Siechentrost
Papier gewordener Rock&Roll von 1883
(In der Limburger Stadtchronik fand Heyse eine wahre Geschichte, die ihn inspirierte)
1375, Mittelalter. Irgendwo im Westen Deutschlands. Kirchweihfest oder doch Osterfeuer? Man feiert ein Dorffest in langen Gewändern, die Jungfrauenmähnen in Haarnetzen gebändigt, die Kerle in Hochwasserhosen und Holzpantinen oder barfuß, aber im chicen Sonntagsjäckchen. Und oben im Wipfel der Dorflinde sitzt einer und fiedelt in einer Art, wie du es nie zuvor gehört hast! Die Masse unter dem Baum hört das nicht so, die hört nur Tanzmusik und hopst zufrieden ihre Ländler und Schieber von alters her auf den Takt. Aber einer sitzt dazwischen, der kam gestern erst von langer väterlich verordneter Wanderschaft zurück. Nun führt er erstmals offiziell die „Versprochene“ aus, mit der das erste Wiedersehen am Vorabend leidlich schiefging. Was sein muss, muss sein: Die Ehe ist beschlossen, wie auch die Geschäftsübernahme im Vaterhaus.
Aber hier vor den Toren der Stadt erfasst ihn ein bisher nicht gekannter Strudel frühlingshafter Eindrücke: Die Musik, die Mädchen, Erinnerungen an seine lange Reise übermannen ihn … er wird sich seiner Gänsehaut bewusst und staunt über sich selbst, dass ihn das alles so ergreift.
„Was hat der Geiger da oben gespielt?“, fragt sich der Leser. „Learning the game“? „One way wind“? „Flyin‘ in the arms of Mary“? Ach so. Ist ja Mittelalter. Aber ich will jetzt hier nicht an „Hopsassa jucheirassa“ denken müssen!
Hier wird gerade einer von Tanzmusik geflashed! Nicht von Opernarien, nicht vom Kyrie elaison in irgendeinem Dom! Da fiedelt nur einer oben im Baum und rührt dem da unten das Herz!
Der fragt den Wirt, wer da spielt und erhält die Antwort, das sei der Bruder Siechentrost, der vor Jahren bei der letzten Pest den Sterbenden half. Zum Dank für manche Gesundpflege dort darf er nun nicht mehr unter die Reinen. Und wie zum Beweis ist das Fest aus und der Geiger steigt herab und lässt am langen Quarantänestab seinen Klingelbeutel herum gehen.
Unser Wanderer ist nun noch mehr erstaunt über die Erscheinung des Musikers. Der offene, Autorität ausstrahlende Blick! Die saubere Kleidung! Der hat so gar nichts Verkommenes an sich!
Der Leser fragt sich: Wen hat er da vor sich? Jim Lea? Steve Howe? Leo Kottke? Guy Clark?

Die Heimkehr
Die Heimkehr war ernüchternd ausgefallen. Als er seine „Versprochene“ wiedersieht, ergibt sich: Da passt nichts. Nicht der kleinste small talk will gelingen. Dieser Ausflug vor die Tore der Stadt sollte kitten, was beim abendlichen Wiedersehen zuvor bereits heftig misslungen war. Man wurde daraufhin erzogen: Die heiratest du mal. Aber nun? Und man wurde auch daraufhin erzogen: Du übernimmst Vaters Geschäfte, wenn du wiederkommst! Aber nun?
Unserem Heimkehrer wird schlecht bei der nun klar ersichtlichen Vision des völlig zugetackerten Lebensweges. Der Erkenntnisprozess wird von Heyse so beschrieben, dass man einmal mehr den eigenen Beruf ebenfalls hinschmeißen möchte! Raus da!
Gerhard der Kaufmannssohn tut genau das. Er wird ein Albert Hammond des 14.Jahrhunderts:
My future in the system was talked about and planned,
But I gave it up for music and the free electric band!
Nun ja, die „electric“ denken wir uns weg. Damals ist es eher so die Folk-Schiene von Simon&Garfunkel, die als Assoziation passen würde; oder das Kingston Trio, aber da wär‘ wieder einer zu viel.
Heyse beschreibt den Werdegang eines Ausstiegs. Und gleichzeitig rollt er die Frage auf: Wieso ist es nicht möglich, den Werdegang des Künstlers zu respektieren; ihn für seine erbrachte Leistung angemessen zu bezahlen, eine Einheit zwischen Geschäftswelt und Kultur zu schaffen. Warum sind die, die die Kultur erzeugen, allweil die (halb-)Aussätzigen am Katzentisch?
Gerhard Eschenauer zieht zu Bruder Siechentrost in dessen Hütte vor der Stadt. Er lernt von ihm. Sie achten einander. Die Gesellschaft kämpft um den verlorenen Sohn. Die Umstände spitzen sich dramatisch zu… es wird fies… mehr sei nicht verraten.
Mir kamen all die Künstlerkarrieren in den Sinn, die „von oben kamen“, aus privilegierter Familie – und die alle schmerzhaft ausbrechen mussten aus vorgezeichneten Wegen. Peter Gabriel, Peter Banks, Mick Jagger, Paul McCartney, Tony Krahl, Jürgen Ehle, André Herzberg, …Jürgen Drews. ( Ja, auch er, der Arztsohn, der das Medizinstudium schmiss und unter die Les Humphries Singers- und von da ins „Kornfeld“ geriet. Ende der 70er sang ausgerechnet er, versteckt ganz hinten auf der Nachfolge-LP seines „Kornfeld“-Hits „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder“ vom Degenhardt. Er wusste warum.)
Andererseits verblüfft die Novelle aber auch noch durch etwas ganz anderes: Die Schilderung des innigen Verhältnisses zwischen Siechentrost und seinem Jünger erzeugt im Leser von heute unter Umständen auch den Verdacht, ob Heyse sich hier nicht an das Thema Homo-Erotik herantastet. So in filigranen Andeutungen? 1883 geschrieben? Geh‘ ich da zu weit?
Die bösartige Art und Weise der Häscher, die beiden zu entfremden, ließ mich an Rosa von Praunheims Skandalfilm „Die Alternative“ von 1977 denken. Heyse, Heyse – was hast du da gewagt?!
Frau von Ebner-Eschenbach erklärte „Siechentrost“ zur besten Novelle, die jemals geschrieben wurde. Verblüffend zeitlos wirkt die Handlung auf jeden Fall. Vergleich mal hier (klick).
Mein Heyse-Liebling ist jedoch ein anderes Werk.
Fortsetzung folgt.