Fehler im System IX

Silly-Saga (IV)

…und über uns taute das Eis…

1987 …1988 … 1989 Die Zeit der Finsternis. Des Aushaltens. Des nicht mehr von der Sowjetunion Lernens. Des Staunens über Gorbatschows Abrüstungsdurchbruch. Des „Laden“ Lesens. Des Kämpfens ums private Glück. Bürokratenschematismus kollidierte mit dem Wohl von immer mehr Menschen, das doch ursprünglich hätte Mittelpunkt sein sollen. Nun aber erlebst du, dass du um Familienzusammenführung sogar dann kämpfen musst, wenn alle Beteiligten innerhalb der „DeDeRetä!“ wohnen. Tröstend nur: Du bist nicht der einzige, der „im Strahl kotzt“.

Socialism, hypnotism, patriotism, materialism.
Fools making laws for the breaking of jaws
And the sound of the keys as they clink
But there’s no time to think.

Dylans „Street legal“ ging mir ins Netz und half weiter:

Sozialismus, Kommunismus, Materialismus, Bürokratismus

Sie nutzen Büros, wie andere Klos

Scheißen Phrasen und erklären dir:
Die Herrscher sind wir!

Sie heucheln Verständnis und fordern Bekenntnis

Und lachen dich aus, wenn du schreist:

Kein Platz für den Geist!

In den Institutionen, Kaderabteilungen, Kreisleitungen tat sich nichts. Sie waren am Ende mit ihrem Latein. Bemerkten, dass die Autoritäten schmolzen. Ahnten sie das Ende bereits? Sehnten sie es gar herbei, um aus ihrer eigenen Zwickmühlensituation herauszukommen?

„Ich denke, wie die, deren Begehren ich tagsüber höhnisch ablehne, um konsequenter Bonze zu bleiben. Die Gesetze sinnähmso!“

Die Zeit des Sehnens und des Ahnens. Es brodelte „von unten auf“. Das Phänomen der sprechenden Song- und LP-Titel nahm Überhand:

L'art de passage– eine Fusion-Jazz-Band namens L’Art de Passage veröffentlichte ihr instrumentales Debut – und es hieß: „Sehnsucht nach Veränderung“;

– ein ostdeutscher Leo Kottke namens Ralf Kothe nannte sein Debut „Regendurst“;kothe

– Pankow hatten den Titelsong ihrer nächsten Platte draußen, die da heißen sollte: „Aufruhr in den Augen“;

– Ines Paulke erregte Aufsehen mit „Hauch mir wieder Leben ein“;

– Frank Schöbel erzählte im Interview, dass ihm genehmigt worden war, Texte von Bernd Meinunger(BRD) für seine nächste Amiga-LP verwenden zu dürfen und sein Favorit auf dieser kommenden Platte wird sein, der Song „Wir brauchen keine Lügen mehr“;

 

Ein sterbender Staat komponierte sich seinen vielfältigen Beerdigungssoundtrack.

Aber von Silly vorerst kein Lebenszeichen.

Wie ein perfekt getimter Witz mutet es deshalb an, dass ein anderer altgedienter Berufsmusiker der DDR, Wolfgang Ziegler, zu dieser Zeit seinen größten Erfolg einfahren konnte mit dem Pop-Song: „Verdammt! Und dann stehst du im Regen! Und niemand hält dir den Schirm!“ Papperlapapp. Ist ja nur ein Song über ein angedrohtes Beziehungsende zwischen Mann und Frau … aber wir waren ja interpretieren gewohnt … also auch zwischen Staat und Volk … oder bald schon zwischen Künstler und seinen Fans?

schöneEine Instanz in Sachen Glaubwürdigkeit war zu jener Zeit der Liedermacher Gerhard Schöne. Er veröffentlichte ein Doppelalbum „Du hast es nur noch nicht probiert“ und meinte mit dem Titelsong, man solle doch den Convoy der Staatskarossen anhalten und den „alten Männern“ in diesen Autos die eigenen Tipps zum Besserregieren erzählen. Naiv? Oder war die Zeit dafür inzwischen reif?

„mit dem Gesicht zum Volke, nicht mit den Füßen in’ner Wolke“

Zupackender sang Gerhard Gundermann seine Debut-LP „Männer, Frauen und Maschinen“ ein, u. a. mit dem Song „Scheißspiel“.

