toni war die paar Schritte nach Hause zu Fuß gegangen. Der Sprühregen und das Grau in Grau verdüsterten ihre Stimmung wieder. Sie erreichte das Haus, erklomm die Stiege zum I. Stock und klopfte. Das Dienstmädchen öffnete, knixte und meldete prompt: „Der Herr Vater hat schon nach Ihnen gefragt.“

Antonie verdrehte ein wenig die Augen, dankte und sprach zu sich: „So Mädel! Zweite Schicht; bloß gut, dass ich die zwei Tassen Kaffee intus habe.“, während sie die Straßenkleidung an die Garderobehaken hängte.

Dann begab sie sich in die väterliche Bibliothek. Wo sollte er auch sonst sein.

„Hallo, da bin ich!“ kündigte sie sich selbst an.

Der alte Weißbart da im Schreibtisch-Stuhl schien aus einer Grübelei aufzuschrecken:

„Da bist du ja endlich, Tonerle! Ich glaubte fast an ein Unglück!“

„Nein, nein ich war noch bei Müllerns, die Bücherwände bestochzen.“ Den Heyse-Band erwähnte sie nicht.

„Was du an dem Laden nur findest! Der alte Schöntuer ist mir zu geleckt.“

„Er und ich – mögen Heyse, das verbindet.“

„Ein weiterer Minuspunkt. Er entfremdet mich meiner Lieblingstochter.“

„Ach Voaaaa-diii!“ wechselte sie ins weiche thüringische Westsächsisch, „mor möjchn ihn ehm.“

„Nojoa-doch-nuor!“, nahm er den Singsang auf, „das isse doch – die Scheise.“

Dann griff auch er hinter sich und überreichte ihr ein Weihnachtspäckchen: „Hior habb’ch was für diche!“, um sich dann gleich wieder ins Hochdeutsch zu zwingen: „Nun isses aber auch gut mit DER Mundart.“

Toni wickelte vor dem Schreibtisch aus und hatte wenig später – „den neuen Heyse“ in Händen.

„Hat der Nikolaus für dich hiergelassen. Du warst heute früh schon aus dem Haus und deine Stiefel somit fort.“

„Danke Papa! Heyse – von dir?“

„Was tut man nicht alles für treue Kampfgefährten.“

Sie lachte nicht. Ihr Blick ging melancholisch durch ihn durch. Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Ärger in der Schule?“

30262989675„Die kleine Itzenplitz wird heiraten. Gleich nach dem Abi.“

„Wieder eine weniger, im Corps der Suffragetten.“ Es war als Witz gemeint, kam aber nicht an.

„Wozu bilden, wenn doch ein wenig Larve, Mundwerk und Geschicklichkeit beim Häkeln reicht?“, resümierte sie resigniert. „Warum fahr ich da eigentlich jeden Tag hin.“

„Ach Kind.“, nun hielt er es doch für nötig aufzustehen, um seiner Tochter den Arm um die Schulter legen zu können, „sind eben nicht alle so wie du und die Duse.“

„Spotte nicht, Papa. Wenn ich sehe, wie sich Jahrgang für Jahrgang, eine nach der anderen wegheiraten lässt, dann macht mich das von Jahr zu Jahr kränker.“

Er küsste ihr die Stirn. Dann sahen sich beide tief in die Augen. Er bemerkte die Schatten und Fältchenansätze heute zum ersten Mal: Sie verblüht. Schade um sie, dachte er und schwieg. Schließlich hatte er sich mühsam ein paar Worte zurecht gelegt, von denen er der Ansicht war, dass sie trösten müssten:„Tonerle! Du hast doch soooo viel mehr erreicht, als alle deine Geschwister zusammen! Komm, sei stolz!“

Sie sah zu Boden, zuckte die Schultern, nahm das Geschenk vom Tisch und verließ den Raum.

Als sie in ihrem Zimmer angelangt war, entzündete sie die beiden Petroleumlampen auf dem Schreibtisch. Dann legte sie die beiden Heyse-Bände neben einander. Ihre Rechte strich über den Einband. Gleich wird er rufen. Die zweite Schicht. Lauter kleine Verrichtungen werden es wieder sein.

