Herbstblues. Melancholia.
Neulich saß ich in der schönsten Stadt der Welt in meinem ehemaligen Kinderzimmer und starrte eine ganze Weile ins bunte Kastanienlaub auf der anderen Straßenseite. Der Denkomat sprang an. Wie von selbst:
„Vor unserm Hause da steht ein Baum…“(4PS)
Das ist schon fast das beste an der Wende gewesen: Knapp 10 Jahre lang war die Stadt zur „Modellstadt“ erklärt worden. Der westdeutsche Bürgermeister kannte die Fördertöpfe und so wurde ein Backlash der Spitzenklasse möglich. Große Teile der Altstadt konnten dem Verfall entgehen. Das Bürgergartenviertel konnte wieder auferstehen.
Meine Straße ist davon der Rand. Hier existierten seit den späten 30ern nur eine bebaute Straßenseite mit ordentlich gepflastertem Rundbogentrottoir, Bordsteinkante und – Feldweg. Auf der anderen Straßenseite nur 2 Häuser und Schrebergartenparzellen. Bis 1967. Da vollzog sich eine Masseneinweihung von 10 neuen Einfamilienhäusern, was auch zur Asphaltierung des Feldweges davor führte. Die alte Seite hatte in den 30ern auch Kastanien gepflanzt bekommen, die 1967 auf den 1.Klässler von der neuen Straßenseite wie monumentale Bäume wirkten. 1-2-3-4-Eckstein, alles muss versteckt sein. Deckung gebend in Dakotakriegen oder Partisanenkampf, je nach zuvor gesehenem Ferienprogramm. Leider gingen sie in der Folgezeit Stück für Stück ein. Bis sie zu Beginn der 80er alle verschwunden waren. Das Schicksal schien mir meine Erinnerungsfixpunkte rauben zu wollen.
„Wie ein Baum den man fällt – eine Ähre im Feld….“ Reinhard Mey einmal mehr.
Bei einem Besuch 1993 in der alten Heimat standen plötzlich wieder Kastaniensetzlinge (10-15 Jahre alt) in stützenden Dreibeingestellen auf der Altbau-Straßenseite. Als die Gestelle ein Jahr später beseitigt waren, sah es wieder so aus, wie 1967. Mein Collie markiert nun 30 Jahre später wieder Bäume, wie einst unser „Timpetu“, der Fox-Terrier mit den vielen Namen.
„Steig ich in meine Kinderzeit hinab (…) steigt auch ein Hund aus seinem Grab….“
Komme ich in die schönste Stadt der Welt, komme ich auch in eine andere Zeit. Obwohl das z.B. im klinisch restaurierten, aber -geschäftlich betrachtet- toten Stadtzentrum von Mal zu Mal schwerer fällt. Auf dem Markt ist mittlerweile jedes zweite Haus ein Restaurant.
Buchladen, Spielwarenladen, Eisenwarenladen (mit Modellbauzubehör), Kunstgewerbeladen, Weinhandlung – alles Vergangenheit.
Da war immer Kohlmann auf dem Markt. Die gesamten 40 Jahre der DDR-Zeiten hindurch. Und auch 15 Jahre danach noch unter anderem Namen. Buchladen mit Antiquariat. Heute ein Immobilienbüro. Kahle Auslagenfenster. Trist.
Dort befanden sich an der gesamten rechten Wand jene 4 Schränke, die Auskunft gaben über Zeiten, die vor der meinen lagen und die mich lehrten, dass jede Zeit ihre besondere Denkweise hat.
Wer weiß, ob nicht in 6 oder 7 Jahren ein alter bärtiger Mann das Maklerbüro betritt, sich der kahlen rechten Wand zuwendet und die „aldn Biechor vermissn duud“.