„Das is’n Scheißspiel! Du und ich wir zwei, wir machen nich’mehr mit dabei!“gundi 1

Nun hatte die Bonzokratie endlich mal einen singenden Baggerfahrer gefunden, wie das ihre Kulturdoktrin seit den 50ern herbeteten, und dann sang der sowas!

Und eben DER sollte für Silly wichtig werden.

Zuvor aber schepperte es im Bandgefüge heftig. Das Besetzungskarussell drohte zur Zentrifuge zu werden, die die Band zerstört: 1987 tourten mit großem Erfolg ein Allstarprojekt unter dem Namen „Gitarreros“ durch die Republik: Dort lernte Tamara Danz Uwe Haßbecker, den Gitarristen von Stern Meißen, kennen.

Konsequenz: Wechsel des Lebensabschnittsgefährten. Silly hatte nun 2 Gitarren.

  1. Die Liaison Barton/Danz war Geschichte;
  2. Thomas Fritzsching (git) musste dem Neuen der Chefin die Soli überlassen und in den Hintergrund weichen, falls er überhaupt bleiben wolle. Er wollte, denn er war der eigentliche Silly-Gründer.
  3. Mathias Schramm (bg) bekam sein Alkoholproblem nicht in den Griff und wurde durch Jäckie Reznicek ersetzt, der wiederum von Pankow abgeworben wurde…

Hauptgefahr jedoch war, dass Ex-Lover Barton(keyb) nun die Band verlässt und damit das „Unternehmens Silly“ ohne den gewohnten musikalischen Kopf dasteht und sich in stilistische Abenteuer stürzt, von denen keiner sagen konnte, wie sie ausgehen würden.

Er blieb. Die Erfolgsgeschichte konnte weitergehen.

Zweites Halbjahr 1988 sollte eine neue Platte eingespielt werden.

DT64 gab preis, dass diesmal die komplette Produktion im Preußen Tonstudio in Westberlin stattfinden sollte. Westniveau! Was damals verschwiegen wurde:

Die Ariola trug die Kosten. Versprach sich also Gewinn. Die DDR musste lediglich „ihren“ Künstlern den Aufenthalt beim Klassenfeind gewähren und könnte von den eingespielten Devisen profitieren. Warum sollte nicht klappen, was sich bei Puhdys und Karat längst eingespielt hatte?

Eines Abends im Februar 1989 saß ich ganz weit hinten in der Absolventenverbannung an der polnischen Grenze und hörte Jugendradio DT64: Zunächst Uraufführung des Songs „Verlorne Kinder“. Und wie so oft bei neuen Silly-Songs stand ich  vor der Frage: DIESE Platte soll es in ein paar Tagen ganz normal im Plattenladen geben??????

Dann Tamara-Interview:

„Eure neue Platte heißt Februar. Warum? Weil Sie im Februar erscheint?“

„Nee. Weil der Februar der letzte Wintermonat ist!“

Was für eine Antwort in dieser mit Sehnsüchten überladenen Zeit!

(Ja, dieser ewige Winter musste nun bald ein Ende haben. Es musste etwas geschehen. Was genau – wusste niemand. Probleme gab es zuhauf. Eingebildete und tatsächliche. Typische DDR-Alltagsprobleme auch, über die man heute nur den Kopf schütteln würde. Desgleichen die Ideen zur Abhilfe. Wahre Illusions-Olympiaden beim abendlichen Delikat-Wein im Freundeskreis. Mehr und mehr Uneinigkeit über den wünschenswertesten Kurs. Einig war man sich bald nur noch in der Unzufriedenheit gegenüber „den alten Männern“. Die Leipziger Montagsdemos wandelten sich gerade vom „wir wollen raus!“ der Ausreiseantragsteller zum „wir bleiben hier!“ der Reformwilligen… „Wir sind das Volk!“ ließ noch auf sich warten, aber – JA! der politische Frühling dämmerte herauf…)

Dann kam zur Sprache, dass nur noch 2 Texte von Karma sein werden, man sei künstlerisch nicht mehr auf einen Nenner gekommen; (Die also auch nicht!) nach dem Bruch habe die Band herumgehangen mit ner halbfertigen Platte, der die Botschaften fehlten. Dann wollte Rio Reiser einspringen – aber was der abgeliefert habe, hat Tamara nicht gefallen und dann – dann verkündete sie die Sensation des Abends: Bis auf die beiden Karma-Ausnahmen stammen alle Texte von Gundermann!

