Die nächste Lesesensation ist ran:
Stell dir vor, du bist 35 Jahre im selben Beruf: Die alten Erfolgsrezepte beginnen zu versagen. Bewährte Kollegen und Freunde haben sich bereits in die letzte Daseinsstufe oder gleich ins Jenseits verabschiedet. Die jungen Wilden schnappen nach deinen Hacken: Mach dich weg!
Die Medien erzählen das Märchen von den Erfahrungen, die ach so unverzichtbar sind – wie so oft fernab der Realität. Analogzeitschlachten werden keine mehr geschlagen. Die Herstellung des Faustkeils ist Geschichte und Geschichte ist – mega-out.
Da entdecke ich dieser Tage ein Werk meines Literatur-Gurus Friedrich Spielhagen neu. Völlig neu.
Bisher rangierte es nach meiner Wertschätzung in der Schlusslicht-Gruppe seiner Romane; seit neulich ist es ins Mittelfeld vorgerückt. Der Leseeindruck ist ein anderer nun, weil:
Ihm gings wie mir!
Spielhagen veröffentlichte 1897 „Zum Zeitvertreib“, exakt 35 Jahre nach seinem so phänomenal erfolgreichen Erstauftritt von 1862 mit – BÄM! – dem voluminösen Zeitroman von den „Problematischen Naturen“ einer aufstrebenden Generation!

Damals war’s: Melitta!
„Zum Zeitvertreib“ ist in allem das Gegenteil: Kurz und hoffnungslos.
Die magischen 35! Da will viel Lebenserfahrung so recht Hoffnung nicht mehr aufkommen lassen. Einst gefeiert, verehrt, steht er nun im Mittelpunkt einer Rufmordkampagne. Seit 10 Jahren bereits angefeindet, betuschelt, verleumdet, verklagt. Von den gleichen Leuten, die ihn gestern noch hofierten, ihre Abendgesellschaften mit seiner Anwesenheit schmückten!
Vereinsamt durch den Tod seiner Freunde, fühlt er sich wie an die Wand gestellt:
Was will das werden? Aber den Buchtitel hat er 1885 schon verbraucht. Die Zeichen stehen auf Sturm. „Neuer Kurs“ heißt der Politikstil, der uns heute sehr an Trumps Wirrwarr erinnern würde, hätten wir die damaligen Fakten noch drauf. Außerdem ist da ein neuer Antisemitismus am weben, in verborgenen Nischen zwar, aber mit kaiserlicher Billigung und einem dummdreisten Hofprediger Stoecker an der Spitze.
Nirgends mehr „Formatmenschen“ wie Lasker und Bismarck auf Posten. Nur noch karrieregeile Fassade-Fratzen, die sich elitär dünken, sobald sie ein „von“ im Namen haben. Die mit all ihrer Tischsittenfolter und Konversations-Korsetten sich jedoch selbst den Käfig bauen, der sie zur Doppelmoral zwingt, wenn sie trotzdem noch irgendwie ein bisschen natürlich „leben“ wollen.
Er will diesen Käfig darstellen. Aber wie?
„Der Realist soll in seinen Werken jedwede Tendenz vermeiden und den Alltagstoff wahrheitsgemäß, aber entschlackt, nie derb, also veredelt abbilden.“
Soweit war er mit Kollege Fontane immer d‘accord. Aber jetzt? Wenn vor lauter Schlacke keine Substanz mehr zu existieren scheint? Die Naturalisten sind beiden ein Graus und in deren Augen sind sie beide die letzten Überlebenden einer aussterbenden Art. Aber hat dieser Gerhard Hauptmann nicht recht? Wer gibt sich denn noch Mühe, feinziselierte Kritiken in Sprechenden Namen von Romanfiguren und paradoxen Standpunkten in Dialogen zu erkennen? Ist die Zeit nicht reif, die Dinge beim Namen zu nennen, wie Hauptmann das in „Vor Sonnenaufgang“ tut: Neureiche Primitivität in Oberschlesien. Suff und Inzucht. Kranker Nachwuchs.
Ist das „tendenziös“? Oder ist das – WAHR!