In Gedanken erlebte sie das Schulgespräch aus der großen Pause von heute Vormittag nach.

Näs’chen, wie die Itzenplitz von ihren Freundinnen genannt wurde, war mit der Neuigkeit herausgeplatzt: Am letzten Wochenende hatte sie einen Antrag bekommen! Ostern wird es offiziell gemacht und im August solle die Hochzeit sein, so die bisherige Planung.

„Wer isses? Sag! Wer?“ hatte die halbe Klasse sie bestürmt.

„Olof von Puttkammer. Bäh!“, trumpfte sie auf und steckte Isabelle von Wolzogen, ihrer Intimfeindin, die Zunge raus: Eine glänzende Partie.

„Nun kannste mich nich‘ mehr mit Vitzliputzli aufziehn!“ Sie wollte sich kapriziös abwenden, aber –

„Pute!“ konterte die Wolzogen frech und imitierte das typische Truthahnkollern. „Vitzliputzli war wenigstens noch bauernschlau. Aber jeder entlarvt sich, wie er kann! Das Hirn einer Pute hast du schon, der Schrumpelhals kommt nach.“

„Nanana! Contenance, meine Damen! Nun wollen wir erstmal der Braut gratulieren“, hatte Toni ihre Autorität in die Waagschale geworfen und als erste gratuliert. Die Floskeln brachte sie nur schwer über die Lippen, aber die Backfische merkten es nicht. Sie hatte argwöhnisch ins Rund gelauscht, ob irgendeine Spitze gegen ihre eigene Unvermittelbarkeit zu hören war; aber nichts dergleichen war geschehen. Dann hatte sie der bösartigen Wolzogen mit einem Elternbrief drohen müssen, damit die sich eiskalt wenigstens pro forma bei Näs’chen entschuldigt. Ein hartes Stück Arbeit in der Pause!  Sie war heilfroh über das Stundenklingeln des Schuldieners. Schillers „Maria Stuart“ lenkte ab vom allzu biederen Frauen-Dasein höherer Töchter.

Bis hierher und nicht weiter. Sie wischte die Gedanken über ausbleibende Emanzipationsgelüste bei ihren Schülerinnen mit einer Handbewegung weg. Im Flur blieb es wider Erwarten ruhig. Also schlug sie den Band zur Rechten auf. Den anderen würde sie der Schule spenden. Buchprämie für irgendwann. Ihrem Ruf als „die Moderne“ käme das zu pass. Man würde wiedermal die Nase rümpfen, aber vor ihr schweigen. Die mit dem berühmten Vater durfte eben mehr, auch 17jährige Schülerinnen mit Heyse-Büchern prämieren.

„Der Sohn seines Vaters“ war die erste und titelgebende Novelle.

dav

corpus delicti

„Es wird ihnen manches bekannt vorkommen.“ Ferdinand Müllers Hinweis fiel ihr ein. Sie begann zu lesen.

Aha, wiedermal Italien. Da war sie inzwischen auch gewesen. Allein reisend. Lange. „Riviera“. Nun gut, da war sie nicht. „Ein trauriger Wanderer kommt des Weges.“ Sicher wieder ein Maler oder ein Philosoph. Nein – ein „reicher Erbe“, nun ja. Und der „sieht plötzlich eine junge Frau auf einer niedrigen Mauer sitzen und einen Olivenbaum malen.“ Das hätte ich sein können. Allein bleiben und malen. „Sie hatte nichts Auffälliges an sich.“ Passt auch. „War bescheiden gewandet.“ Dito. „Nicht eben hübsch, aber regelmäßige Züge…“ Sie konnte nichts machen. Ihr altes Idol hielt ihr einen  Spiegel vor.

Aber diesmal sollte es heftiger kommen. Es war nicht seine alte schwungvolle Schreibe. Ein paar Entwicklungen zu Beginn wirkten doch wie übers Knie gebrochen, aber die Handlung nahm Fahrt auf und trug sie über stilistische Petitessen hinweg – weit weg!

