Heyse lesen! (I)

Wiederentdeckung eines Gescholtenen

 

„Warte mal ab. Wenn du älter bist, wirst du’s mögen.“

An diesen weisen Spruch der Oma hab ich 2020 schon oft denken müssen. Das Jahr des Umsortierens brach an. Ich lese meine „Bekäufe“ unter völlig neuer Perspektive: Freksa, Spielhagens „Zeitvertreib“; Bücher, die ich einst missachtete, finde ich plötzlich stark. Oder, wie im vorliegenden Fall Heyse: Der langsame Wandel der Wertschätzung beschleunigt sich bei der nunmehrigen Drittlektüre in Richtung Zenit.

heyseHeyse lesen; das begann mit einem unglücklichen Fehlgriff in völlig falscher Erwartungshaltung:

1981 entdeckte ich Spielhagen für mich. Der Eindruck war so ungeheuer, dass ich Nachschub wollte, aber das war so eine Sache damals ohne ZVAB und in der größten DDR der Welt, die alles, was nach Prachtausgaben aussah, eh in den Westen verscherbelte, um die Schuldenlast mit Peanuts zu lindern.

Ich dachte mir also: Heyse ist Zeitgenosse gewesen, vllt ist das ja eine ähnlich spannende Entdeckung.

Immerhin war ich vorsichtig. Im Gegensatz zum gesuchten Spielhagen lag Heyse massenhaft in den Leipziger Antiquariaten herum. Da gab es scheinbar keinerlei Zensurbedenken und keine Devisenerwartungen in Westdeutschland. Es wäre ein Leichtes gewesen sich für 20.- M mit einer 5bändigen Ausgabe „Ausgewählte Werke“ zu versehen. Eine 10bändige hätte dann eventuell 30.-M gekostet – aber: wenn das am Ende doch eher so einer wie Fontane ist, dann bekauft man sich da mit einem halben Meter Altpapier! So dachte ich, 21-jährig und Pflichtliteratur geschädigt. („Effi-Trauma“)

Also wählte ich nur einen besonders preiswerten Einzelband mit ein paar Novellen aus. 4,50 M oder so.

(Heute bekommst du Heyse komplett auf E-Book für 1.- Euro. Kultureller Untergang nimm deinen Lauf!)

Die erste Novelle hieß „L’Arrabbiata“; Leseresultat: Fontane 2. Nix los. Das Buch flog auf die Seite.

Mutter fand es in meinem Zimmer.

„Oh? Du hast Heyse ausgegraben? Den mochte meine Oma. Von dem stand zu Hause einiges im Bücherschrank deines Urahnels.“

Huch? Wenn da ein Vorfahrensbezug hereinstrahlt – äh – sollte man da doch noch eine zweite Novelle antesten? Erstmal nicht. Wenn man 21 ist, da ist jede Menge los. Frühling war vermutlich auch grade. Die Liebe, Plattendeals, Lesetipps der Raumteiler im Wohnheim, Bückewarebeute aus der MHO warteten darauf, gelesen zu werden – ach ja, und‘n bissl studieren muss auch noch sein.

Zeitchen verging. Absolventenverbannung. Nix los an der polnischen Grenze. Lesenachschub Mangelware. Da lag ja noch der Heyse … kurz vor der Wende las ich ihn. Durch! In Erinnerung blieb: Melancholische Stimmungen eines Hauslehrers, der in Krain(Österreich-Ungarn) durch die Berge pilgert, um eine neue Anstellung zu finden und sich verliebt… Seufz….nicht übel, gelesen im Krain/DDR sozusagen… aber verheiratet und Vater war ich ja bereits. Eindruck machte deshalb eher „Der Centaur“, der in anderen Ausgaben auch „der letzte Zentaur“ heißen kann. Eine vielschichtige Parabel auf den Wechsel aller Moden, auf die Unverständlichkeiten der Partnerwahl zwischen Männlein und Weiblein, auf die wankelmütige Volkseele, immer bereit denjenigen, mit dem man gerade feiert ein paar Momente später lynchen zu wollen. Denkpulver vom Feinsten. Aber: Wer kann heute schon noch was mit Zentauren anfangen, wenn er in seiner Jugend keine reichlichen Ferien am Zentaur-Brunnen in Frohburg zu verzeichnen hat? Gesprächspartner über diese Kulturbombe find’ste also eher nicht.

