Karussell `79
oder
die Nachlassverwalter der Rebellion
Im Rahmen dieser Reihe habe ich nach Jahrzehnten mal wieder die 1.LP von Karussell auf den Plattenteller gelegt. Die Nadel senkt sich in die Anfangsrille – – – und ich bin wieder 18, wie damals.
1.“…draußen schwirrn die Gerüchte!“
Dass Cäsar und Jochen bei Karussell untergekommen waren, hatte sich herumgesprochen. Natürlich nicht durch Ost-Medien. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, liefen seit 1977 bereits die beiden ersten Songs „Gaukler Whisky“ und „Lebe“ im Ostrundfunk. Das gleichzeitig noch „Welt im Sand“ entstanden war, erfuhren wir erst per Konzert. Meines Wissens nach lief DER nie im Radio. Die Metapher für auf Sand gebauten /bzw. in den Sand gesetzten Sozialismus war wohl ZU deutlich.
Das Whisky-Lied war nicht gut und auch nicht schlecht, es nervte nur ein bisschen, weil die verordnete Kampagne gegen Alkohol und Nikotin gerade wiedermal so holzhämmernd ungeschickt zu spüren war: Seltsame Zeitgleichheit von „Zigarrettenblues“ (Vroni Fischer&Band), „Blues von zwei falschen Freunden“(Alkohol und Nikotin) von Jürgen Kerth. Gäääähn.
Aber:
„Lebe nicht hinter Glas! Lebe! Die Welt macht Spaß. Lebe! Und lass dich sehn! Im Geschehn.“
DAS hatte es mir angetan! Zum einen tröstet es dich mit 17…18 über die eigenen Liebeskalamitäten hinweg — Zielgruppentreffer par excellence; und zum anderen: Wenn Renft-Erben sowas singen, dann ist das auch ein Akt der Selbstermutigung. Nach so einem jähen Absturz vom „hervorragenden Tanzmusik-Kollektiv“ zum gar nichts … aufrappeln … neue Band ….neue Einstufung …. Alles von vorn!
Sie tingelten seit Sommer’76, dann’77 – und dann ‘78 zur 950-Jahrfeier; MEINEM (kleinen) Woodstock im Saaletal! Nach und nach kamen weitere Titel ins Radio, aber wo blieb die Platte?
Nach jenem spektakulären Konzerterlebnis hieperte nun jeder in meinem Bekanntenkreis nach der LP. Wochenlang hab ich im Plattenladen nachgefragt – bis schließlich – fast ein Jahr später – mich so ein abschätzender Blick der Verkäuferin traf: „Is‘ der‘s wert?“
Dann bückt sie sich, um etwas hinterm Ladentisch von einem Hocker zu nehmen und drückt mir -in Packpapier bereits eingewickelt- ein quadratisches Viereck in die Hand: „Da isse. Sechzehnzehn.“ Glückstag! Ich zückte das Portemonnaie…
Hinterher bekam ich mit, dass die Startauflage besonders klein gewesen sein muss und deshalb zunächst nur an „Schallplattenunterhalter“ verkauft werden sollte. Vielleicht sollte der Blick zuvor auch bedeuten: „Is der DJ? (Nach‘m Berufsausweis zu fragen, ist mir zu blöd.)“
Die Nachauflage gab es sogar erst, nachdem LP Nr. 2 schon draußen war. Ihr Erfolg im Radio ließ die Kulturgewaltigen zucken: Die großen Stückzahlen der Plattenproduktion bleiben für die domestizierten Puhdys reserviert! Und für die braven Karat, für die sich jetzt der Maffay interessiert. Nie wieder so ein Renft-Debakel!
2. „Spiel dein Lied! Spiel dein Lied Gitarrist! Ob es dasselbe noch ist…“
Zuhause pack ich sie aus: Tolle Covergestaltung mal! Selten bei Amiga. Der Karussellschriftzug so ähnlich abstrahiert wie die Buchstaben auf „Renft“(74); ich drehe die Hülle um. Titelverzeichnis checken:
– Autostop! Yep!
– Der Gitarrist. Ja!
– Fenster zu! Jaaaa!
– Ehrlich will ich bleiben! Yeahr!
Alles drauf, was man aus dem Radio kannte. Moment – aber wo ist „Lebe!“?
Scheiße. Hamse uns wieder nicht den vollen Spaß gegönnt! Welcher Bonze hat nun da wieder dran gedreht!