Weg mit den Scheuklappen! Hat sich was mit Happyend! So wie die Dinge laufen, nimmt das in absehbarer Zeit kein gutes Ende. Alle Mahner, alle ausgewogenen Typen werden kaltgestellt: „DRAUF!“ ist die Parole der Zeit. Und „Draufgehen“ die Konsequenz..
Und so schrieb er einen Roman, der so ganz anders ist als alle vorherigen und auch die 5 späteren, in denen er als „Schuster zu seinen Leisten“ zurückkehrt.
Gern wird behauptet, „Zum Zeitvertreib“ habe wie Fontanes „Effi Briest“ denselben realen Hintergrund der Ardenne-Affäre, die per Duell gelöst wurde. Das sah ich bis neulich auch so, quatschte es einfach nach. Nur ist das reale Duell 1897 15 Jahre her. „Effi“ erregte die Gemüter 1895, das Erregungspotential der Ardenne-Geschichte scheint mir nun aufgebraucht.
Es geht Spielhagen nicht um eine Mitleidgeschichte. Auch nicht um die „Frauenfrage“. Es findet sich im ganzen Buch eh keine Figur, mit der man sich freiwillig identifizieren möchte.
Es geht vielmehr um die Fratzenhaftigkeit all der gesellschaftlichen Abläufe, deren Teil Spielhagen selbst nun 35 Jahre lang war.
Eine Abendgesellschaft jagte die andere. Salon-Lesungen. Audienzen bei Hofe. Alles ohne „von“! Arrivierter Chef-Denker? Dichterfürst? Akzeptierter Ausnahmevertreter? 35 Jahre lang auf Messers Schneide, kritisieren ohne zu verletzen, herumkomplimentieren, um Verbindung zu halten zu einflussreichen Kreisen. – Um am Ende dann der bekicherte „Judenfreund“ zu sein, der dem Lasker und dem Auerbach die Treue hielt, über deren Tod hinaus. Auch als der Wind sich drehte, als dieser junge Katzenbart mit dem kurzen Arm das Sagen bekam, oder gerade deshalb! Als der Offizierskasino-Schmäh zu Weltpolitik wurde.
Säbelrasseln ist kein Nachweis von Gehirntätigkeit!
Vor 15 Jahren fehlten mir in „Zum Zeitvertreib“ fast alle bewährten Bestandteile Spielhagenscher Erzählkunst. Hier heimelt nichts an. Nach dieser Lektüre hast du keine Lust, die Originalschauplätze zu besuchen. Du überlegst nicht, ob Namen des Figurenensembles für heutigen Nachwuchs zumutbar wären. Du glaubst, einen Schnellschuss zu erkennen, der eben nicht traf. 22 Romane, einer fetzt nicht – was soll’s!
15 Jahre weiter werden dir die Ränder des Erzählten plötzlich zur Hauptsache. Neue Erkenntnis bahnt sich an:
Es sollte nicht anheimeln! Es sollte schocken! Was Hauptmann kann, kann Spielhagen mit links!
Stimmt! Aber von Elvis erwartet man keinen Punk, von YES keinen Gangster-Rap. Und so ging das Werk gleich in doppeltem Sinne bereits 1897 unter: Kein typischer Spielhagen. Ein Aufguss der „Effi“ – nur andersrum, der Crampas ist hier die tragische Hauptfigur. Falsch!
Hier geht es nicht um das Eheproblem verkuppelter Mädchen. Wichtiger scheint mir die Darstellung all der Schwadroniererei, der gönnerhaften, leeren Versprechungen bei den abendlichen Soireen, des scheinheiligen Lobhudelns von Dingen, die man eigentlich verachtet. All das „Unechte“, aber „Schickliche“. Kitsch, der für große Kunst gehalten wird. Falschheit, wo du gehst und stehst! Jeder weiß vom anderen, dass er das nicht meint, was er grade sagt. Aber das verlangt die Contenance!
Die „Buddenbrooks“ in kürzer. Oder: Die männliche Hauptfigur des Albrecht Winter als eine vorweggenommene Variation des „Wanderers ins Nichts“.
Hauptmann von Meerheim, der einzige Positive im Figuren-Pool, dringt mit seinen klugen Ratschlägen nie durch. Der Ehrliche – als Randfigur. Ein Alibi-Gesicht, mit dessen Bekanntschaft „die Gesellschaft“ sich gerne schmückt, sonst nichts. So wird von den anderen viel verspielt, ohne Notwendigkeit. Ein Menetekel.