„Se ham woll nüschd mehr reinjekrichd?“
„Äh. Sie wünschen?“
„Hier habch ma Felix Dahn jekooft. Da warn Sie bestimmt noch nich jeborn.“
„Ach Sie meinen den Buchladen?“
„Na mir rädn doch nich vom Bäggor!“
„Den gibt’s nicht mehr.“
„Rede gehne Scheise Jungchen. Das war hier ümmor Buchladn. Nach meinor Bio-Prüfung damals siemsipptsch habch hier Sievers „Afrika“-Völkerkunde an Land jezochng. 1903. Halbleder. Dreißch Morg Ost.“
„Ich kann Ihn’n Haus verkoofm, aber keene Büchor.“
„Brauch’ch nich. Habbch schone. Wennse ma ne Gesamtausgabe Rückert reinkriechn, denkng Se an mich.“ Ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt der Weißbart den Laden.
Der verwirrte Alte fällt im Rentner-Nest N. an der S. nicht weiter auf. Die wenigen noch Firmen betreibenden Vertreter jüngerer Jahrgänge sind derlei demente Erscheinungen gewohnt und somit im Umgang mit ihnen trainiert.
Gottlob, noch ist es nicht soweit! Ich wechsle also aus der nahen Zukunft zurück in die ebenso nahe Vergangenheit des Ladens:
Lesehungrige, historisch interessierte Freaks konnten hier zahllos Beute machen. Bestseller vergangener Zeiten, (Wie oft hatte ich Frenssens „Jörn Uhl“ in der Hand, um es dann doch nicht zu kaufen?) und seltsame unbekannt gebliebene Hinterlassenschaften der Haushalte all der nun wegsterbenden, dagebliebenen Offizierstöchter und Kriegerwitwen beider Weltkriege in den Gründerzeitpalais am Bürgergarten: „Manitous Welt versinkt“, „Kifanga“, Jack Londons „Vor Adam“, Hesses „Gertrud“. Für mich Lesenuggets am laufenden Band.
Bekauft hab ich mich selten, wird mir bewusst. Mein Auge streift vom Fenster weg über die Regale der beiden Bücherschränke, die einst meine Schätze bargen, inzwischen aber nur noch Dagelassenes bzw. Ausrangiertes von Vater und Bruder enthalten. Mein Blick bleibt an braunem Leinen hängen. Ein unscheinbares Bändchen mit verblichener Goldschrift. Tatsächlich! Er ist noch da! Der Bekauf des Jahres 1983. Das Buch hieß „Wanderer ins Nichts“. Es stammte aus dem Jahre 1920 und kostete mich 7.- M., wie noch im Innendeckel steht.
„In Berlin saß Freund Spartacus auf den Dächern und schoss mit Flinten, Pistolen und Maschinengewehren. Die revolutionsgeübten Berliner Bürger drückten sich eng an die Mauern der Häuser, von denen aus die exzessiven Volksbefreier ihre Politik lebhaft betrieben…“
Herrschende Lehrmeinung war das schon mal nicht. Was so effektvoll, lakonisch beginnt, schrie danach, gekauft zu werden. Ich hatte Harry Domelas „falschen Prinzen“ gelesen und hoffte auf Nachschlag.
Reinfall. Drei Seiten weiter ist Schluss mit Action. Es beginnt ein laaaanger Bericht eines lebensmüden Schnösels, der an seinem Reichtum leidet. Ich stellte das damals nach ca. 20 Seiten beiseite und vergas es bald.
36 Jahre später halte ich es nun wieder in der Hand. Blättere, stoße auf eine Stelle, in der die Münchner Künstlerszene beschrieben-, ihre weltfremde Dekadenz geohrfeigt wird. Inzwischen war ich selbst in Bayern. Wenn auch nicht in München. Was mich 1983 nicht hätte anheben können, interessiert nun doch ein wenig. Zumal der Ich-Erzähler mit dem „Automobil“ dorthin gelangte. Scheinbar von Berlin aus und noch ganz ohne Autobahn. Auf einer anderen Seite entrollt der Ich-Erzähler seinen Plan vom Freitod mit geöffneten Pulsadern in der Badewanne. Prompt fällt mir dazu Ambros ein, dessen „Heit drah i mi ham“ ich damals auch noch nicht kannte. Da scheinen inzwischen also Anknüpfungspunkte für Eigenes nachgewachsen zu sein. Ich packe den „Wanderer“ ein und beschließe, ihn nun doch lesen zu wollen. 36 Jahre später.