Aber der aufkommende Ärger war schnell verflogen, denn:
Ich las den Hüllentext von Kurt Demmler und stieß auf eine Sensation:
„Sie haben keinen Schneider und keinen Gesangslehrer, kein Lichtgeflatter (…) und keine einstudierten Mätzchen. Sie machen Musik…
Auf der Bühne sind sie 6 Musikanten, sechs Typen, eigenwillig und sich unterordnend:
Cäsar, dessen Gitarre… Jochen,…Hula, …Oschek …usw.“
Der Satzbau, die Wortwahl! Das kannte ich! Aber mit anderen Namen!
Einige Jahre zuvor, so 73 oder 74 herum habe ich beim Friseur ein „Neues Leben“ in der Hand gehabt. Das war so eine Art „Ost-Bravo“, aber bedeutend steifer, weil „unjugendlich“, geschrieben. Und dort entdeckte ich neben einem Renft-Bildchen einen Text, der hätte eigentlich ungefähr so gehen müssen:
„Klaus Jentzsch-Renft und seine Mitmusikanten, die seit geraumer Zeit die Klaus-Renft-Combo bilden, haben sich in der Tanz-und Unterhaltungsmusik unserer Republik einen Namen erspielt und veröffentlichen bereits ihre zweite LP…“
Stattdessen hatte der diesen „für uns unüblichen“ westdeutschen Rann-wantz-Duktus:
„Ich möchte euch 6 Typen vorstellen, Sie heißen Kuno und Klaus, Monster und Pjotr, Cäsar und Jochen. Sie haben keinen Schneider und keinen Gesangslehrer. Sie machen ehrliche Musik ohne Mätzchen…“
Wenn DAS keine Sensation ist! Da hat der Demmler denselben Text nur geringfügig umgestellt! Alle, die sich auskennen, haben’s nun amtlich: „Das sind die neuen Renft!“
Viele Leser kann das „Neue Leben“ nicht gehabt haben. Jedenfalls habe ich nur ein einziges Mal jemanden getroffen, dem es ging wie mir. Eines Tages, so 83 oder 84 herum, rede ich in Leipzig mit Micha über Renft und da erzählt der mir das von dem Hüllentext, und merkt nicht, dass ich die ganze Zeit schon grinse:
„Siehste! Gerade wollte ich dir das Gleiche erzählen. Das hat mich damals auch sofort umgehauen!“
Die Platte stellte eine gelungene Staffettenstab-Übergabe dar. Die Songs sind mitgewachsen. Sie funktionieren noch immer. Bis auf „Tanzen“. Der funktionierte nie! Ist genauso ein Fremdkörper wie „Susann“ auf der zweiten „Renft“. Da wär‘ Platz gewesen für „Lebe“!
3. „…doch die Schlacht wird viel viel länger sein!“
Der Titelsong ist ein Großwerk, mit einem Meistertext vom Demmler. Das Spiel mit den Paradoxien: In alter Renft-Tradition geht’s um die großen Fragen des jungen Erwachsenen, der noch nichts ist, dessen innere Kompassnadel noch kräftig pendelt.
„ …und es werden Frau und Kinder sein, oder eben Einsamkeit.
Niemals fiel mir im Traume ein: Beides wär zur gleichen Zeit!“
Individuelle erste Lebenserfahrung. Aber wie weiter? „Zwischen Liebe und Zorn“(Renft), „entweder oder“(Karussell) „Also was soll aus mir werden“(Stern Meissen). Songs über sich verflüchtigende Ideale. DAS Thema im Ostrock.
Der „Gitarrist“ im Anschluss gehört ebenfalls in diese Songfamilie, ist Cäsar auf den Leib getextet. Sinnkrise des romantischen Idealisten: Nu biste 30. Wie lange willste noch den Rebellen vor kleinen Jungen geben? Was macht der Rocker, wenn er nicht als Klampfer eines wirklichen Tanzorchesters enden will? Hält dir Jo Kurzweg schon einen Platz frei?
„Spiel dein Lied! Spiel dein Lied Gitarrist! Ob es dasselbe noch ist?! Jenes Lied vom Dach. Doch es schläft ganz tief. Du kriegst es nicht mehr wach!“
Und auch der da vor den Boxen merkt: Ja, Junge! Verrenn’ dich nicht! Du wirst nicht ewig ticken wie mit 17/18!
Interessanterweise sollte die Zerrissenheit des zweifelnden Rockers durch Stereoeffekte unterstrichen werden, was allerdings misslang. Der Song hört sich wie eine Fehlpressung an, weil da in der Mitte mal die eine-, dann die andere Box ausfällt.
Um „Autostop“ wurde in Studentenkellern viel gestritten: Renft-Song oder nicht. Beides stimmt. Heute wissen wir nun dank der Archivmaterial-CDs. Es gab 1975 ein nicht so richtig zuende komponiertes Lied gleichen Namens mit deutlich anderen Versen Die Karussellversion ist somit die textlich und kompositorisch verbesserte Endfassung.