Somit war das Ergebnis dieser Erstlektüre nicht schlecht, aber auch nicht suchterzeugend.

Immerhin blieb übrig, dass Heyse zu überraschen weiß. Dass dich da mitunter Situationen anspringen, die dir „heutig“ erscheinen.

„Siechentrost“ z.B. ist niedergeschriebener Rock&Roll! (Davon später mehr.)

davEnde der 90er öffneten sich mir die Tore des Internets. Amazon warb damals noch ausschließlich für Bücher und pries sie allen Ernstes nach Gewicht an!  Also erfuhr ich: Es gibt da was vom Heyse im Schweizer Manesseverlag. 50g! Ein kleines dickes in Leinen gebundenes Taschenbuch. Ich bestellte es folgerichtig lieber im Buchladen, um mal ins Inhaltsverzeichnis schauen zu können: Es begann mit der „L’Arrabbiata“; wie konnte es anders sein. Auch der „Zentaur“ war mit von der Partie, aber den Rest kannte ich nicht. Ich nahm’s und landete einen Treffer. (Superinformatives Nachwort!) Bei aller Melancholie blitzte hier auch der provokante Autor auf:

(Ein Jahrestreffen der gebildeten Häupter der Stadt:) „Grüßen Sie mir die Universitas, die ihren Namen wie lucus a non lucendo führt, indem jeder sich dort sorgfältig hütet, sich mit dem Universum zu befassen…(Nachworterklärung: Quintilian stellte die Behauptung auf, dass einige Begriffe von ihren Gegenteilen stammen; Wald wird „Wald“ genannt – von „nicht leuchtend sein“.)

„Gespräche mit Akademikern, deren Titelnennung schon den wertvollsten Teil ihrer Kommunikation ausmacht….“ Yep! Blender sind im Dutzend billiger. Borniertheit immortalis est.

Dann entdeckte ich das ZVAB. Eine Spielhagenschwemme war die Folge. Endlich! Jahrelanger Genuss! Dann die Besinnung auf Heyse. Tja: Die Unkonkretheit der Angebote ließ immer nur ahnen: Inhalt 10 Novellen; 12 Novellen; 50 Novellen… aber keine Titelübersicht; keine Fotos vom Buchzustand…Das Darben ging weiter.mde

Einen Band bestellte ich schließlich auf gut Glück. 8 Novellen. Die erste hieß: (Sie ahnen es!) „L’Arrabbiata“. Ächz. Einzige Überlappung mit Manesse! Vor allem „Anfang und Ende“, „Im Grafenschloss“ und „Unheilbar“, drei lange Prosatexte der Marke „Meistererzählung“, ließen mich voll auf meine Kosten kommen. Zumal „Im Grafenschloss“ erkennen lässt, dass Heyse Spielhagens „Problematische Naturen“ gekannt haben muss.

Heyse hat so einiges mit Spielhagen gemein:

Die Lebensdaten sind fast dieselben: Der eine 1829 und der andere 1830 geboren; der eine 1911 und der andere 1914 gestorben.

Beide werden für die damaligen Zeiten „zu alt“. Ihre Kampfgefährten sind längst tot, als sich die „Jungen Wilden“ der Kunstszene auf sie stürzen, um sie wegzubeißen. In Kontakt stehen sie nicht. Also resigniert jeder für sich allein. Nur fällt für Heyse inmitten aller Anfeindung schließlich noch ein Literatur-Nobel-Preis ab. Der erste überhaupt, der vergeben wurde!

Dieser Tage hat man mitunter, so man nicht die Kleeblätter im Rasen zählen will oder in endlos nichtigen Telefonaten die Seuchen-News wiederkäut, nichts Besseres zu tun, als Gutes, Altes, Bewährtes wiederzulesen: Deshalb nun Heyse 3.0!

Der Mann ist ein Phänomen auf den zweiten oder dritten Blick gewesen! Ein Anachronismus schon zu Lebzeiten, der jedoch immense Erfolge feiern konnte, bevor die Bilderstürmer kamen.

Was zieht mich heute, mit 60, zu diesem „alten Kram“? Zum Teil wirklich das, was mich mit 22 und 28 noch abstieß:

Seine eingehenden Milieuschilderungen, die oft erst treffend und ausführlich bissig bloßstellen, werden stets durch Rückzieher gezähmt. Er kriecht zu Kreuze, dachte ich früher. Er macht das geschickt, sage ich heute: Gerade noch „salonfähig“; denn die Kritiken sind allweil umfassender, heftiger und einprägsamer als die Rückzieher.