Und so kam es, dass aus dem Bekauf von einst meine ganz persönliche Lesesensation 2019 wurde!
Was für ein wunderbares Hebbel-Gedicht!
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Nicht wahr?! 🙂
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🙂🐕💕
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Musik für die nächste Woche auch noch dazu. Fein
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Das erste, wonach ich als Kind in Antiquariaten jagte, waren Bücher von Jules Verne. Später habe ich die schönsten verschenkt: Mangels eigener Kinder wollte ich den Sprösslingen meiner Freunde (auch mit Tom Sawyer, dem Seewolf oder Ritter Runkel) zu einer glücklichen Leserattenkindheit verhelfen. Jetzt kauf ich mir manchmal einen meiner alten Schätze noch einmal, wie neulich die wundervolle Ausgabe von Die Kinder des Kapitän Grant mit den schönen Illustrationen von Werner Klemke.
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Yep. Jule Verne wär auch mal einen Post wert. „20 000 Meilen unterm Meer“ als Film war bei mir der Auslöser. „Die Kinder des Kapitän Grant“ als -sehr schön gestaltetes 70er Jahre Buch- hab ich nicht ganz durchgehalten. „Mathias Sandorf“ fand ich extrem spannend. Wenig später entdeckte ich, dass das ein ziemliches Plagiat von Dumas „Grafen von Monte Christo“ war.
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„Ein Kapitän von 15 Jahren“ wurde dann MEIN Jules Verne Highlight in der Phase meiner Afrikabegeisterung.
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Meine erste Begegnung mit diesem Buch war die sowjetische Verfilmung von 1946, die während meiner Kindheit gelegentlich im Fernsehen lief, wahrscheinlich bei „Professor Flimmrich“. Dieser Film kam schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich gilt er inzwischen als rassistisch. Bei Youtube findet man ihn, leider nicht mit der deutschen Synchro.
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Rätselhaft. Ist mir nie begegnet. Der Film. Danke für den Hinweis.
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Mathias Sandorf ist eines der zwei Bücher, die ich aus der Bibliothek stahl, weil ich ohne nicht leben konnte. Ich habe es neulich mit Begeisterung noch mal gelesen. Dumas- Plagiat? Es gab tausende Rachegeschichten vorher. Die Monte-Carlo Szenen können nicht Dumas sein, und die elektrischen Boote sind Vernes ureigenstes Werk!
Ich überlegte, wieviel von „meinen“ Anthony Trollope in Phileas Fogg steckt. (In Claudius Bombarnac will ein Baron Weißschnitzerdörfer die Erde in 39 Tagen umrunden!)
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Mathias Sandorf: Die Schnellboote sind Verne, der Handlungsfaden ist Monte Christo einschließlich der Art der Verhaftung und der gelungenen Flucht. und der verheirateten Jugendliebe.
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Tja, und der Held kümmert sich um die Tochter der Geliebten – von einem Verbrecher. Ein psychologisches Problem. Die tragische Version der ohnehin erlogenen Idylle der Patchworkfamilie. Aber lohnt sich wegen dieses zeitlosen Problems Dumas zu lesen?
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Bei Dumas ist es ein Sohn. Auch das also eine gerade noch gekriegte Kurve.
Dumas hat sich für mich so sehr gelohnt, dass ich von Verne eher fast nichts las.
Von Dumas sind es auch eher nicht die Musketiere und deren Fortsetzungen, sondern – seine vergessenen Werke: „Erinnerungen eines Arztes“ = frz. Revolution in der Form gehobener Kolportage. Für einen Teeny damals genau richtig. (Joseph Balsamo/ Angé Pitou/ Grafin von Charny)
Was Dumas auch richtig interessant werden lässt: Ein gewisser Adolf Mützelburg schrieb 4 Bände Fortsetzungen zum Grafen von Monte Christo (2x Herr der Welt; 2x die Millionenbraut) Vergessene Knüller!
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Habe den Grafen von Bragelonne vergessen. Der gehört zwischen Angé Pitou und die Gräfin. Hätte vermutlich niemand bemerkt. ;-(
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