Und auch diese Ebene sei noch angesprochen: Spielhagen denkt zuende, was geschehen wäre, wenn er „den anderen Weg“ gegangen wäre, den nicht so bescheidenen, abenteuerlicheren. Kurze Freuden, schneller Tod. Tiefenpsychologisch betrachtet ist der Roman eine Selbstanalyse. Die tragische Hauptfigur Albrecht Winter, der „mit allem bricht; dessen Aktionen aber keine Blüten treiben“, ist das langzeitverdrängte innere „Ich“ des Autors.
(Ich verkneif mir mal das weiter Spoilern. Der Roman ist noch antiquarisch erhältlich. Vielleicht interessiert es ja doch noch den ein- oder anderen Nischenbewohner da draußen.)
Das Werk endet mit einem – perfekt in Szene gesetzten – Fluch.
Und Tränen.
Der bisherige Ertüftler so vieler filmreifer Happyends hat mit 65 Jahren eben auch –
die Schnauze voll!
Ich habe Fontane geliebt. Seine Beschreibung des verschneiten Oderbruchs in Vor dem Sturm oder der Gärten der Wutzer Stiftsdamen im Stechlin gehören zu den intimsten Stellen der Weltliteratur.
Ich liebe Fontane noch immer, auch wenn ich heute weiß, dass er schwach bis zur Schlechtigkeit war; missgünstig, neidisch und falsch. Er entfloh dieser Schlechtigkeit in ein Traumreich, in dem der Hurenhaushalt der Witwe Pittelkow in der Invalidenstrasse wie eine Jungfernkemenate wirkt und tumbe Landjunker als geistsprühende Aristokraten erscheinen. Wie verlogen ist das Märchenende von Jenny Treibel, wo ein Märchenprinz in Gestalt eines Archäologen aus dem Boden wächst und Corinna ins Morgenland entführt!
Bei Fontane ist der MÖRDER Innstetten so fein; der doofe Papa, der zuließ, dass seine Frau ihre Tochter an ihren alten Galan verheiratet, erscheint als liebenswerter Trottel und Effi selbst ist glücklich, dass sie eine luxuriöse Aussteuer bekommt und mit achtzehn schon „Frau Landrätin“ ist.
Und das erklärt eine Blase von Literaturprofessoren, Kritikern und Deutschlehrern zur „realistischen Literatur“. Legionen von Fontanebiografen, die von ihren Vorgängern abschreiben und dabei „modernisieren“, indem sie die Verweise auf Heyse und Spielhagen weglassen, weil die eh keiner mehr kennt.
Nein, der große Realist und scharfe Ankläger der Gesellschaft seiner Zeit ist Friedrich Spielhagen. Aber in Einem muss ich widersprechen. Spielhagen zwang mich, mich mit dem unglücklichen Albrecht Winter zu identifizieren, ich habe mit ihm Klotilde geliebt – und gebangt: Klappt das Rendezvous?
Zum Zeitvertreib könnte auch heute spielen: Ein Lehrer mit einem selbstverfassten Roman in der Schublade, der seine Kinder und seine Frau verlässt – für eine mondäne Dame, vielleicht eine Schauspielerin, in die er sich verliebt. In die Liebe mischen sich unreine Elemente: Er hofft, dass sie ihm die abgeschlossenen Kreise der Intelligenzija aufschließt. Aber Klotilde verachtet die Schickeria und will ihr durch Albrecht entfliehen. Und eitle, in ihrer Blase nie erwachsen gewordene Blender, wollen nicht aufgeben, was sie für ihr Eigentum halten.
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Kleiner Ergänzungstipp: „Effi (anfangs) glücklich, dass sie Landrätin ist“.
Dieser Tage entgeht man ja einem gewissen Wendler-Hype nicht. Ist nicht Laura M. eine aktuelle Effi?
(„Egaaaal!“ 🙂 )
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Welcher Spielhagen steht zwischen Hammer und Amboss und Zum Zeitvertreib/Susi? Kann den Titel der zwei Bände leider nicht lesen.
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Sturmflut.
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