Alles, was der wohlhabende Nichtsnutz da von sich gab, hatte so ähnlich auch sie erzählt bekommen! Auch sie wäre um Haaresbreite verlobt aus Italien zurückgekehrt; auch in ihrem Falle wäre es eine gute Partie gewesen. Millionen-Erbe und Spekulant! Aber „ihrer“ hatte lediglich eine abgebrochene Offizierslaufbahn zu bieten, keinen Dr. phil. – Sie hatte exakt so dagestanden, wie jene Luise im Buch, hatte das Wechselbad der Gefühle genossen: Endlich jemandem aufgefallen! Aber: Wird das passen? Was kommt nach der Süßholzraspelei der Anfangszeit? Hat er genug Esprit? Oder ist er ein Kommisskopf? Ein depressiver Dandy? Bleibt diese Nettigkeit? Oder wann wird er Kante zeigen?

Sie hatte die Chance schließlich „verstolpert“; zu lange gezögert, eindeutige Antworten zu geben. Mit der Zeit war das Erlebnis versandet, aber Heyses Luise und Alfred bliesen eben diesen Sand nun wieder weg. Alles war wieder so lebendig da, wie eben erlebt: Die Malerin, immer am gleichen Fleck. Das ausgesucht komische Motiv, das sonst keiner malen würde, hatte sie mit Heyses Luise ebenfalls gemein. Somit den einsamen Ort. Tete-a-Tete tauglich. Der Verehrer kann sie finden und wiederfinden, wann immer er will. Der Gesprächsstoff knistert, wird immer persönlicher… Zuerst träumt sie sich das kurze Glück zurück, dann kommt der Frust über das eigene Versagen von alleine nach. Die Augen schwimmen. Sie sucht ein Taschentuch, wischt und liest weiter. Immerwieder kommen die Heul-Intervalle. Sie tun gut. Endlich loslassen dürfen! Hier gab es keine Zeugen. Hier war sie nicht mehr die „Moderne“, die nebenbei Novellen schrieb und in jeder Diskussionsrunde sachlich Paroli bieten konnte. Hier war ihr Kinderzimmer und sie das verschmähte Mädchen, dem die eigenen Kinder fehlten.

Ihr ist, als habe ein Spitzel des Autors sie in Rom belauscht und Heyse nichts weiter zu tun, als den Petzbericht etwas weiter nördlich zu verlegen. Aber es war IHR Schicksal! Die Fülle der Übereinstimmungen war erdrückend! Der angehängte Schluss, dieses „Beinahe-Happyend“, stößt ihr allerdings böse auf. DAS war NICHT sie! Sollte sie sich darüber grämen, dass es diese bajuvarische Luise da besser traf als die Höhere-Töchter-Dompteuse aus Berlin? Oder sollte sie Kraft und Hoffnung tanken, dass auch ihr noch ein realer Historiker oder Gymnasial-Professor begegnen könnte, der sie will?

Wer bin ich?! Ich bin doch nicht die Itzenplitz! Dieses Mädchengeschwätz vom Heiraten! Die Mädchenjahre sind vorbei! Geschafft hab ich tatsächlich einiges. Aber warum sehnen wir uns immer nach dem, was fehlt? Mitte 30! Da ist Feierabend! Denk an Heyses „Zwei Schwestern“ und an sein „Mädchenschicksal“! Die eine kriegt mit 28 gerade noch so „einen ab“ und die andere, obwohl weit hübscher, geht ganz leer aus. So isser nun mal – der Ernst des Lebens!

Aber so kann sie sich nicht beruhigen. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, aber sie ist zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Also liest sie weiter. Die zweite Novelle „Verratenes Glück“ ist deutlich kürzer und erzählt die Geschichte einer klugen Frau, die an einen unwürdigen Galan gerät. Siehste! Es kommt ihr vor, als sei Novelle zwo das Jang zum Jin von Novelle eins: Gräm‘ dich nicht! Überlege, was besser ist: Allein zu bleiben und einsam zu sein – oder dich wegzuschmeißen und den Leidensweg der Konsequenzen gehen zu müssen.

Sie weiß nun, was zu tun ist: Die Sturmflut der Gedanken muss aus dem Kopf, wenn sie Ruhe finden will. Sie muss es zu Papier bringen, ihr Rom-Abenteuer mit diesem traurigen Bonvivant; erst dann ist sie es los.