Noch musste man sich gedulden, man erfuhr an jenem Abend nichts über die Inhalte.

Es gab die Platte dann wirklich. Es stand auch kein Stasi-Scherge an der Ladentür und registrierte die Käufer. Die Zensur hatte sich verflüchtigt oder wollte sich „für später“ Pluspunkte schaffen. Der Zeitpunkt, an dem ALLE schon IMMER Widerstandskämpfer gewesen sein wollten, rückte näher.

Die Platte startet mit einer beispiellosen Ohrfeige in Richtung Staatsdoktrin: „Es geht ein Gespenst in der Mitropa um…“

Einst war es in Europa umgegangen – so wie es Marx als Einstieg ins „Kommunistische Manifest“ 1847 formulierte. Ein Zitat das jeder gelernte DDR-Bürger singen konnte, so oft, wie er damit behelligt wurde.

Nun war dafür nur noch die „Mitropa“ übrig. Das schäbigste, was man sich an DDR-Gastronomie vorstellen konnte, die Bahnhofskneipen. Hier versoffen die Angehörigen der herrschenden Klasse ihre Löhne. Aber selbst hier unten ging nun wieder dieses Gespenst um und beseelte sogar diese Chlochards mit Gorby-Hoffnungen. „Es blühen die scheintoten Bäume“. Wenn selbst die Säufer der Mitropa anfangen die Russen zu loben – geht da noch was?

Dann gleich die nächste Sensation: „Der Wohnblock liegt im Park, wie ein böses Tier/wo sie zu Hause sind – wo sie zu Hause sind …die hellen Fenster locken, mit so gelbem Licht/sie aber wissen/diese Fenster wärmen nicht! … die verlornen Kinder von Berlin …“

– Adieu kitschiges Klischee von der heilen Welt der Hausgemeinschaften in den Plattenbausiedlungen.

– Adieu erfolgreiche sozialistische Erziehung – auch du konntest Jugendverwahrlosung nicht stoppen.

Nächster Song: „Alle gegen einen“. Man bekommt einen Stierkampf beschrieben vor johlender Masse. DDR typisch? Hä?

Aber ja doch! Der Stier ist der einzelne, der mit dem Kopf durch die Wand will. Der sich trotz Natur gegebener Körperkraft aufs Rote Tuch lenken lässt, so dass die Kraft vergeudet wird; der Torero piesackt mit den Speeren (= mit den dogmatischen Fragen und Phrasen in den Kampfdiskussionen der Parteilehrjahre) – und der Meute ist eigentlich scheißegal, wer von beiden drauf geht. Hauptsache Blut fließt. Sie schließt sich dem Sieger an, so oder so.

– Adieu progressiver Kollektivgeist!

– Adieu sozialistische Persönlichkeit!

SOS: …immer noch brennt bis früh um 4e in der Heizerkajüte Licht/immer noch haben wir den Schlüssel zu der Waffenkammer nicht!… Im Februar 1989! Auf Jugendradio DT64 gespielt! Die Mauer stand noch! Selbst Ungarn war noch dicht!

Gar nicht mehr nötig, darauf hinzuweisen, dass mit dem Licht in der Heizerkajüte Bezug genommen wird, auf ein berühmtes Propagandagedicht der 50er Jahre: „Im Kreml brennt noch Licht“(Stalin schläft noch nicht) Eben, eben. Poststalinismus ist auch Stalinismus. Denn sag bloß nichts Negatives über Erich! Die Vorfreude auf die Waffenkammerschlüssel tat’s auch.

