Pfingsten 2020. Nachklang. Das Land in der Corona-Reststarre. Aus Thüringen drohen nächste unüberlegte Schritte. Im geschützten Raum des menschenleeren Brandenburger Buschs ließ es sich unbeschwert ausfahren. Nichtüberlaufener Wald und Seenregionen vorhanden. Die Seele konnte baumeln.
Hier kommt dir keiner zu dicht!
Wie schrieb Herr Spengler neulich in NOTAT 37 so treffend:
Du bist, was du liest.
Ich möchte erweitern:
Du bist, was du liest und was du hörst.
Denn ich bin nicht nur süchtig nach dem nächsten Buch, sondern auch nach der nächsten Musik, bzw. nach der nächsten Wiederholung einer alten Hörerfahrung, die ja wieder neue bringen kann.
Und so kommen mir solche verordneten Kontaktenthaltsamkeiten – wie zur Zeit – gut zupass.
Ich fahre/radle/wandre – also bin ich. Unterwegs in Parallelwelten.
Die Umgebung verknüpft sich mit der Innenwelt.
Äußere Reize provozieren innere Auseinandersetzung.
So wurde ein anfangs idyllisches Waldstück, irgendwo in der ehemaligen Grafschaft Ruppin, die Fontane (sogar durchaus lesbar) beschrieb, nach ein paar Schritten zur Wüstenei. Das sonderbare daran: Der Weg als Schicksalsscheide. Auf der einen Seite all die Baumstümpfe und Astskelette und auf der anderen Seite Farn-Idyll und Dickicht.
Links das Schlachtfeld von Verdun und rechts Wald, wie ihn die Romanfiguren Freytags, Heyses, Spielhagens so oft zu durchwandern haben.
Geradezu – immer die nächste Wegbiegung; und das Geheimnis dahinter: Was kommt?
Ein Hünengrab? Eine Gutshausruine? Ein röhrender Hirsch? Oder doch nur wieder -WEG?
Farn, Farn, Farn – keine Autobahn…
Der Kraftwerk-Schneider starb vor kurzem. Deshalb hör ich wieder Bowie. Kannst du folgen? Son of the silent age?
Die Rückkehr des Saurier-Krautes verblüfft. Noch in den 70ern war es massenhaft in allen Wäldern anzutreffen, dann rar wie Edelweiß – und nun? Auf einmal wieder da! Wie die Wölfe und die Adler! Als wolle Fauna und Flora mit mir schrein: Halt! Zurück!
Aber in welche Zeit eigentlich? Es gab nie wirklich Gute.
Vollends beamt mich zwei Kurven weiter eine Hinweistafel zurück in alte Zeiten.
Da war dieses ramponierte Rondell mit Sitzbank und Erklärtafel, von 3 oder 4 Restbäumchen und ein bissl Wildwuchs umgrenzt. Am Ende von „Verdun“, dort wo die Baumleichen exakt gestapelt darauf warten, Laminat zu werden. Muss früher mal ein Rastplatzidyll am Reitweg gewesen sein.
Man erfährt beim Lesen, dass hier ein Vater seinen Sohn betrauerte, dessen Grab unerreichbar war.
Da Vater und Sohn von Adel waren, blieb das Mahnmal nicht erhalten, als die „Neue Zeit“ verkündet wurde und ein junger Staat „Junkerherrschaft“ per Bodenreform beendete. Über deren Notwendigkeit kann durchaus gestritten werden, zumal man wenige Jahre später alle Kleinfelder wieder zu großen zusammentackerte. Was aber damals genauso blödsinnig war, wie heute – ist jene bräsig-blöde Bilderstürmerei neuer Generation, die ihre eigene Dumpfbackigkeit schützen will vor Information und Denkanregung aus älterer Zeit.
Wie sagte einst ein sowjetischer Zonenkommandant als ein wildgewordener Tischler, kraft seiner Wassersuppe, beschlossen hatte, das Kyffhäuserdenkmal sprengen lassen zu wollen:
„Nitschewo! Das neue Deutschland muss lernen, mit seinen Denkmälern zu leben!“
Dies kleine Ding hier im Wald brauchte zur Beseitigung kein Dynamit, mithin keine Anfrage an “die Freunde“ und somit kam es abhanden, wie sovieles andere auch, was nach 1990 wieder auferstand.