Er gibt zu erkennen, besonders im „Zentaur“, dass er Zeiten nachtrauert, die vor seiner Geburt lagen und die ihm künstlerisch irgendwie besser, freier, elitärer erschienen: Das klassische Weimar, der bonapartistische Aufbruch, die künstlerischen Freiheiten der frühen Romantik. Realismus ist ihm fast schon Naturalismus und somit ein tendenziöser Graus. Nichts desto trotz schreibt er immer realistischer. Das Massenphänomen „Einheitswille“ ist ihm zuwider, „die Masse“ zu blöd. Er ahnt, dass Verpreussung der Preis wäre und es kulturell entweder ewig biedermeierlich weitergeht oder sogar noch philisterhafter werden könnte. Dann muss er erleben, dass er wirklich recht hatte.

Er ist gebürtiger Berliner, aber lieber Wahl-Bayer, der viele seiner Meisternovellen entweder im Rheinland oder in Italien ansiedelt. Im spießigen Nachmärzdeutschland lebt sich‘s für phantasievolle Schöngeister außerhalb Preußens freier.

Das unterscheidet ihn von Spielhagen, der die Lage zwar ähnlich kritisch sieht, aber eben auch die wirtschaftlichen Konsequenzen einschätzen kann, die die fehlende Einheit nun mal mit sich brächte. Spielhagen sieht die Reichseinigung deshalb nüchtern als überfällig an.

Spielhagen ist darüber hinaus eher ein „freischwebender Gipfel“ geblieben; ein intelligenter Einzelgänger, der sich einladen lässt, aber nicht selber „netzwerkt“, wie man heute sagen würde.

Heyse dagegen ist schon vor seinen ersten Erfolgen Mitglied eines Dichterclubs in Berlin, erhält ein befristetes Stipendium und begibt sich somit auf Goethes Spuren wandelnd nach Italien. Immerhin sammelt er hinterher keine Steine, sondern Künstlerfreundschaften mit k.u.k. Künstlern, wegen des laissez faire feelings. Die Donaumonarchie besitzt bis 1866 noch große Teile Norditaliens.

Er wird dann dank Geibel-Fürsprach Stipendiat des bayrischen Königs Max II., der gerade „Dichter sammelt“; und da München noch keinen Dichterclub hat, gründet Heyse einen. Er ist also immer umgeben oder in Briefkontakt mit Hochkarätern der Zeit: Geibel, Keller, Dahn, Storm, Raabe … Man tauscht sich aus, liest sich „Unfertiges“ vor und nimmt Tipps zur Kenntnis. Es wäre hochinteressant, heute herauszufinden, welche Handlungsdrehung in Storms „Pole Poppenspäler“ zum Beispiel eventuell auf Heyse zurückgeht, oder ob dessen „Unheilbar“ seine Schluss-Pointe eventuell Raabes etwas abseitigem Humor verdankt. Außerdem fördert man Newcomer wie Frau von Ebner-Eschenbach und Ludwig Ganghofer.

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Seine Romane floppen. Aber seine Novellen werden gepriesen und eilen von Auflage zu Auflage.   Allen voran – (sie ahnen es?) –  die „L’Arrabbiata“! So verlagert er den Schwerpunkt. Er wird der „Novellenschmied“; Kopf an Kopf mit Storm.

Allerdings hat er publikumswirksamer als dieser die Nase vorn, da er sich geschickter zu vermarkten weiß, kein knorriger Sonderling ist, sondern als nett plaudernder Gastgeber auch dann Hof zu halten weiß, wenn unter den Gästen gar keine Kollegen anwesend sind. So gewinnt er Hinz und Kunz, auch einflussreichere Vertreter, die ihn in Schutz nehmen, wenn Tugendwächter Amok laufen wollen, gegen „eine Tendenz zu erotischer Unmoral“ in Heyses Schaffen.

Nach Goethes Tod 1832 ist der Dichter-Thron verwaist. Die „gebildeten Kreise“ können diesen Zustand nicht ertragen. Wer wird „Thronfolger“?