Aber damit nicht genug. Die A-Seite hat NOCH EINE Sensation in petto: „Über ihr taute das Eis“: Eine Selbstmordbeschreibung! Ein Tabubruch mit bisherigen Vorschriften über optimistische Unterhaltungskunst. Die Tatsache, dass es sich um ein weibliches Opfer handelt und dies einer der beiden Karma-Texte ist, verführt aber zusätzlich zu folgender Assoziation:

Aus der „wilden Mathilde“ (Mont Klamott) wurde „so’ne kleine Frau“ (Liebeswalzer), die von ihren vernachlässigten (oder abgehauenen) Kindern im Stich gelassen (Bataillon d’amour) nun den Schlussstrich zieht. Aber selbst hier entsteht kein Depri-Feeling, sondern sachte keimt ein Hoffnungsschimmer, denn „über iiiiiihr taute das Eis……“

Der andere Karma-Text „Alles wird besser(aber nichts wird gut)“ blieb ebenfalls zu recht auf der Platte, denn er nimmt seherisch vorweg, was kommen wird: Wer zuviel will, wird gar nichts kriegen, sondern arbeitslos in einem „Neuen Deutschland“ erwachen.

Der Traumteufel: spricht in 3 Strophen 3 drängende ungelöste Probleme an:

– drohender Atomkrieg aus abstrakten, sich verselbständigenden Gründen,

– Raubbau an der Erde aus nichtigen Gründen „für die Leuchtreklamen der Stadt“

– Waldsterben

aber „da weckt mich der Mann aus dem Radio/er küsst mich und kocht mir ein Ei/der Traumteufel flüstert adios mon amour/ und lässt mich FÜR HEUT NOCHMAL frei.“

Die Platte deprimiert nicht. Sie belebt. Die „Februar“ wirkt wie das rettungsverheißende Hornsignal der in Kürze erscheinenden Kavallerie, die die in Bedrängnis geratenen Träumer von der besseren Welt heraushauen wird.

Landekreuz, Männer wollen Frauen, Paradiesvögel sind im Grunde Liebeslieder – allerdings mit sehr schönen unkaputtbaren Metaphern. Ein Silly-Novum.

Landekreuz übrigens kann man als Antwortsong zu einem Track auf Gundermanns Debut-Platte verstehen: Dort gibt es ein „Trauriges Lied vom sonst immer lachenden Flugzeug“ (Wo soll ich hin, wenn mein Tank leer ist…) und Tamara antwortet nun: „wenn dein Tank wieder leer ist, dreh ab und rufe mich!“ Und beide zusammen sind thematisch „Großer Träumer(reloaded)“ sozusagen.

Der Sound der Platte ist den Vorgängern ähnlich und doch anders. Die technokratische Keyboardunterkühltheit ist geblieben. Aber da ist nun, wo der Haßbecker dabei ist, auch viel mehr Gitarre zu hören als früher.

Das Covergemälde zeigt die Band tief gefroren in einer Art Kühlhalle. Im Hintergrund ist die Tür geöffnet. Warmluft dringt ein. Die Rückkehr der Farben steht bevor.

der LETZTE Wintermonat

der LETZTE Wintermonat

Diese Platte war Sensation, ist Sensation, bleibt Sensation.

Schlussstein einer einzigartigen Karriere. Aktuell geblieben in all ihrer Vielfalt.

Die Meute will Helden siegen oder fallen sehn…

Traumteufels Probleme sind weiterhin ungelöst…

Die verlornen Kinder haben sich rasant vermehrt…

Also – „Alles wird besser, aber nichts wird gut.“

Was willste da noch schreiben?

Die Platte erschien. Kommunalwahlen. Fälschung offensichtlich. Ungarn plante ein Grenzfest für den Sommer … wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.

©Bludgeon

11 Gedanken zu “Fehler im System IX

  1. Interessante Milieustudie über die Jugend der DDR! Die Kinder würden so gern „in die warmen Länder“ fliehen, die sozialistische Wertegemeinschaft hat sie verlassen und verraten, und statt dessen hängen sie – mangels Reisemöglichkeiten – mit Kassettenrecorder am Spielplatz ab.

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    • Naja. In Westberlin galt der Text durchaus auch. Oder wenn man an Christiane F. denkt, dann sogar noch härter. Also da kamen und kommen bis heute auch nicht alle in die warmen Länder, sondern nur bis zur nächsten Bushalte.

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  2. Schöne Serie, bin jetzt auch fast Fachmann für Musik aus der Zeit hinterm Zaun…gestern Abend lief eine schöne Serie über die Plattenfirma AMICA (die hatten ja auch Silly unter Vertrag) und dank deiner Berichte konnte ich einige Sachen sogar nachvollziehen…soll noch einer sagen Bloggen bildet nicht 🙂
    Grüsse von Jürgen

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