„Fenster zu!“ war ein Knüller der Zeit! „…. Draußen schwirr‘n die Gerüchte! Machen gern Zweisamkeiten zunichte! Baby von dir sprang eines mir soeben in das Ohr! Oh nein-nein-nein, ich geb nichts drauf. Ich wär ein Tor!“ Filigran gespielt, als wär’s ein Minnelied von Branduardi, dessen „pulce d’aqua“ gerade für Aufsehen sorgte. Cäsars zärtlicher Bariton lässt es wie ein Liebeslied erscheinen und bringt es durch die Zensur, aber:
Tja. Aber berühmte (gestreute) Gerüchte waren auch, dass Renft Staatsfeinde gewesen sein sollen, die die Republik gefährdeten. Oder dass Luis Corvalan ohne Austausch „freigekämpft“ worden sei. Oder dass die Musik von Kiss „Rockfaschismus“ wäre! Oder dass von oben verordnete Friedenslieder den Weltfrieden retten würden! Oder das Punk wirklich DIE Musik sei, vor der uns unsere Eltern immer gewarnt haben und der Imperialismus die Jugend auf den neuen Faschismus vorbereiten will. Aber dass der weltweite Sieg des Sozialismus unmittelbar bevorsteht.
„Kille-kille-über diesen Witz kann ich nicht lachen…“, könnte man da mit Renft-Zitaten Paroli bieten und im selben Fettnapf enden, wie die. Schnauze halten war klüger! – Und neben dir, vor dir, hinter dir – irgendwo sitzt immer einer, der wie du Blickkontakt sucht und ebenfalls die Augen verleiert, wenn offiziell solcher Rotz verkündet wurde!
„Irgendwann will jederman raus aus seiner Haut! Irgendwann denkt er dann. Wenn auch nicht laut.“ (Renft/Pannach)
4.Das trojanische Pferd
Die Grübelmaschine in mir schlägt noch einmal die alten Schlachten, während „Tanzen“ und „der weite Weg“ laufen, dann folgt das Schlusslied der B-Seite. Karussells „Besinnung“. Und damit auch die Schluss-Pointe:
Seit den frühen Tagen der Skandalbesetzung von Renft geisterten zwei harmlose Liedchen der Band, gesungen von Cäsar, durch den Äther: „Sehnsucht“ und „Besinnung“. Nun gab es das eine von beiden auf ner Platte – unter dem Logo einer anderen Band.
Aber: Vielleicht ist das ja genau DIE Fassung? Die von damals. Knappe Ressourcen; auch an Studiozeiten. Warum nochmal aufnehmen, was gut gemastert doch schon vorliegt? Spielen also Kuno, Pjotr, Klaus usw. geisterhaft hier ihren eigenen Memorial-Song?
„Wenn das Lied endet, das sich nun enden will – seid noch ein Weilchen mit mir still…“
Schweigeminute. Remember ZDF-Special. Remember Ottoballade! „Ach könnt‘ ich mit an deren Sonne baun!“
Klack, der Tonarm hebt sich. Ich streiche mir durch den Bart; und die grauen Haare, die dabei in meinen Fingern hängen bleiben, erinnern mich daran, dass nicht mehr 1979 ist. Ich hänge den Klängen noch eine Weile nach. Einmal mehr wird mir bewusst:
Nie wurde ein Kult mystischer gepflegt, als mit dieser Platte.
©Bludgeon
Wird Zeit, mal Danke zu sagen für diese unglaublich interessante(n) Geschichte(n). Für die zeitnahe Wahrnehmung von Renft (und des Drumherums) bin ich vielleicht vier oder fünf Jährchen zu spät geboren und dann auch zu „staatstragend“ aufgewachsen. Karussell und deren erste beiden Scheiben mochte ich allerdings auch. Meine Annäherung an Renft folgte später sozusagen „rückwärts, in den 90ern war ich bei verschiedenen Konzerten der Renft-Erben (ich nenne das mal so) in der Besetzung mit Klaus, Kuno und Pjotr, aber ohne Monster, oder Cäsar & Spieler, wobei ich manche CD mit teilweise historischen Aufnahmen erstand. Ein wirklich faszinierendes Stück deutscher Geschichte, in jeder Hinsicht. Also vielen Dank nochmal, ich habe viel gelernt.
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Ganz ähnlich. Mein erstes Konzert mit irgendeiner Renftnachwehe war die Klaus-Renft-Combo 1998 oder so. Neustrelitzer Theater. Herrlich witzig von Kuno durch den Abend geführt. Ohne Monster. Der hatte zeitgleich Monsters Renft, diesen oberpeinlichen Split. Die “Als ob nichts gewesen wär“ war gerade erschienen.
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