Sie wird die Nacht durchschreiben. Der Schlaf wird ihr morgen Mittag fehlen, aber es gibt keine andere Lösung. Der Schreibdrang ist stärker. Nicht nur Söhne, sind die Söhne ihrer Väter, sondern eben auch Töchter Nachfahren in ähnlicher Situation. Sie schreibt „Herbst im Frühling“ in einem Fluss herunter. Dann geht die Sonne auf. Sie macht Katzenwäsche in der Wasserschüssel und begibt sich zum Frühstück ins Esszimmer. Ihre Augenringe sind nicht zu übersehen.

Vater fragt besorgt nach ihrem Befinden; ob sie sich krank fühle.DSC02995-002spielhagen

„Ich habe nicht geschlafen. Ich habe geschrieben. Es musste einfach sein.“

„MEIN Kind!“, strahlt Papa. „Diese Gefühlslage kenn‘ ich gut. Was raus will, muss raus.“ Er lehnt sich zurück und fragt nun nicht mehr die Tochter, sondern die Kollegin: „Bringst du’s wieder bei Westermann unter? Oder gibst du es der Gartenlaube?“

„Ich glaube weder noch. Ich fürchte, das gäbe diesmal böse Kritiken.“

„Oh je. Gehst du unter die Naturalisten?“

„Nein.“

„Das wollt‘ ich auch hoffen! Ich hab dir bei deinem Westermann-Debut gesagt- “

„- du wärst der bessere Heyse! Ich weiß.“

Sie trank ihre zweite Tasse Kaffee in einem Schluck aus und knallte sie etwas zu resolut auf die Untertasse.

„Diesmal hab ich wirklich eine Heyse-Novelle quasi beantwortet.“

„Donnerwetter. MEINE Tochter!“, der alte Mann mit dem Weihnachtsmannbart strahlt von der anderen Tischseite herüber. „Lass mich raten! Es ist „Der Sohn seines Vaters“ und du siehst dich als Luise.“

Nun ist das Staunen an ihr: „Du hast sie gelesen?“

„Ich konnte nicht anders. Nach den ersten beiden Seiten hatte ich dein Bild vor Augen, deshalb blieb ich dran.“

„Warum nur sagen mir alle, dass sie mich in dieser Luise sehen?!“

„Wer denn noch?“

„Herr Müller vom Buchladen – und ich selbst.“

„Da sind wir schon drei. Was hast du nun daraus gemacht? Eine Fortsetzung?“

„Nein. Eine kargere Variante ähnlichen Ablaufs – mit einem realeren Schluss.“

„Glaub ich sofort!“

„Warum?“

„Weil du das Leben kennst.“ Er hob die Kaffeetasse wie ein Sektglas: „Auf dich mein Kind! Es lebe Paul Robran!“

(Antonie Spielhagen; 1865-1910; veröffentlichte eine Handvoll Novellen in Westermanns Monatsheften. Immer unter dem männlichen Pseudonym Paul Robran. „Herbst im Frühling“ erschien dort jedoch nicht, sondern wurde das titelgebende Herzstück des Novellenbändchens, das um 1900 ohne Jahrgangsangabe (vermutlich) einmalig in kleiner Auflage in Berlin erschien. Mein Dank gilt dem Vielleser für das Zur-Verfügung-Stellen.)

 

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2 Gedanken zu “Die Tochter ihres Vaters

  1. Genial, die Art, wie du diese Szenerie ins Leben rufst. Ich sehe meine Großmutter väterlicherseits vor mir, Jahrgang 1880 (?), zwar nicht aus ganz so gehobenem Milieu, aber durchaus angeadelt und in Berlin lebend, arm freilich, da die Mutter früh verwitwet, und sie selbst unwillig, sich eine passende Partie einreden zu lassen. Studiert an einem Lehrerinnenseminar, geht dann als Privatlehrerin nach Irland, kommt zurück, 30jährig heiratet sie, die Feine, Gebildete, Klavier Spielende einen Fischer, weil auch ihr „die Kinder fehlten“. Eine „Mesalliance“, die sie tapfer durch extreme Armut durchtrug und drei Kinder bekam. Der Älteste war mein Vater.

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