Die kargen Zeilen der Stele, die nun auf jener ärmlichen Hinweistafel von 2009 wieder zugänglich gemacht wurden, geben mehr her, als dasteht. Für den, der’s wissen will:
Ein Garde-Dragoner war er. Jener Tote von 21 Jahren! In Pinsk, damals Ostpolen, heute Weißrussland. Kavallerist im I.Weltkrieg. Die eine Hand am Zügel, die andere führt die Pike/Lanze; im 20.Jahrhundert ! Bei der Formationsattacke gegen Maxim-MGs und Mauserpistolen! So ein Ding hast du auch am Gürtel hängen, einen mehrschüssigen Karabiner im Gewehrschuh, aber keine Hand mehr frei. Super-Strategie!
Pinsk im Februar 1916. Waren da größere Kämpfe? Pinsk ging ab Juni’16 als Schlachtfeld in die Geschichte ein, da war seine Zeit aber schon rum. War es also ein schicksalhafter Patrouille-Ritt, der ihn auf eine Kosakenabteilung treffen ließ? Deren Kavallerie-Speer war standartmäßig 30 cm länger! Also geflohen? Verfolgt worden? Eingeholt – und das erste, was der Verfolger mit seiner Lanze erreichen kann, ist der verlängerte Rücken des nach vorn gebeugt fliehenden Reiters. Ein Stoß durch Nieren, Darm und Magen stoppte die Hatz? Deshalb die Verwundung, von der das Hinweisschild erzählt?
Dann Sturz aus dem Sattel; mit den Wunden in den Dreck? Wieder aufgehoben, quer über den Sattel geworfen, und im Hoppelgalopp hinter die feindlichen Linien? Kann er dort überhaupt noch lebend angekommen sein?
Wie gingen feindliche Lazarette mit Kriegsgefangenen um? Wie lange hielt der arme Kerl da noch durch? Wo mag das Massengrab gewesen sein, in dem er verschwand?
Und daheim: Hat der entfernt und in Sicherheit lebende Vater so detailreich mitgelitten? Hatte er die Phantasie dazu? Oder war er so ein typischer Preuße, wie sie immer beschrieben wurden. In roboterhafter Pflichterfüllung erstarrt? Nassforsch am Herrenabend vom „im Felde gebliebenen Stammhalter“ schwadronierend? Die Zeiten waren danach.

1870
Oder ist das alles falsch. Saß er mit der postalischen „ Verlautbarung vom Heldentod“ in der Hand ganz stumm und wie erschlagen im ehemaligen Kinderzimmer des Sohnes? Unter den Postern aus dem „Guten Kameraden“ von all den edlen Kavalleristen und den Siegen von 1870?
Der Sohn wurde 21. Das war ich auch mal. Ich kam damals aus „meinem Krieg“, der bekanntlich kein richtiger war, körperlich unversehrt nach Hause. Auf mich warteten die 4 besten Jahre meines Lebens. Studium genannt. Mit all diesen Abenteuern, die junge Leute nun mal haben wollen. Für ihn war es vorbei bevor er lebte. Hatte er zuvor wenigstens schon mal ein Rendevouz mit dem anderen Geschlecht? Oder musste er ungeküsst ins Feld?!
Armer Geisterreiter! Du warst bei der Garde, hoch zu Ross; ich war beim Schrutz zu Fuß. Du sehr wahrscheinlich freiwillig. Ich nicht. Aber ich hatte mehr vom Leben. Armer Kamerad. Für dich waren es die falschen Zeiten.

1916
„Vier Jahre Mord! Und dann ein schön Geläute!
Ihr geht vorbei und denkt: Die schlafen fest!
Vier Jahre Mord und ein paar Kränze heute!
Verlasst euch nie auf Gott – und seine Leute!
Verdammt! Wenn ihr das je vergesst!“
(aus „Stimmen aus dem Massengrab“ von Erich Kästner)
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