  • Gustav Freytags Sensationswerk über den Fleiß des deutschen Bürgertums „Soll und Haben“ und seine Breitbandgenialität als Theaterdichter, -analyst, Romancier und Journalist scheinen ihn für’s Siegertreppchen zu empfehlen.
  • Spielhagens Sensationsroman „Problematische Naturen“ macht zwar viel Wirbel, aber dem Autor fehlt die Gabe „sich beliebt zu machen“.
  • Wäre noch Heyse. Aber ihm fehlt der Groß-Roman, der Aufsehen erregende Meilenstein. Er ist nur der Meister der kleinen Form. Aber er ist DER Selbstdarsteller, bald schon, die „Graue Eminenz“ oder gar der „Nestor“ der deutschen Schriftstellerei mit der ausgedehnten Korrespondenz. Keine Novellen-Anthologie der Zeit ohne – (Klar!) – die „L’Arrabbiata“. Hin und wieder beweist so ein Verlags-Kollektor auch mal Mut und wählt stattdessen „Siechentrost“ oder den „Centaur“ als Beweis für Heyses Meisterschaft.

Fontane schließlich hinterlässt die Prophezeiung, dass man vom späten 19. Jahrhundert als „Heyse-Zeitalter“ sprechen wird. Leider lag er falsch.

6 Gedanken zu “Heyse lesen! (I)

  1. Heyses Romane „floppten“ zu ihrer Zeit keineswegs. Im Gegenteil, „Kinder der Welt“ war ein großer Erfolg. Heyses Romane wurden im Zuge der Thomasmannisierung der Literatur durch Dekadenz, L’art pour l’art und alle Arten Ichbezogenheit verdrängt. Der Romanschreiber Heyse ist der Bruder von Spielhagen, der Novellist Heyse der (bis heute gefeierte) Vorgänger des Lübecker Pädophilen.

    Der Umzug nach München war für Heyse (und Thomasmann) eine Katastrophe. Gewiß, es gab dort den antipreußischen Liberalismus, aber kaum Arbeiter, keine Sozialisten und Anarchisten.

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  2. Thomasmann auch nicht. Aber es hätte ihrer Schreiberei neue Impulse gegeben, die einen Münchener Villa oder gar eine am Gardasee nicht zu bieten hatte. Spielhagen ist dafür ein Beispiel.

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    • Naja, nicht unbedingt nötig, dass alle den gleichen Acker pflügen. Mann hat immerhin für Dr.Faustus“ Kaisersaschern (sprich: Naumburg) entdeckt und Heyse hätte in Prenzelbergwohnlöchern keinen Zentaur erfunden. Also eigentlich lief es in dieser Hinsicht prima.

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  3. Muster ohne Wert. „Doktor Faustus“ soll die Wurzeln des Nazismus zeigen, aber aus „Was will das werden?“ lernt man dazu tausendmal mehr. Die Mörder haben in den seltensten Fällen Wagner gehört und Nietzsche gelesen, aber viele wurden so wie „H.H.“ von Modernisieren = Spekulanten vertrieben oder haben wie Prof. Hunnius ihre Ideale verraten.
    Thomasmann habe ich aufgegeben, aber auf Heyseentdeckungen bin ich gespannt.

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    • Gemackssache, ob man Dr.Faustus so sehen will, oder als Aufarbeitung des eigenen(Mann’schen) Fan-tums, dessen sich Th.Mann nach 1920 bekanntlich geschämt hat: Aber: erst seit 2 Jahren gibt es eine Nietzschebiografie, die versucht geradezurücken, was dessen antisemitische Schwester alles versaut hat. Wir haben also ein jahrzehntelanges falsches Nietzschebild.
      Andererseits hatte das dt.Bürgertum um 1900 einen kurios unpolitischen Hang zum Größenwahn, der traumatisiert nach 1918 bereit war, sich verführen zu lassen zu noch grellerem Revanche-Gehabe.
      Ach, ein viel zu weites Feld. Hab einfach keine Lust mehr, ständig in dieser Nazi-Soße zu rühren.
      Heyse ist ein unpolitischer Traumtänzer mit einer extrem genauen Beobachtungsgabe, die dazu führt, dass er zu erstaunlich treffenden psychologischen und soziologischen Ablaufschilderungen in der Lage war. Man lernt bei ihm, wie bei Spielhagen auch, wie damals gedacht wurde.

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